Die Phänomenologie des Fremden als Grundlage psychiatrischpsychotherapeutischen Handelns

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Transkript:

Die Phänomenologie des Fremden als Grundlage psychiatrischpsychotherapeutischen Handelns Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff Chefarzt Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ärztlicher Leiter Psychiatrie Baselland

5 Thesen 1. Das Fremde und das Eigene sind gleich ursprünglich. 2. Die Differenz zwischen Eigenem und Fremden wird konstruiert, sie ist nicht vorgegeben. Dennoch lässt sich das Fremde nicht einfach aufheben und in Eigenheit überführen. 3. Was als fremd, was als eigen gilt, das legt keine objektive Instanz verbindlich fest. Daher ist es wichtig, dass die Grenzen zwischen dem Fremden und dem Eigenen, zwischen dem Anderen und dem Selbst flüssig bleiben. 4. Das Fremde ist nicht aussen, es ist genau so sehr innen. Die Anerkennung der eigenen Fremdheit kann Voraussetzung für die Akzeptanz der Fremdheit von Anderen sein. 5. Entscheidend ist nicht die Aufhebung von Fremdheit, sondern der Umgang mit ihr, der sich in der Schwebe (Oszillation) von Aneignung und Anerkennung des Fremden als Fremden bewegt und zu Neugier gegenüber dem Fremden, nicht zum Versuch seiner Aufhebung führt.

These I Das Fremde und das Eigene sind gleich ursprünglich.

These II Die Differenz zwischen Eigenem und Fremden wird konstruiert, sie ist nicht vorgegeben. Dennoch lässt sich das Fremde nicht einfach aufheben und in Eigenheit überführen.

Bernhard Waldenfels (2009) Doch wie erfährt man das Fremde? Erfährt man es, indem man es sucht, intendiert, befragt und beurteilt? Meine Antwort lautet: Wenn man dieser Annahme folgt, hat man das Fremde schon verpasst. Fremdes taucht auf, indem es uns widerfährt, indem es uns erstaunt, erschreckt, verlockt; in diesem Sinne spreche ich von einem Pathos des Fremden. Fremd ist etwas, von dem wir ausgehen, bevor wir darauf zugehen. Um einen Satz von Nietzsche abzuwandeln: Fremdes kommt, wenn es will, nicht wenn ich will. Eben deshalb hat das Fremde zugleich etwas Archaisches und etwas Überraschendes.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse: [...] ein Gedanke kommt, wenn er will, und nicht wenn ich will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ich ist die Bedingung des Prädikats denke. Edmund Husserl: Zugänglichkeit des original Unzugänglichen

Bernhard Waldenfels (1999) Relativ nenne ich eine Fremdheit, die nur einen vorläufigen oder vorübergehenden Charakter aufweist, die also unter günstigen Umständen und auf die Dauer überwunden werden kann. Radikale Fremdheit bedeutet dagegen etwas anderes; sie bedeutet eine Fremdheit, die an die Wurzeln aller Dinge rührt. Sie gehört, phänomenologisch gesprochen, zu den Sachen selbst und nicht bloß zu unserer beschränkten Zugangsweise. Diese Form der Fremdheit setzt voraus, dass jede Ordnung als begrenzte Ordnung bestimmte Möglichkeiten auswählt, andere ausschließt und dass niemand Herr im eigenen Haus ist.

These III Was als fremd, was als eigen gilt, das legt keine objektive Instanz verbindlich fest. Daher ist es wichtig, dass die Grenzen zwischen dem Fremden und dem Eigenen, zwischen dem Anderen und dem Selbst flüssig bleiben.

These IV Das Fremde ist nicht aussen, es ist genau so sehr innen. Die Anerkennung der eigenen Fremdheit kann Voraussetzung für die Akzeptanz der Fremdheit von Anderen sein.

