Reinhard Winter Jungengesundheit - Versorgungslage mangelhaft.

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Reinhard Winter Jungengesundheit - Versorgungslage mangelhaft. [Erschienen in: In: Pädiatrische Praxis, Bd. 80/Heft 4, Juni 2013, S. 681 694] Wenn Jungen oder männliche Jugendliche in der Kinder- und Jugendmedizin bewusst in den Blick genommen werden, dann ist dieser oft getrübt und gefiltert durch Geschlechterbilder. Jungen gelten dann insgesamt als problematisch, alle Jungen seien stets besonders gefährdet. Deshalb ist es zunächst wichtig festzugalten, dass die meisten Jungen und männlichen Jugendlichen in ihrem Gesundheitsstatus unauffällig sind: nach den Daten der KiGGS- Studie werden 90% der Jungen unter 15 Jahren nach Auffassung ihrer Eltern als gesund bezeichnet: Sie sind zum Zeitpunkt der Erhebung weder krank noch unfallverletzt. Diese erfreuliche Feststellung in Bezug auf die gesundheitliche Lage der Jungen ist auch als Gesundheitsbotschaft wichtig; denn sie belegt, dass Männlichsein und Gesundheit durchaus in Einklang zu bringen sind: in der Regel sind Jungen gleichermaßen männlich und gesund. Allerdings gibt es relativ betrachtet auch sehr viele Jungen, für die das nicht zutrifft. Nach den KIGGS-Daten ist jeder zehnte Junge nicht gesund (9,6% der unter 15jährigen Jungen sind krank, weitere 0,5% unfallverletzt; Mädchen: 9,3% krank, 0,3% unfallverletzt) (1). Deshalb ist es notwendig, den Blick auch auf die gesundheitliche Versorgung zu richten. Bei genauerer Betrachtung fällt dann auf, dass die gesundheitliche Lage von Jungen nicht als gesund bezeichnet werden kann. Dies bezieht sich gleichermaßen auf Gesundheitsprobleme von Jungen, auf deren Gesundheitsbildung und auf ihre Gesundheitsversorgung. Ein Problem stellt bereits der Forschungsstand zur Gesundheit von Jungen dar. Er ist in vielen Bereichen eher flach : er bleibt auf Mädchen-Jungen-Vergleiche reduziert, beinhaltet keine Differenzierungen, bietet keine geschlechtsbezogene Erklärungen und fordert keine Konsequenzen ein. In der fachlichen Wahrnehmung wird Jungengesundheit also vernachlässigt. Dies belegt z.b. das Bundesgesundheitsblatt (2), in dem geschlechterbezogene Zugänge zum Thema Adipositas bei Kindern fast durchgängig ignoriert werden und Jungen als besonders Betroffene unerwähnt bleiben. Solche Fehltritte sind nicht belanglos, denn sie verweisen auf mangelhafte Kompetenz in Gesundheitsversorgung und -forschung und zementieren mangelhafte Qualität. Ebenso problematisch ist, dass Männlichsein einseitig pathogenetisch thematisiert wird und generell als gesundheitsgefährdend gilt (z.b. (3)). Statistische Phänomene, wie die gegenüber Mädchen und Frauen höhere Mortalität oder Morbidität, werden dabei monokausal auf Männlichkeit zurückgeführt, wobei traditionelle Männlichkeitsbilder als Referenz herangezogen werden. Dadurch wird verdeckt, dass Bilder von Männlichkeit Gesundheit von Jungen und Männern unterstützen und fördern können, dass sie auch gesund und an präventive Ideen anschlussfähig sind, z.b. was Fitnessideale betrifft. Schließlich werden strukturelle Faktoren unterschlagen: etwa die Notwendigkeit, dass Jungen auf vorhandene Männlichkeitskonstrukte zurückgreifen müssen; die Defizite im gesundheitsbezogenen Bildungsangebot für Jungen; monooptionale biografische Verpflichtung auf Berufsarbeit; oder auch institutionelle Bedingungen, in denen Jungen aufwachsen (z.b. ihre kommerziellen medialen Spielwelten, Fußballverein, Feuerwehr usw.) Werden diese Defizite zu beheben versucht, besteht die Herausforderung darin, Jungenge-

- 2 - sundheit mit einer hohen fachlichen Qualität zu erfassen und das Thema dabei weder zu dramatisieren, noch es zu bagatellisieren. Erst dann wird ein wirklich interessantes Panoptikum der Jungengesundheit erkennbar: Neben der spezifischen Jungenmedizin kommen auch die Gesundheitsversorgung von Jungen, die soziale, mentale und psychische Jungengesundheit oder Risikoverhalten in den Blick; Jungengesundheit kann im epidemiologischen Zusammenhang gesehen werden, Aggression und Gewalt muss genauso wie Gesundheitsbildung in Bezug zur Jungengesundheit gesetzt werden (vgl. ausf. (4)). Spezielle Jungengesundheit Spezielle Jungengesundheit meint die biologische und medizinische Perspektive auf Jungengesundheit, also das tatsächlich Jungenspezifische (das bei Mädchen nicht vorkommt): das sind insbesondere Gesundheit, Erkrankungen oder Fehlbildungen des männlichen Urogenitalbereichs (z.b. Hoden, Penis, Prostata); zudem können spezifische psychische Konstellationen als Aspekte der speziellen Jungengesundheit gelten, etwa die Ablösung des Jungen von der Mutter (5, 6). Wie häufig Jungen von Erkrankungen im Bereich der speziellen Jungengesundheit insgesamt betroffen sind, wurde bisher nicht wissenschaftlich untersucht, belastbare Daten liegen nicht vor. Bei der Phimose sind einerseits medizinische Aspekte bedeutsam; andererseits hat die Phimose aber auch eine Stellvertreterfunktion in tieferliegender symbolischer Bedeutung: Vermittelte Themen sind dabei der Zusammenhang von Schmutz und Penis (Hygiene) oder die Idee, Männlichkeit in den Griff zu bekommen. Nach der DESTATIS-Krankenhausstatistik für 2008 gab es zwar nur rund 2.750 Fälle von Jungen und jungen Männern, die im Alter von bis zu 20 Jahren an einer Phimose operiert wurden. Diese Zahl bezieht sich aber nur auf vollstationäre Operationen; die nicht operative Behandlung (Salben) oder ambulante Operationen zählen hier sicher um ein vielfaches häufiger. Ebenfalls im Jahr 2008 wurden rund 3.700 Fälle von Hypospadie vollstationär operiert; die meisten davon im Alter zwischen ein und fünf Jahren (leichtere Formen werden häufig ambulant operiert). Als Thema der Jungengesundheit ist hier die Frage interessant, wie Eltern und Mediziner mit der Operation umgehen, insbesondere wie das Thema den Jungen bzw. männlichen Jugendlichen gegenüber kommuniziert wird (vgl. 7). Viele Jungen, nämlich 15% - 20% sind von Varikozelen in unterschiedlichen Ausprägungen betroffen; bei ca. 30% der infertilen Männer werden nun Varikozelen als Ursache diagnostiziert, was neben den Kosten operativer Behandlung auch u.u. nicht unerhebliche Folgekosten (Infertilitätsbehandlung) nach sich ziehen kann. Hodenhochstand ist die häufigste kongenitale Anomalie des Urogenitaltrakts; davon sind bis zu 3% der reif geborenen Jungen betroffen (deutlich mehr bei Frühgeborenen, bis zu 30%). Hodentorsion und Hydatidentorsion sind bei 10- bis 24-jährigen Jungen mit rund 5.300 Fällen relativ häufig vorkommende spezielle Jungenerkrankungen. Durch die verminderte Durchblutung droht der Verlust des Hodens, dadurch herrscht ein starker Zeitdruck für Diagnose und Therapie. In jüngerem Lebensalter ist Hodenkrebs der häufigste bösartige solide Tumor bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern. Hodenhochstand zählt als einziger etablierter Risikofaktor für Hodenkrebs (8). Im Jahr 2007 gab es bei den 0- bis 15-jährigen Jungen über 7.000 Fälle mit Hodenhochstand (9). Jungen und Männer, die als Kind einen Hodenhochstand hatten, sind bereits in der Pubertät gefährdet; als Risikogruppe sollten sie bzw. deren Eltern besonders informiert werden. Dazu gibt es bislang keine Anstrengungen.

- 3 - Medizinisch können Hodenerkrankungen zwar hervorragend behandelt werden. Die Versorgung in Bezug auf Gesundheitsbildung und Prävention ist in der Breite jedoch mangelhaft. Viele Fachleute und die allermeisten Jungen sind über spezielle männliche Erkrankungen nicht informiert. Erst seit kurzem gibt es dank der Initiative des Berufsverbandes der Kinderund Jugendärzte e.v. (BVKJ) ein stark nachgefragtes Faltblatt für Jungen, das die Aufmerksamkeit unter anderem auf die Hoden richten soll. Und trotz einer stetigen Zunahme der Erkrankungen an Hodenkrebs gibt es in Deutschland nur sehr zaghafte Ansätze koordinierter Präventionsbemühungen und keine Vorsorgeuntersuchungen (nach Wegfall der Militärmusterung der jungen Männer). Soziale und psychische Gesundheit, Gewalt Rund 80% der drei- bis 17jährigen Jungen werden nach Einschätzung ihrer Eltern als psychisch unauffällig bezeichnet, 9% als psychisch auffällig, weitere 8,8% als grenzwertig (10). Emotionale Probleme nehmen Eltern bei 8,6% ihrer Söhne wahr, weitere rund 7% schätzen die Lage als grenzwertig ein. Auch bei den Hauptdiagnosen vollstationärer Patienten fallen psychische und Verhaltensstörungen bei Jungen auf; rund 8,4% aller Diagnosen werden in diesem Bereich gestellt (bei Mädchen sind dies nur 5% aller Diagnosen) (11). In der Gruppe der fünf- bis 15-jährigen Jungen sind psychische und Verhaltensstörungen die Ursache für die mit Abstand längsten Krankenhausaufenthalte. Im Geschlechtervergleich zählen Depressionen zwar nicht zu den Diagnosen, bei denen Jungen auffällig sind. Das kann aber auch daran liegen, dass Depressionen bei Jungen viel weniger identifiziert werden. Denn auf der einen Seite neigt man bei Jungen leichter zur Somatisierung von Problemen (bei Mädchen zur Psychologisierung); andererseits können sich hinter geschlechtstypischen, externalisierenden Symptomen bei Jungen und jungen Männern Depressionen verbergen, die nicht in Depressionsinventarien enthalten sind und als untypisch gelten: also Symptome wie Aggressivität, Risiko- oder Suchtverhalten; diese werden