Inklusion in Schule und Gesellschaft

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Inklusion in Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Erhard Fischer, Ulrich Heimlich Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann Band 5

Roland Stein, Thomas Müller (Hrsg.) Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage 2015 Alle Rechte vorbehalten W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-024337-8 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-024338-5 epub: ISBN 978-3-17-024339-2 mobi: ISBN 978-3-17-024340-8 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Vorwort der Reihenherausgeber Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe»Inklusion in Schule und Gesellschaft«Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen. Die Buchreihe wird die folgenden Einzelbände umfassen: Band 1: Inklusion in der Primarstufe Band 2: Inklusion im Sekundarbereich Band 3: Inklusion im Beruf Band 4: Inklusion im Gemeinwesen Band 5: Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung Band 6: Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Band 7: Inklusion im Förderschwerpunkt Hören Band 8: Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung 5

Vorwort der Reihenherausgeber Band 9: Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen Band 10: Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen Band 11: Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache Band 12: Inklusive Bildung interdisziplinäre Zugänge Die Herausgeber Erhard Fischer Ulrich Heimlich Joachim Kahlert Reinhard Lelgemann 6

Inhaltsverzeichnis Danksagung Roland Stein/Thomas Müller 9 Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zur Einleitung Roland Stein/Thomas Müller 11 Verhaltensstörungen und emotional-soziale Entwicklung: zum Gegenstand Roland Stein/Thomas Müller 19 Zur geschichtlichen Entwicklung der schulischen Erziehungshilfe Marc Willmann 44 Zwischen Separation und Inklusion: zum Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung Roland Stein/Stephan Ellinger 76 Organisationsformen inklusiver Förderung im Bereich emotional-sozialer Entwicklung Thomas Hennemann/Heinrich Ricking/Christian Huber 110 Beziehung statt Erziehung? Psychoanalytische Perspektiven auf pädagogische Herausforderungen in der Praxis mit emotional-sozial belasteten Heranwachsenden Birgit Herz/David Zimmermann 144 7

Inhaltsverzeichnis Evidenzbasierte Praxis im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung Clemens Hillenbrand 170 Erziehung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung Thomas Müller/Roland Stein 216 Schulische Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung quo vadis? Thomas Müller/Roland Stein 230 Autorenverzeichnis 236 8

Danksagung Dass dieses Buch entstehen konnte, ist zu allererst der Initiative und dem Vertrauen der Reihenherausgeber der Universitäten München und Würzburg Erhard Fischer, Ulrich Heimlich, Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann zu verdanken. Dass es dabei möglich war, für den Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ein derart vielschichtiges Spektrum an Beiträgen, Perspektiven und Positionen zu den Herausforderungen um Inklusion mit diesem spezifischen Fokus zusammenzuführen, ist der Fachkompetenz, dem großen Engagement sowie der Diskursbereitschaft aller durch die Buchherausgeber eingeladenen Autoren 1 geschuldet. Nicht zuletzt sei Johannes Schwarzkopf für seine außergewöhnlich sorgfältige redaktionelle Arbeit gedankt. Würzburg, im September 2014 Roland Stein und Thomas Müller 1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in der Regel die männliche Schreibweise verwendet. Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich darauf hin, dass sowohl die männliche als auch die weibliche Schreibweise für die entsprechenden Beiträge gemeint ist. 9

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zur Einleitung Roland Stein/Thomas Müller Verhaltensstörungen und der Umgang mit ihnen stellen mit Sicherheit einen der Brennpunkte und eine der größten Herausforderungen im Hinblick auf die Schulentwicklung der kommenden Jahre dar. Dies gilt umso mehr angesichts der Zielsetzung, die Entwicklung hin zu einem stärker inklusiven Erziehungs- und Bildungssystem voranzutreiben, wie es die UN- Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorgibt. Die Entwicklung hin zu einer inklusiven Gesellschaft und in diesem Kontext auch zu einem inklusiven Schulsystem wird im Sinne dieser Konvention als Auftrag verstanden. Dabei gilt es, die Konvention nicht auf einzelne ihrer Artikel zu beschränken, sondern in ihrem Gesamtbild zu sehen. Ziel ist die uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Während sich Bestrebungen um Integration darauf ausrichten, Menschen in bestehende Systeme einzupassen, besteht das Ziel nach Maßgabe der UN-Konvention nun darin, die Systeme 11