Seyla Benhabib (2008) Wer zum Volk gehört, ist eine politische Frage, die laufend neu verhandelt werden muss. Wieland Machleidt (2011) Transkultureller Übergangsraum: Raum, in dem «die jeweiligen unterschiedlichen, gegensätzlichen kulturellen Zugehörigkeiten und Bedeutungszuschreibungen präsent sind und gleichzeitig im Verständigungsprozess neu erschaffen und mit kultureller Bedeutung versehen werden».

Julia Kristeva (1990) Mit dem Begriff des Freudschen Unbewussten verliert die Einbindung des Fremden in die Psyche ihren pathologischen Aspekt und integriert eine... Andersheit ins Innere der angenommenen Einheit des Menschen: sie wird integraler Teil des Selbst. Von nun an ist das Fremde nicht Rasse und nicht Nation... als Unheimliches ist das Fremde in uns selbst: wir sind unsere eigenen Fremden; wir sind gespalten...

Julia Kristeva (1990) Die Psychoanalyse erweist sich damit als eine Reise in die Fremdheit des anderen und meiner selbst, hin zu einer Ethik des Respekts für das Unversöhnbare. Wie könnte man einen Fremden tolerieren, wenn man sich nicht selbst als Fremden erfährt? Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir draußen weder unter ihr leiden noch sie genießen. Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. Wenn ich Fremder bin, gibt es keinen Fremden.

These V Entscheidend ist nicht die Aufhebung von Fremdheit, sondern der Umgang mit ihr, der sich in der Schwebe (Oszillation) von Aneignung und Anerkennung des Fremden als Fremden bewegt und zu Neugier gegenüber dem Fremden, nicht zum Versuch seiner Aufhebung führt.

Jessica Benjamin (1993) Paradoxe Mischung von Anderssein und Zusammensein: du gehörst zu mir - und doch bist du nicht (mehr) Teil von mir. Zur Freude, die dein Dasein mir bereitet, gehört beides: meine Verbindung zu dir und deine unabhängige Existenz.

Bernhard Waldenfels (1997) Die Erfahrung des Fremden, die dieser Ursituation entspringt, zeigt von vornherein eine Ambivalenz, erscheint als verlockend und bedrohlich zugleich und kann sich bis zu einem horror alieni steigern. Bedrohlich ist sie, da das Fremde dem Eigenen Konkurrenz macht, es zu überwältigen droht; verlockend ist sie, da das Fremde Möglichkeiten wachruft, die durch die Ordnungen des eigenen Lebens mehr oder weniger ausgeschlossen sind.

Georg Simmel (1908) Der Fremde ist «nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt - sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.»

Maurice Blanchot Jacques Derrida (2000) Wir müssen es uns versagen, die zu kennen, mit denen uns etwas Wesentliches verbindet... Die Freundschaft muss durch die Anerkennung der gemeinsamen Fremdheit hindurch, die es uns erlaubt, nicht von unseren Freunden, sondern einzig zu ihnen zu sprechen, die Freundschaft nicht zu einem Gesprächsthema (oder zum Gegenstand von Aufsätzen), sondern zu jener Bewegung des Hörens werden zu lassen, in der sie, zu uns sprechend, noch in der grössten Vertrautheit den unendlichen Abstand wahren, jene fundamentale Trennung, kraft deren das, was trennt, Bezug wird.

Bernhard Waldenfels (2009) Die Normalisierung, die Unvertrautes in Vertrautes verwandelt, macht auch vor dem Fremden nicht halt. Doch würde die Normalisierung Überhand nehmen, so würde sie das Fremde austreiben, ganz so wie ein methodisch herbeigeführtes Staunen das Erstaunliche nicht meistern, sondern schlicht aufheben würde. So wie es ein Lernen durch Leiden gibt, nicht aber ein Erlernen des Leidens, so gibt es ein Lernen durch Fremdes, nicht aber ein Erlernen des Fremden. Fremderfahrung ist eine Erfahrung à rebours, eine Erfahrung, die gegen den Strich geht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!