bei Jungen und Männern deutlich häufiger diagnostiziert als bei Mädchen bzw. Frauen (12). Daraus kann auf fehlende bzw. unzulängliche Versorgung derjenigen Jungen bzw. jungen Männer geschlossen werden, die an einer nicht erkannten Depression leiden (etwa im Bereich Verhaltensauffälligkeit ). Möglicherweise zeigen sich Depressionen bei Jungen eher maskiert : Hinter den Phänomenen von Hyperaktivität, Leistungsfixierung (Workaholics) oder extremen Computer-Spielern können sich Depressionen verbergen; auch mancher gewalttätige Junge wäre womöglich wegen seiner Depressionen beim Psychologen besser aufgehoben als im Anti-Gewalt-Training. Fachleute reagieren aus Unwissenheit oft nur auf die Maskierung, gerne auch dann, wenn diese ins Beuteschema einer problematischen männlichkeitsbezogenen Verhaltensweise passt. Der Kontakt zur Gesundheitsversorgung wird dann nicht hergestellt und die Jungen werden schlecht versorgt oder behandelt. Gerade die alarmierenden Suizidraten bei männlichen Jugendlichen können mit als eine dramatische Folge nicht erkannter psychischer, psychosozialer und psychosomatischer Störungen und Depressionen gesehen werden. Durch Gewalterfahrungen entstehen Schäden für die körperliche, vor allem aber für die psychische und soziale Gesundheit: Verletzungen, Beziehungsstörungen, psychosomatische Erkrankungen, Depression. Sehr viele Jungen, nämlich ein knappes Drittel, ist innerhalb ei-

- 4 - nes Jahres selbst von Gewalterfahrungen betroffen (KIGGS-Daten). Jungen sind häufig von schwerer körperlicher Gewalt betroffen (und häufiger als Mädchen, auch häufiger als erwachsene Männer). Auch sexuelle Gewalt betrifft viele Jungen: Niedrig geschätzt haben 5% der Jungen bis zum Alter von 16 Jahren mindestens einmal einen unerwünschten sexuellen Körperkontakt. Fast ein Fünftel der Jungen hatte nach eigenen Angaben Gewalt ausschließlich als Täter erlebt; nur jeder zwanzigste Junge gaben an, ausschließlich Gewaltopfer gewesen zu sein. Als Subform gewalttätigen Handelns muss das Bullying (Tyrannisieren, Mobbing) beachtet werden: 17% der Jungen sind nach den HBSC-Daten der Gruppe wiederholter Bullying-Täter zuzurechnen. Häufig treten bei diesen Tätern regelmäßiger Alkoholund Tabakkonsum sowie wiederholte Rauscherfahrungen auf. Wo Jungen Bullying gleichzeitig als Opfer und als Täter erfahren, sind psychosomatische Beschwerden und Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit häufiger (13). Zahlen: Bundeskriminalamt 2005; Jugendliche: Opfer von Gewalt pro 100.000 Trotz dieser deutlichen Hinweise auf erhebliche jungenbezogene Probleme gibt es in Deutschland aber keine nennenswerten Ansätze zur Förderung der sozialen und psychischen Gesundheit von Jungen. Auch Gewaltprävention ist eher eine zufällige und unkoordinierte Angelegenheit. Jungen als Opfer von Gewalt werden dabei kaum beachtet. ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität ist eine der am häufigsten diagnostizierten Verhaltensstörungen im Kindesalter. Und es ist überwiegend eine Jungenstörung: die Mehrzahl der Grundschulkinder mit der psychiatrischen Diagnose ADHS, die mit Methylphenidat behandelt werden, sind Jungen (14). Nach Angaben der Techniker Krankenkasse in Deutschland bei ihren Versicherten der Altersgruppe 6 bis 18 Jahre zwischen 2006 und 2010 bei der Verschreibungen von Methylphenidat ein Anstieg um 30% zu verzeichnen. Es scheint jedoch so, als sei nicht ADHS das Problem, sondern vor allem die Diagnose. Womöglich hat nicht (nur) die Zahl der tatsächlich an ADHS leidenden Jungen zugenommen, sondern nur die Zahl der gestellten ADHS-Diagnosen. Wird bei Jungen ADHS nur deshalb und inflationär diagnostiziert, weil sie in bestimmten sozialen Räumen (v.a. in der Schule) als schwierig wahrgenommen werden (15) und weil sich Eltern und Institutionen selbst nicht zu helfen wissen? Offenbar wird die Diagnose ADHS Jungen auch von Fachkräften unberechtigt untergeschoben. Eine Studie der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Basel belegt, dass ADHS häufig falsch diagnostiziert wird: vor allem bei Jungen und besonders von

