Macht Eingliederungshilfe süchtig? Vortrag bei der Fachtagung der AG DroPo NRW Köln, 11. November 2011 Lothar Flemming LVR-Dezernat Soziales und Integration Fachbereichsleiter Sozialhilfe II
Personenkreis der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII 53 Leistungsberechtigte und Aufgabe Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.
Behinderungsbegriff des SGB IX 2 Behinderung (1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Definition der Personenkreise in der Eingliederungshilfe-Verordnung 3 Seelisch wesentlich behinderte Menschen Seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des 53 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch zur Folge haben können, sind 1. körperlich nicht begründbare Psychosen 2. seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen, 3. Suchtkrankheiten 4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen
Behinderungsbegriff der ICF Das medizinische Modell betrachtet `Behinderung` als Problem einer Person, welches unmittelbar von einer Krankheit, einem Trauma oder einem anderen Gesundheitsproblem verursacht wird, das der medizinischen Versorgung bedarf Das soziale Modell der Behinderung hingegen betrachtet Behinderung hauptsächlich als ein gesellschaftlich verursachtes Problem Hierbei ist `Behinderung` kein Merkmal einer Person, sondern ein komplexes Geflecht von Bedingungen, von denen viele vom gesellschaftlichen Umfeld geschaffen werden Das Konzept der ICF basiert auf einer Integration dieser beiden gegensätzlichen Modelle. Um die verschiedenen Perspektiven der Funktionsfähigkeit zu integrieren, wird ein `biopsychosozialer` Ansatz verwendet.
Bezeichnung der Menschen Die ICF verwendet den Begriff `Behinderung`, um das mehrdimensionale Phänomen zu bezeichnen, das aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer materiellen und sozialen Umwelt resultiert.. die ICF (ist) keine Klassifikation von Menschen.. Sie ist eine Klassifikation der Gesundheitscharakteristiken von Menschen im Kontext ihrer individuellen Lebenssituation und den Einflüssen der Umwelt. Die Interaktion zwischen Gesundheitscharakteristiken und Kontextfaktoren resultiert in Behinderungen. Deshalb dürfen Personen nicht auf ihre Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität oder Beeinträchtigungen der Partizipation (Teilhabe) reduziert oder nur mittels dieser beschrieben werden. Also z.b.: anstelle von: Person mit einem Problem im Lernen geistig behinderte Person
Bio-psycho-soziales Modell der ICF Gesundheitsproblem (Gesundheitsstörung oder Krankheit, ICD) Körperfunktionen und -strukturen Aktivitäten Partizipation (Teilhabe) Umweltfaktoren Personbezogene Faktoren
Behinderungsbegriff der VN-BRK die Experten konnten sich nicht auf eine Definition einigen, sonst wäre sie bei den Begriffsbestimmungen aufgenommen worden (Art. 2) aus der Präambel und der Formulierung in Artikel 1 Zweck wird aber deutlich, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern
Disability Studies Behinderung wird nicht als körperliches oder medizinisches Problem, sondern als gesellschaftliches Unterscheidungsmerkmal verstanden. Demnach ist Behinderung kein individuelles Defizit, sondern entsteht durch eine Vielzahl von Barrieren, die Einzelne daran hindern, am gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Denkanstoss zur Bezeichnung der Menschen: Menschen vor Teilhabebarrieren
... und das ist das Alltagsverständnis
zurück zum SGB XII: 53 Leistungsberechtigte und Aufgabe Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten.
Ziele und Aufgaben der Eingliederungshilfe eine drohende Behinderung verhüten wenn sie schon eingetreten ist: sie oder ihre Folgen beseitigen oder mildern die Leistungsberechtigten in die Gesellschaft eingliedern, insbesondere: - Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen bzw. erleichtern - Ausübung eines angemessenen Berufs/ einer angemessenen Beschäftigung ermöglichen - so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen Leistungen der Eingliederungshilfe sind also final ausgerichtet umgekehrt: nicht bei jeder Beeinträchtigung der Teilhabefähigkeit sind Leistungen der Eingliederungshilfe angezeigt, sondern es können z.b. Leistungen nach SGB V oder andere Leistungen des SGB XII erforderlich sein!!
Definition Ambulant Betreutes Wohnen Es handelt sich um ein gemeindeintegriertes Hilfeangebot, das der betreuten Person ein selbst bestimmtes Leben in einer Wohnung in der Gemeinde ermöglicht. Das Ambulant Betreute Wohnen ist zu verstehen als ein am Bedarf der betreuten Person orientiertes und verbindlich vereinbartes Betreuungsangebot, das sich auf ein breites Spektrum an Hilfestellungen im Bereich Wohnen bezieht und der sozialen Integration dient. Es handelt sich um eine vorwiegend aufsuchende Betreuung und Begleitung im Rahmen der ambulanten Eingliederungshilfe gemäß 54 SGB XII.
Leistungsempfänger/innen mit Suchterkrankung in stationärer und ambulanter Betreuung Stichtag: 31.12. 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Anzahl der bewilligten Anträge auf Leistungen des stationären Wohnens Anzahl der bewilligten Anträge auf Leistungen des ambulant betreuten Wohnens 1.312 1.339 1.317 1.278 1.286 1.314 1.270 1.152 1.554 1.796 1.964 2.308 2.656 3.047 Leistungsempfänger/innen (zielgruppenübergreifend) in stationärer und ambulanter Betreuung Stichtag: 31.12. 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Anzahl der bewilligten Anträge auf Leistungen des stationären Wohnens Anzahl der bewilligten Anträge auf Leistungen des ambulant betreuten Wohnens 23.216 23.738 23.605 23.303 21.641 21.613 21.577 6.987 9.654 12.210 13.985 16.981 19.727 23.197
Prognose Anzahl LVR-Dezernat Soziales und Integration Leistungen der Eingliederungshilfe zum Wohnen Leistungsberechtigte Personen zum Stichtag 31.12. 50.000 45.000 40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 Jahr Leistungsberechtigte Personen stationär Leistungsberechtigte Personen ambulant Folie 15
Leitfrage Welche Erklärungen gibt es für den Fallzahlanstieg, der zudem überproportional im Bereich der Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu beobachten ist? Bisherige Erklärungsansätze >> Leistungsbegrenzungen bei vorrangigen Trägern führen zum drift in die Sozialhilfe >> ambulante Eingliederungshilfen durch den örtlichen SH-Träger existieren nicht (mehr) ausreichend >> das neue Bewo ermöglicht mehr Menschen als in der Vergangenheit den Zugang zu erforderlichen Leistungen >> die Zahl der Menschen mit einer wesentlichen Behinderung hat stärker zugenommen als erwartet
Aktuelle Steuerungsaktivitäten >> externe Begutachtungsaktion >> (Erst-)Beratung und Bedarfsermittlung unabhängig von den Leistungserbringern >> Weiterentwicklung des Hilfeplanverfahrens >> Ausdifferenzierung der ambulanten Unterstützungsmöglichkeiten >> einrichtungsweise Überprüfung der Hilfebedarfe Insgesamt: der Zugang in das System der Eingliederungshilfe und die Wirkungen der Leistung stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit = Einstieg nur bei Berechtigung und Notwendigkeit - Ausstieg bei Erreichen der vorher definierten Ziele!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!