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zur Einleitung so weiterzuentwickeln, dass sie allen Menschen gerecht werden und alle Menschen von vorne herein aufnehmen, auch Menschen mit Behinderungen, deren Wohlergehen Thema dieser Konvention ist. Dabei sind besondere Maßnahmen zur Beschleunigung oder Herbeiführung von Gleichberechtigung explizit mitgedacht, und das Wohl des Kindes soll im Hinblick auf die Abwägung von Maßnahmen Vorrang haben. Es ist davon auszugehen, dass hier ein fernes gesellschaftliches Ziel beschrieben und ein langfristiger Prozess in Gang gesetzt wird, der große Umsicht erforderlich macht. In einer ersten Phase gestaltete sich die Diskussion um die UN- Konvention in Deutschland sehr polarisiert, emotionalisiert und eng auf die institutionelle Frage der Zukunft von Sonder- bzw. Fördereinrichtungen beschränkt. Es wäre wünschenswert, diese Diskussion sachlicher und differenzierter weiterzuführen, um den individuellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen, Beeinträchtigungen bzw. besonderem Förderbedarf wirklich und effektiv gerecht zu werden. Hierzu möchte das vorliegende Buch einen Beitrag leisten, indem der Blick zugleich auf einen der zentralen Brennpunkte, möglicherweise eine Nagelprobe des Prozesses hin zu stärker inklusiven schulischen Strukturen gelenkt wird. Denn aus der epidemiologischen Forschung ergibt sich deutlich, dass psychische Problematiken wie Ängstlichkeit und Angststörungen, Dissozialität und Aggressivität, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen sowie auch Depressivität bei Kindern und Jugendlichen außerordentlich verbreitet sind. Aber auch weitere Phänomene wie Schulabsentismus, verschiedene Formen von Drogenmissbrauch und Abhängigkeit, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen oder auch Bindungsproblematiken spielen eine bedeutende Rolle. Sie stellen Lehrkräfte verschiedenster Schularten vor erhebliche Probleme und sind schon immer ein Thema aller Schulformen und Schulen, auch wenn nicht alle Schulformen bisher ein ausreichendes Bewusstsein hierfür entwickelt haben und sich in vertiefter Form um einen pädagogischen Umgang damit bemühen. Das Spektrum dieser Problemlagen will das vorliegende Buch differenziert und aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven beleuchten sowie Möglichkeiten des Umgangs mit solchen Herausforderungen, aber auch Schwierigkeiten und Begrenzungen pädagogischen Handelns aufzeigen. Das Buch folgt dabei einem interaktionistischen Verständnis von Verhaltensstörungen diese werden als Störungen im Person-Umwelt-Bezug betrachtet. Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen oder auch ein emotional-sozialer Förderbedarf sind aus dieser Perspektive Signale für dahinterstehende Störungen Störungen in der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt. Damit rücken neben Schülern 12