- 5 - männlichen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten bzw. -psychiatern (16). Bei den Diagnosen auf ADHS zeigen Jungen durchschnittlich eine höhere Ausprägung bei den Varianten mit motorischen Defiziten sowie im dissozialen Verhalten: Bei der Behandlung werden nach dem ADHS-Report der Gmünder Ersatzkasse (17) Medikamente zu früh oder zum falschen Zeitpunkt eingesetzt: empfohlen wird eine multimodale Therapie (Kombination etwa von Ergotherapie, Psychotherapie und Arzneimitteltherapie), in fast 80% aller Behandlungen werden jedoch ausschließlich Medikamente verordnet. Daneben werden nur selten Kombinationen mit Ergotherapie und Logopädie angewendet. Hinweise auf begleitende Psychotherapien wurden nicht gefunden. Eine Kombination mit Ergotherapie erhöht zwar die Behandlungskosten, die Menge der Arzneimitteldosierungen wird im Schnitt jedoch deutlich verringert (bei den 13- bis 15-jährigen Jungen etwa von 190 Tagesdosierungen auf 86 Tagesdosierungen). Auslöser oder Ursachen für ADHS und für ADHS-nahe Symptome bei Jungen sind nicht hinreichend geklärt, eine Wechselwirkung von genetischen Veranlagungen und Umweltfaktoren wird angenommen, wobei sich ein abwesender Vater (18) oder Ursachen, die in mangelhafter Begleitung vor allem von Jungen und ausreichendem erzieherischen Halt durch Eltern liegen negativ auswirken können. Auffällig ist, dass die Zunahme von ADHS-Diagnosen im gleichen Zeitraum stattfand, in dem die Verbreitung mobiler elektronischer Geräte und Konsolenspiele erheblich zugenommen hat. Möglicherweise korreliert die ständige Präsenz und Dauernutzung von Computer- und Konsolenspielen, Mobil- und Smarttelefonen und elektronischen Mobilspielzeugen (z.b. Game-Boy ) mit ADHS-Symptomen bei Jungen. Der gravierende Geschlechterunterschied bei ADHS ist zwar allgemein bekannt. Dennoch sind weder in der Diagnostik noch in der Therapie geschlechtsbezogen qualifizierte Aspekte erkennbar. Auf Jungen ausgerichtete ADHS-Prävention ist ebenfalls nicht vorhanden. Dem entsprechend muss auch hier die Versorgungslage für Jungen als mangelhaft bezeichnet werden. Konsum elektronischer Medien Elektronische Medien, vor allem Fernsehen, Smartphones, Computer- und Konsolenspiele belegen in der Freizeitgestaltung von Jungen einen hohen Stellenwert. Von den elf- bis 13- jährigen Jungen verbringt nach den KIGGS-Daten fast ein Drittel täglich ein bis zwei Stunden am Computer bzw. im Internet; rund 27% spielen ein bis zwei Stunden Konsolenspiele; vor dem Fernseher sitzen über die Hälfte dieser Jungen täglich zwischen einer und zwei Stunden. Bei den älteren Jungen zwischen 14 und 17 nimmt vor allem die Zahl der Nutzer zu, die drei und mehr Stunden mit elektronischen Medien verbringen (zusätzlich sind Additionseffekte anzunehmen, also Jungen, die Fernsehen und an der Konsole spielen und den Computer nutzen). Für das Nutzerverhalten der Jungen ist ihr sozialer Status mit entscheidend: Jungen mit einem niedrigen Sozialstatus sehen mehr fern und spielen mehr Konsolenspiele als Jungen aus der Mittel- oder Oberschicht. Migrationszusammenhänge korrelieren bei Jungen mit einer eher exzessiven Nutzung elektronischer Medien: Jungen aus Migrationsfamilien verbringen deutlich mehr Zeit mit solchen Medien als Nichtmigranten. Für Jungen gesund ist an Konsolenspielen und Fernsehen die Möglichkeit, Spannung zu erleben, sich konzentriert Aufgaben zuzuwenden und möglicherweise auch Aggressionen auf sozial verträgliche Art

- 6 - auszuagieren und abzubauen; auch die Suche nach Formen des Abenteuer-Erlebens und -Bestehens im sicheren Bereich der Medien kann als gesund bezeichnet werden. Die Spiele bieten Jungen virtuelle männliche Rollenfacetten an, die sie im alltäglichen Leben (noch) nicht ausfüllen können (z.b. sich einsetzen für eine gute Sache, sich verausgaben, eine Aufgabe haben). Nicht der Medienkonsum an sich ist schädlich, sondern eine hohe Dosis. Zu viel Medienkonsum kann sich mittelbar auf die physische, psychische und soziale Gesundheit von Jungen negativ auswirken: Etwa als Faktor, der die Zeit für Bewegung oder für soziale Kontakte mit Gleichaltrigen stark beschränkt; aber auch in Bezug auf das Beiprogramm die Ernährung während des Fernseh- und Computerspielkonsums (Süßgetränke, Süßigkeiten, fettiges Knabbergebäck). Auch das Suchtpotenzial solcher Medien ist für Jungen beträchtlich; zu Spielsuchtpotenzialen bei Computerspielen führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) eine repräsentative Erhebung durch (19). Rund 15.000 Schüler der neunten Klassenstufe wurden zu ihrer Spielsuchtgefährdung befragt: Jungen wurden zu 4,7% als gefährdet und zu 3,0% als abhängig eingestuft. Diese Raten sind fast 10-mal so hoch wie bei Mädchen (0,5% gefährdet, 0,3% abhängig). Ein erhöhtes Suchtpotenzial lässt sich aus der spezifischen Attraktivität solcher Spiele für Jungen ableiten und aus dem hohen zeitlichen Aufwand, der investiert werden muss, um solche Spiele gut spielen zu können. Gesundheitsgefährdend kann die subtil vermittelte Basis-Botschaft sein, dass das Leben ein Kampf ist und aggressiv-kämpferisch bewältigt werden muss. Als gesundheitlich kritisch für die soziale und psychische Gesundheit kann darüber hinaus gewertet