Erwerbslosigkeit, Krankheit und das neue Präventionsgesetz Prof. Dr. Tanja Klenk, Universität Kassel Vortrag bei der Vernetzungstagung Transparenz und Solidarität für ver.di- Kolleginnen und -Kollegen in der Selbstverwaltung der GKV Am 14. Juli 2016 im BSG Kassel
Zum Einstieg. Arbeit ist schwer; oft genug ein freudloses und mühseliges Stochern. Aber nicht arbeiten das ist die Hölle. Thomas Mann (1875-1955)
Historischer Exkurs: Die Arbeitslosen von Marienthal Marienthal: 1830 Gründung Flachspinnerei, entwickelte sich schnell einer größten Fabriken in Österreich 1929: Flachspinnerei wird stillgelegt Ein Dorf wird arbeitslos (=> mehr als drei Viertel der 478 Familien von Arbeitslosigkeit betroffen) SozialwissenschaftlerInnen (Zeisel, Jahoda, Lazarsfeld) führte umfangreiche Erhebungen zu den Langzeitwirkungen von Arbeitslosigkeit durch Ergebnisse: Ein Dorf sinkt in Resignation und Apathie => müde Gesellschaft Vier Haltungstypen: Ungebrochene Resignierte Gebrochene Verzweifelte Gebrochene Apathische
Die Arbeitslosen von Marienthal Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freiheit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakte mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere. Quelle: Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel, 1933
Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Negativspirale Gesundheitliche Einschränkungen erhöhen das Risiko arbeitslos zu werden Arbeitslosigkeit macht krank Gesundheitliche Einschränkungen hemmen Arbeitssuche und Vermittlung
Arbeitslosigkeit und subjektiver Gesundheitszustand Arbeitslose schätzen ihren Gesundheitszustand im Schnitt deutlich schlechter ein als Erwerbstätige
Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit Der Anteil der Arbeitslosen, die psychisch deutlich beeinträchtigt sind & ggf. psychologische oder medikamentöse Behandlung benötigen, ist mehr als doppelt so hoch wie unter den Erwerbstätigen
Arbeitslosigkeit und physische Morbidität arbeitslose Versicherte waren deutlich häufiger arbeitsunfähig als pflicht-und freiwillig versichert Beschäftigte
Krankheit: Ursache und Folge von Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit Krankheit Arbeitslosigkeit fuhrt zu einem erhöhten Krankheitsrisiko (Kausalitätshypothese); Materielle Deprivation (Lebensstandard, Wohnsituation, Teilhabechancen, Konsum) Kontrollverlust (Zeitkontrolle, Selbstwirksamkeitserwartung) Stress (Fehlende Bewältigungsressourcen, Statusdeprivation, Sinngebung?) Verlust soziale Unterstützung (soziale Isolation, fehlende Unterstützung bei Problemen) Krankheit fuhrt zu einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko (Selektionshypothese). Krankheitsbedingter Arbeitsplatzverlust Schlechtere Wiederbeschäftigungschancen Abhängig von Arbeitsmarktpolitik Konjunktur Region Milieu Gender
Herausforderungen und Probleme bei Konzeption und Umsetzung von Strategien zur Prävention der Gesundheitsfolgen von Arbeitslosigkeit Beste Prävention: ausreichendes Angebot an Beschäftigungsmöglichkeiten (oder ein gänzlich anderer gesellschaftlicher Umgang mit Arbeitslosigkeit..) Second best option : kompensatorische Maßnahmen durch enge Verknüpfung von Prävention/Gesundheitsförderung mit Maßnahmen der Arbeitsförderung Aber: Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen stellen keine homogene Zielgruppe dar => es bedarf zielgruppenspezifischer Ansätze Schlechte Erreichbarkeit der Zielgruppe sowie die schlechte Annahme bzw. Akzeptanz von Präventionsprogrammen Moderne Präventionsstrategien setzten auf den Setting-Ansatz: aber in welches Setting sind Arbeitslose eingebunden!?!?!
Empfehlungen des SVR (Gutachten 2007) Kooperation zwischen den Trägern des SGB V und SGB II/III Herausforderung: Präventionsauftrag liegt bei der GKV ( 20 SGB V), SGB III/II Träger haben keinen expliziten Präventionsauftrag Aber: 10 SGB III Ermessensleistungen unter stärkerer Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte verwenden? 16 Abs. 2 SGB II => soziale Eingliederungshilfen (Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung oder Suchtberatung) Ärztlicher Dienst der BA Ca. 300 ärztliche MitarbeiterInnen Bislang: rein gutachterliche Tätigkeit im Zuge der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Arbeitslosen Zukünftig: Lotsen, die Erwerbslose mit gesundheitlichen Einschränkungen durch das komplexe Hilfesystem der Prävention und Gesundheitsförderung leiten? Fallmanagement: Aufnahme von Erwerbslosen mit vermittlungsrelevanten Gesundheitsproblemen in das Fallmanagement? Herausforderung: Fallmanager brauchen (sozial)medizinische Kenntnisse bzw. interdisziplinäre Teams
Und was ist seitdem passiert?! (I) Einführung von Modellprojekten Mehr Gesundheit für alle BKK Bundesverband BEAM (Berufliche Eingliederungs- und Arbeitsmaßnahmen) => motivierende Gesundheitsgespräche Job Fit Regional AmigA (Arbeitsförderung mit gesundheitsbezogener Ausrichtung) (=> Mittelmärkischen Arbeitsgemeinschaft zur Integration in Arbeit (MAIA) lückenhaften Dokumentations-und Evaluationspraxis Ergebnisse?!
Und was ist seitdem passiert?! (II) Kooperationen zwischen den Bereichen SGB V und SGB III/II Empfehlung der kommunalen Spitzenverbände und der gesetzlichen Krankenversicherung zur Zusammenarbeit im Bereich Primärprävention und Gesundheitsförderung in der Kommune, Mai 2013 Empfehlung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesagentur für Arbeit (BA) und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zum Thema Arbeitslosigkeit und Gesundheit, Februar 2012 Ziel: Verbesserung der Information und Motivation Arbeitsloser zur Teilnahme an von der GKV geförderten Präventionsmaßnahmen durch geeignete Beratungen im Rahmen von Maßnahmen der Gesundheitsorientierung der BA Integration von Gesundheitsförderungsmaßnahmen in Arbeitsmarktmaßnahmen
Und was ist seitdem passiert?! (III) Präventionsgesetz Kombination von Verhaltensprävention Verhältnisprävention Individueller Ansatz Setting-Ansatz Schule Bewegungsangebote Ernährungsaufklärung Aufklärung Suchtgefahren Sozio-emotionale Kompetenz Multiplikatoren- Schulung Verzahnung der Hilfenetze Kooperation der Institutionen Kita Kommune VHS Jobcenter Betriebe
Was bleibt immer noch zu tun? Von den Modellprojekten in die Fläche gehen: Potenziale der Prävention und Gesundheitsförderung werden weder von den Krankenkassen noch von der Bundesagentur für Arbeit bzw. den SGB II-Trägern voll ausgeschöpft. Abbau von Zugangsschwierigkeiten: Konzentration auf Kunden mit guten Integrationschancen: Für Kunden mit ohnehin guten Integrationsaussichten richteten die Agenturen einen sogenannten Sofortzugang ein. Ein Teil der Agenturen schloss Kunden mit Vermittlungshemmnissen, z. B. ältere Menschen oder Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen, vom Sofortzugang aus (Prüfbericht des Bundesrechnungshofes 2014)
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Fragen? Kommentare? tklenk@uni-kassel.de