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zur Einleitung mit auffälligen Persönlichkeitsanteilen auch Aspekte der Situation in den Vordergrund; des Weiteren geraten komplexere systemische Zusammenhänge in den Blick, unter anderem die Folgenden: S S S Die Forschung zu Schul- und Unterrichtsklima weist auf bedeutsame Zusammenhänge zu psychischen Störungen hin; Untersuchungen zum Klassenmanagement verweisen auf bedeutsame Einflüsse der Gestaltung des Unterrichts auf das Verhalten der Schüler; in vielen Elternhäusern finden sich Bedingungen, die Auffälligkeiten bei Kindern hervorbringen oder befördern. Verschiedenste belastende, aber auch provozierende Bedingungen und Kontexte müssen daher in den Blick genommen werden. Erst aus den Interaktionen von Menschen mit ihren Lebensbedingungen innerhalb verschiedener Situationen und Systeme entwickeln sich Problematiken, die als störend empfunden und erfahren werden. Ein solches interaktionistisches Verständnis des Problembereiches beinhaltet auch viele Möglichkeiten einer präventiven Sicht und Arbeit im Hinblick auf Störungen, so dass diese gar nicht erst entstehen oder sich möglichst wenig verfestigen. Ziel des Buches ist es, die gegenwärtige schulische Situation im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung in Deutschland aus ihrer historischen Entwicklung heraus zu verstehen, sie im Hinblick auf wesentliche Leitlinien darzustellen sowie dann aus wissenschaftlicher Perspektive sinnvolle und mögliche Perspektiven einer zukünftigen Entwicklung zu umreißen. Im (scheinbaren) Spannungsfeld zwischen inklusiver und besonderer, separierender Beschulung sollen zentrale Aspekte des aktuellen Forschungsstandes betrachtet werden. Dabei geht es nicht allein um Fragen der Leistungsfortschritte, sondern ebenso um Leistungsmotivation, emotionale und soziale Entwicklung und Veränderungen des Selbstkonzepts. Aber auch die Einbindung der durch den Förderschwerpunkt beschriebenen Schüler in die Gruppe oder Klassengemeinschaft, die resultierende Gruppenatmosphäre und die Wirkung auf andere Schüler ein Aspekt, der von vielen Eltern sehr kritisch hinterfragt wird spielen eine wichtige Rolle. Eine solche nüchterne Bestandsaufnahme der aktuellen schulischen Situation im Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung ist unverzichtbare Grundlage für die Frage, welche Maßnahmen aus empirischer Perspektive wirksam sind, wobei ein Bogen von schulischer Prävention (für alle Schulen) bis zur intensiven Intervention (in besonderen Settings) ebenso gespannt werden muss, wie die Frage der Wirkung von Konzepten und Maßnahmen im Hinblick auf spezifische Problematiken zu stellen 13

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zur Einleitung eines enormen und eine Diversität der Handlungsformen erfordernden Spektrums der Problemstellungen: Ängstlichkeit und Ängste, Aggressivität und Gewalt, ADHS, Depressivität, selbstverletzendes Verhalten, Abhängigkeit, Schulunlust und andere Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens. Neben dem Interesse an Evidenzbasierung, an dem, was wirkt, stellt sich aber gerade in diesem Förderschwerpunkt die zentrale Frage nach der Bedeutung von Erziehung auch im Hinblick auf maßgebliche Aspekte, die teilweise schwer oder kaum messbar sein dürften und dennoch einen großen Bedeutungs- und Sinngehalt haben. Dabei gilt es besonders die Perspektive der Psychoanalyse nicht nur in ihrer historischen Relevanz für den Förderschwerpunkt, sondern gerade auch in ihrer Aktualität aufzugreifen. Leitlinien dessen, was hier unter Erziehung verstanden werden kann, spielen eine zentrale Rolle für Allgemeine Schulen, in denen allzu oft die Fragen stark auf ein stark kognitiv orientiertes Bildungsverständnis und auf Lernfortschritte hin fokussiert sind und sie sind von intensiver Bedeutung für spezielle Formen schulischer Erziehungshilfe. Aus den hier angerissenen Aspekten ergibt sich der Aufbau dieses Buches, der im Folgenden erläutert wird. Das Bemühen um die inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf zieht unweigerlich die Frage nach sich, um wen es sich dabei genau handelt und ob mit der Bezeichnung emotional-sozialer Förderbedarf auch alle Kinder und Jugendlichen gemeint sind, die zum Gegenstandsbereich der Pädagogik bei Verhaltensstörungen gezählt werden können. Roland Stein und Thomas Müller entwerfen daher ein begriffliches Konzept, das im Sinne von Inklusion nicht nur interventive, sondern gerade auch präventive Perspektiven eröffnet. Emotionalsozialer Förderbedarf erweist sich dabei als ein Aspekt im Rahmen eines interaktionistischen Verständnisses, welches von einer spezifischen Sicht auf Verhaltensstörungen ausgeht und dabei mögliche Beiträge der Person, der Situationen, der jeweiligen Interaktion und der beurteilenden und diagnostizierenden Beobachter zum Entstehen und zur weiteren Entwicklung von Störungen beleuchtet. Mit Blick auf die Ausgangslage und Entstehung der Disziplin Pädagogik bei Verhaltensstörungen erscheint es notwendig, Begrifflichkeiten und Erscheinungsweisen in den Blick zu nehmen und ausgehend von diesen nach den zugrundeliegenden Kriterien und Normen zu fragen. Im Anschluss an Möglichkeiten der Einteilung, Klassifikation und Epidemiologie wird die Frage nach einer inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf schließlich unter anthropologischer Perspektive in ihrer Komplexität diskutiert. 14