werden, dass potenziell Empathie und Mitgefühl systematisch abtrainiert werden. Übergewicht und Adipositas Übergewicht stellt bei Jungen ein großes Problem dar. Nach der HBSC-Studie (Befragung von 2002) sind mehr Jungen (7-10%) übergewichtig oder adipös als Mädchen (5-6%). Auch die SOEP-Daten bestätigen, dass bei den jungen Männern Übergewicht und Adipositas besorgniserregende Themen sind: Jeder zwanzigste männliche Jugendliche leidet an Adipositas (und in den Altersgruppen von 20 bis 25 Jahren kommt es zudem zu einem erheblichen Anstieg). Wichtig wäre es sicherlich, die entsprechende Diagnosestatistik überprüfen: Übergewicht kann als Ernährungsstörung oder als psychische Störung, möglicherweise als Folge von Depression oder einer Angststörung gesehen werden. Die Versorgungslage bei der Prävention und Therapie von Übergewicht und Adipositas ist jedoch geschlechterbezogen ungleichgewichtig: Jungen werden von diesen Angeboten viel weniger erreicht. So scheinen schulische Präventionsmaßnahmen zwar insgesamt geeignet, die Inzidenz des Übergewichtes zu senken (im Mittel 15%). Dieser Effekt ist aber geschlechtsspezifisch: Mädchen profitieren, während bei Jungen nahezu kein Effekt festzustellen ist (20). Auch die Therapieangebote für übergewichtige und adipöse Kinder (ohne primärpräventive Angebote) erreichen Jungen viel weniger. An den Maßnahmen nehmen fast doppelt so viele Mädchen wie Jungen teil (37% Jungen, 63% Mädchen) (21). Der längerfristige Erfolg von ambulanten oder stationären Adipositastherapien ist vor allem bei Jungen fragwürdig, was die Beobachtungsstudie zur Evaluation der Adipositastherapie bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland (EvAKuJ-Studie) dokumentiert. Sie wurde im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zwischen 2005 und 2010 durchgeführt und

- 7 - belegt, dass der längerfristige Erfolg statistisch signifikant nur durch das Geschlecht determiniert wird: männliche Patienten werden seltener erfolgreich behandelt. Diese schlechte Versorgungssituation ist nicht nur im Hinblick auf den späteren Gesundheitsstatus von Belang. Denn Übergewicht und Adipositas wirken sich auch auf die soziale und psychische Gesundheit aus. In einer Studie zur sozialen Bedeutung und Stigmatisierung von Adipositas im Kindes- und Jugendalter erhielten übergewichtige und adipöse Jungen mit Abstand die schlechtesten Sympathiewerte; außerdem wird ihnen signifikant häufiger als adipösen Mädchen geringe Intelligenz und Faulheit zugeschrieben (22). Unfälle, Verletzungen und Suizid Jungen und junge Männer sterben meistens nämlich zu zwei Dritteln der Fälle an äußere Ursachen. Dabei sind Verkehrsunfälle (ca. 40% aller Todesfälle) und Suizid (ca. 17% aller Todesfälle) die häufigsten Todesursachen. Jeweils dreimal mehr Jungen als Mädchen sterben durch Transportmittelunfälle und durch Suizid. Beide Ursachen können auch mit Männlichkeitserwartungen in Verbindung gebracht werden. Umgekehrt muss festgestellt werden, dass die überwiegende Mehrzahl aller männlichen Jugendlichen keinen Unfall hat und sich nicht suizidiert. Offenbar kann die Auseinandersetzung mit Männlichkeitsbildern oder Leistungserwartungen in der Regel auf pfleglichere Weise bewältigt werden. 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Hüfte, Oberschenkel: 78% Ellenbogen, Unterarm: 64% Kopf: 60% Hohe Kosten durch Unfälle und Verletzungen: %-Angaben: Von allen durch Verletzungen entstandenen Kosten entfallen auf Jungen... Quelle: GBE Bund, Daten von 2006 Suizid ist meist eine Folge von Depressionen; es wird geschätzt, dass 40% bis 70% aller Suizide auf Depressionen zurückgehen. Demnach verweisen die hohen Suizidraten auf

- 8 - Probleme der psychischen Gesundheit von Jungen und männlichen Jugendlichen. Vermutlich liegt die tatsächliche Zahl der Suizide erheblich höher als in der Statistik ausgewiesen, in der Todesursachenstatistik können sich auch hinter Unfällen, Tod durch Drogen und unklaren Todesursachen weitere Suizide verbergen. Bei Jungen und jungen Männern fällt der Geschlechtervergleich dramatisch aus: Während das Verhältnis der durchschnittlichen Suizidrate von Frauen und Männern 1 : 2,9 beträgt (23), ist sie in der Altersgruppe der 15- bis unter 20-jährigen noch höher und beträgt 1 : 3,3. Die Zahl der Jungen und Männer, die durch absichtliche Selbsttötung sterben, steigt mit zunehmendem Alter. Im Alter zwischen 15 und unter 20 Jahren töten sich jährlich rund sieben von 100.000 Jungen selbst. Bei den 20- bis unter 25-jährigen sind es bereits rund zwölf von 100.000 jungen Männern. Suizide junger Menschen in Baden-Württemberg 18,0 16,0 14,0 12,0 10,0 8,0 Mädchen Jungen 6,0 4,0 2,0 Suizidrate (pro 100.000) 0 bis 5 6 bis 10 11 bis 15 16 bis 20 21 bis 25 26 bis 30 Altersgruppen Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland; Zahlen von 2001 Eine geschlechterreflektierende oder -bezogene Ausrichtung in der Suizid-Beratung oder Prävention ist derzeit nicht erkennbar (z.b. weder beim Nationalen Suizid-Präventionsprogramm, noch bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention). Beratungsangebote, die sich speziell oder spezifisch an Jungen und Männer richten, gibt es nicht. Im Gegenteil erreichen die vorhandenen (geschlechtsunspezifischen) Beratungsangebote deutlich mehr Frauen: Männer nehmen sich fast dreimal häufiger das Leben als Frauen, in der Beratungssituation ist das Verhältnis genau umgekehrt. (belastbare repräsentative Daten liegen nicht vor, stellvertretend (24)) Die Zahl der bei Straßenverkehrsunfällen verletzten oder getöteten Jungen nimmt im Alter zwischen 15 und 20 Jahren zu, zwischen 20 und 25 Jahren wieder ab. Im Jahr 2008 wurden nach der DESTATIS-Statistik der Straßenverkehrsunfälle von den 15- bis unter 20-jährigen Jungen rund 31.000 im Straßenverkehr verletzt, davon rund 5.900 schwer; 362 wurden getötet. Von Straßenverkehrsunfällen sind Jungen stärker betroffen als Mädchen. Im Geschlech-

- 9 - tervergleich liegen diese Zahlen immer deutlich über denen der Mädchen im Durchschnitt über neun Jahre zwischen 2000 und 2007 im Verhältnis 1 : 1,5. Unfälle und Verletzungen betreffen Jungen im Alter von ein bis 17 Jahren signifikant häufiger als Mädchen, 17,9% der Jungen haben innerhalb eines Jahres eine Verletzung erlitten (gegenüber 14,0% der Mädchen) (23). Dieser geschlechtstypische Unterschied zeigt sich bei den Ein- bis Siebzehnjährigen ebenso hinsichtlich der Verletzungen durch Unfälle (17,0% vs. 13,4%) wie bei den Verletzungen durch Gewalt (0,9% vs. 0,6%). Fast ein Drittel (31%) aller Hauptdiagnosen bei Jungen im Alter von 15 bis unter 20 Jahren, die als vollstationäre Patienten im Krankenhaus sind, fallen auf Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursache (ICD-10 S00 T98). Bei den Mädchen sind dies in derselben Altersgruppe nur 12,5% aller Diagnosen. Im Alter zwischen zehn und 15 Jahren nehmen Unfälle und Verletzungen bei Jungen um das 1,5-fache zu. Operationen an den Bewegungsorganen verdoppeln sich sogar; zehn- bis 15- jährige Jungen wurden 2008 rund 32.000-mal operiert, die 15- bis 20-jährigen ca. 68.000-mal (nach DRG-Statistik), mit 1,8-mal viel häufiger als gleichaltrige Mädchen. Unfälle und Verletzungen sind auch ein Kostenfaktor für das Gesundheitssystem. Die Krankheitskosten, die durch Verletzungen entstehen sind erheblich: Sind dies nach der DESTATIS-Krankheitskostenrechnung (Daten von 2006) bei den unter 15-jährigen noch 5,7% aller entstandenen Krankheitskosten, so wachsen diese bei den 15- bis 29-jährigen Jungen und jungen Männern auf 12,5% aller Krankheitskosten in dieser Altersgruppe. Auch für den Bereich der äußeren Todesursachen Unfälle und Suizid gibt es weder Präventionsbemühungen noch spezielle Beratungsangebote für Jungen. Anders als etwa in der Schweiz (25) gibt es in Deutschland auch keine geschlechtsbezogen qualifizierte Prävention von Unfällen und Verkehrsunfällen. Die gezielte Vermittlung von Risikokompetenzen an Jungen könnte Verletzungen und Unfälle reduzieren; dies ist in Deutschland ebenso wenig vorhanden wie Beratung oder Prävention in offenen Situationen, die sich unmittelbar nach Unfällen bzw. schwerwiegenden Verletzungen ergeben. Der Bedarf, die Versorgung zu verbessern und geschlechtsbezogene Interventionsformen zu entwickeln, ist allerdings unübersehbar. Differenzierung Die meisten Daten differenzieren nur pauschal nach Geschlecht und suggerieren damit, alle Jungen seien gleich. Um die Versorgungslage von Jungen zu verbessern ist es unentbehrlich, Jungen zu unterscheiden: Zunächst nach dem Alter der Jungen: bei jüngeren Jungen sind die Sorgenthemen ADHS, Übergewicht und Depression, bei älteren Jungen kommen Unfälle, Suizid, Gewaltbedrohung hinzu; mit dem Alter verändert sich z.b. auch das Gesundheitsverhalten, männliche Jugendliche treiben mit zunehmendem Alter weniger Sport. Bildungsferne, Armut und soziale Randständigkeit sind weitere Differenzierungskategorien, so konsumieren z.b. arme Jungen deutlich mehr elektronische Medien als der Durchschnitt aller Jungen. Auch Migration ist eine wichtige Differenzierungskategorie: Bei der gesundheitlichen Versorgung sind etwa in der Inanspruchnahme von psychologischer Beratung Jungen mit Migrationsgeschichte besonders benachteiligt; allerdings sind migrantische Jungen deutliche weniger von Suizid betroffen.

- 10 - Weil regionale Bedingungen die Lebenslage von Jungen mit beeinflussen können, sind auch hier Differenzierungen angebracht: so unterscheidet sich etwa das Rauschtrinken von Jungen nach Bundesländern erheblich, auch Suizidraten sind regional verschieden hoch. Auch die sexuelle Orientierung kann ein wichtiger Faktor für Differenzierung darstellen; homosexuelle Jungen leiden mehr an Depression und suizieren sich häufiger als der Durchschnitt aller Jungen. Schließlich fallen in einigen Verhaltensbereichen expansive Jungen als hochproblematisch auf, demnach stelle sie eine wichtige Zielgruppe einer differenzierten Gesundheitsversorgung dar. Gesundheitsverhalten 11- bis 15jähriger Jungen, differenziert nach Durchschnitt vs. arme Jungen. Quelle: HBSC-Studie 2002; NRW, Hessen, Sachsen, Berlin Fazit: Gesundheitsversorgung für Jungen mangelhaft Eingeschliffene Denkweisen verhindern es in vielen Bereichen der Gesundheitsversorgung, sich auf Jungen und ihre Gesundheitsbedürfnisse einzustellen. So verlässt sich die Gesundheitsversorgung z.b. üblicherweise auf Komm-Strukturen: Es wird erwartet, dass Jungen mit Gesundheitsfragen oder -problemen dort hinkommen müssen, wo die Gesundheit ist bzw. wo ihnen Gesundheit angeboten wird. Dieser prinzipielle Zugang ist in der Gesundheitsversorgung tief verwurzelt. Viele Verantwortliche können es sich nicht vorstellen, dass es ihre Aufgabe ist, Gesundheit zu den Jungen zu bringen. Dementsprechend beharren sie auf ihrer Ansicht, Jungen hätten ggf. mit ihren Eltern zu ihnen zu kommen, und sie beklagen den Zustand, dass dies nicht oder nicht ausreichend so ist. Damit in der anderen Richtung Zugänge zur Gesundheitsversorgung geschaffen werden, brauchen Jungen bessere Unterstützung. Dies gilt insbesondere für Jungen, die aufgrund ihrer sozialen Lage von der Gesundheitsbildung vernachlässigt werden, ausgeschlossen

- 11 - oder abgeschnitten sind: Wesentliche Faktoren hierbei sind Armut, Marginalisierung, Bildungs- und Zugangsbenachteiligung, Migration. Für Jungen aus bildungsfernen Milieus ist der Weg in die Gesundheitsversorgung viel weiter als der für bildungsbürgerliche Jungen (mit sorgenden Müttern, Vätern und Familiensystemen). Ein differenzierender Blick und eine Ausrichtung auf Jungen, die von der Gesundheitsversorgung weniger erreicht werden, ist für die Verbesserung der Versorgung zwingend. Eine wesentliche Voraussetzung, um in der Gesundheitsversorgung anzukommen, ist die sprachliche Kompetenz. Jungen, die weniger gelernt haben oder denen es verwehrt wurde, sich selbst zu spüren und diese Wahrnehmungen zu verbalisieren, sind weniger in der Lage, die Gesundheitsversorgung rechtzeitig in Anspruch zu nehmen. Diese Jungen brauchen strukturell abgesicherte Unterstützung dabei, sich selbst zu verstehen und eine Sprache für ihr Eigenes zu erlernen. Die Botschaft dabei lautet, dass es zum Mannsein dazugehört, eigene Befindlichkeiten benennen zu können: Gefühle, Körperempfindungen, emotionale Zustände, soziale Situationen. Umgekehrt sollte sich auch die Gesundheitsversorgung um Dolmetscherkompetenz bemühen, um chiffrierte und maskierte Äußerungen von Jungen besser verstehen zu können. Um die Gesundheitsfragen und -themen von Jungen registrieren und mit ihnen professionell umgehen zu können, benötigen alle Erwachsenen, die mit Jungengesundheit zu tun haben oder arbeiten, auch spezifisches Wissen, Informationen und Wahrnehmungsfähigkeiten in diesem Bereich. Dass diese jungen-gesundheitsbezogenen Kompetenzen bei vielen Fachkräften nicht vorhanden sind, ist jedoch nur zum Teil ihnen bzw. ihren Institutionen anzukreiden. Ebenso verantwortlich dafür sind sowohl Defizite in der (kaum vorhandenen) Jungengesundheitsforschung, wie auch in der Ausbildung, die genderbezogen in der Regel wenig qualifiziert ist. Auf der praktischen Ebene finden wir kaum Ansätze zu einer eigenständigen Jungengesundheitsförderung und -bildung und nur sehr wenige Praxisprojekte setzen Jungengesundheit überhaupt als einen thematischen Schwerpunkt (24). Gesundheitspolitische Impulse in Bezug auf Jungengesundheit gibt es bislang keine oder nur sehr vereinzelt; Gesundheitspolitik beschränkt sich aufs Jammern über das Vorsorgeverhalten erwachsener Männer. Eine umfassende, fachlich qualifizierte und vertiefte Beschäftigung mit Jungengesundheit für Fachleute im Bereich von Gesundheitsförderung, Bildung und Medizin ist unter solchen Voraussetzungen schwierig. In diesem Sinn wäre ein Jungengesundheitsdiskurs auch durch gezielte Förderung von Forschung und Evaluation anzustreben. Wegweisend wird aber sein, das Bewusstsein für Themen der Jungengesundheit bei Fachleuten und Verantwortlichen in Bildung, sozialer Arbeit und Jugendarbeit zu schärfen. Vor dem Hintergrund der problematischen Versorgungslage für Jungen wird es zudem immer mehr Aufgabe der Kinder- und Jugendmedizin sein, Eltern im Hinblick auf eine gute Gesundheitsbildung und -erziehung von Jungen zu unterstützen: Was der Kinder- und Jugendarzt, die Kinder- und Jugendärztin sagen, hat Gewicht. Sie können Eltern Orientierung geben und sie bisweilen auch führen, damit sie Jungen besser Halt geben können. Zu bedenken ist jedenfalls: Eine schlechte gesundheitliche Versorgung von Jungen ist sowohl im hier und jetzt problematisch, wie in der Perspektive auf die Zukunft: Denn die Jungengesundheit von heute ist immer auch die Männergesundheit von morgen.

- 12 - Literatur (1) BMG: Daten des Gesundheitswesens 2009 (2) Bundesgesundheitsblatt 2011, (Schwerpunkt: Therapie von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen), Band 54 (Heft 5, Mai 2011), Heidelberg (Springer-Verlag) (3) Sieverding, M. (2004): Achtung! Die männliche Rolle gefährdet Ihre Gesundheit! In: psychomed 16/1, 25 30 (4) Stier, B.; Winter, R. (Hrsg.): Jungen und Gesundheit. Ein interdisziplinäres Handbuch für Medizin, Psychologie und Pädagogik. Stuttgart (Kohlhammer) 2013 (5) Dammasch, F. (2009): Die Angst des Jungen vor der Weiblichkeit. In: Dammasch, F./Metzger, H.-G./Teising, M.: Männliche Identität. Frankfurt a.m. (Brandes & Apsel) (6) Winter, R. (2011): Jungen. Eine Gebrauchsanweisung. Jungen verstehen und unterstützen. Weinheim und Basel (Beltz) (7) Winter, Reinhard; Neubauer, Gunter: Kompetent, authentisch und normal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen. Hg. BZgA Fachheftreihe Bd. 14. Köln 2 2004, S. 222 ff. (8) Hiort O, Wünsch L, Holterhus P-M (2005) Differenzialdiagnostische Überlegungen beim Hodenhochstand. Monatsschrift Kinderheilkd 153:430-435 (9) DESTATIS-Krankenhausstatistik für 2007 (10) KIGGS: Kinder- und Jugendgesundheitssurvey 2003 2006. Robert Koch Institut, Statistisches Bundesamt (11) DRG-Statistik: Krankenhausstatistik nach Diagnosen, erstellt vom GBE-Bund (DRG steht für Diagnosis Related Groups ) (12) Möller-Leimkühler, A.M.; Paulus, N.-C.; Heller, J.: Male Depression bei jungen Männern. In: Blickpunkt der Mann 7 (4) 2009 15 19 (13) Richter, M. u.a.: Bullying, psychosoziale Gesundheit und Risikoverhalten im Jugendalter. In: Gesundheitswesen 8 (69) 2007, 475 482 (14) Dammasch, Frank: Die Krise der Jungen. Statistische, sozialpsychologische und psychoanalytische Aspekte. In: Dammasch, Frank (Hrsg.): Jungen in der Krise. Frankfurt a.m. (Brandes und Apsel) 2008, S. 9 (15) Hopf, H.: Mich beunruhigen die unruhigen Jungen. In: Hurrelmann, K.; Schultz, T. (Hrsg.): Jungen als Bildungsverlierer? Weinheim und Basel (Beltz Juventa) 2012, S. 201 213. (16) Bruchmüller, K.; Schneider, S.: Fehldiagnose Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom? Empirische Befunde zur Frage der Überdiagnostizierung. In: Psychotherapeut 2012 57:77 89 (17) Gebhardt, B.; Finne, E.; Kolip, P.: ADHS bei Kindern und Jugendlichen. Befragungsergebnisse und Auswertungen von Daten der Gmünder Ersatzkasse (GEK). Mskr. Bremen/Schwäbisch Gmünd 2008 (18) Dammasch, F.: ADHS Ruhelose Jungen und ihre frühen Beziehungsmuster. In: Stier, B.; Winter, R.: Jungen und Gesundheit. Stuttgart (Kohlhammer) 2013, S. 128 134 (19) Rehbein, F.; Kleimann, M.; Mößle, T.: Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter. Empirische Befunde zu Ursachen, Diagnostik und Komorbiditäten unter besonderer Berücksichtigung spielimmanenter Abhängigkeitsmerkmale. Forschungsbericht Nr. 108, Hg. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover 2009 (20) Danielzik, S.; Müller, M.J.: Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen. In: KKH (Hg.): Weißbuch Prävention! Jahresreport der KKH 2004, 112 116 (21) BZgA (Hg.): Die Versorgung übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher in Deutschland. Quantität und Qualität von Angeboten im Zeitraum 2004-2005. Köln 2007 (22) Thiel, A.; Allzadeh, M.; Giel, K.; Zipfel, S.: Stereotypisierung von adipösen Kindern und Ju-

- 13 - gendlichen durch ihre Altersgenossen. In: Psychother Psych Med (58) 2008 1 8 (23) Fiedler, G.: Suizide, Suizidversuche und Suizidalität in Deutschland. Daten und Fakten. 2005 (24) Jahresbericht Arbeitskreis Leben (AKL) Tübingen, 2008, S. 10; exakte Daten liegen nicht vor, deshalb exemplarisch: Beratungskontakte AKL Tübingen 2008: Männer 31,4 %, Frauen 68,6% (25) Decurtins, L.: Gaspedal und Männermythen. Bildungs- und Präventionsarbeit mit Jungen und männlichen Jugendlichen zum Risikoverhalten im Straßenverkehr. In: Stier, B.; Winter, R.: Jungen und Gesundheit. Stuttgart (Kohlhammer) 2013, S. 347-352 (26) RKI: Lebensphasenspezifische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland; Berlin 2008, S. 48 (27) Neubauer, G./Winter, R. (2010): Jungengesundheit in Deutschland: Themen, Praxis, Probleme. In: Bardehle, D./Stiehler, M. (Hrsg.): Erster Deutscher Männergesundheitsbericht. München (Zuckschwerdt) 2010, S. 30-70.