S.G. Riedel-Heller 1 S. Weyerer 2 H.-H. König 3 M. Luppa 1 1

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Transkript:

Nervenarzt 2012 DOI 10.1007/s00115-012-3586-6 Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 S.G. Riedel-Heller 1 S. Weyerer 2 H.-H. König 3 M. Luppa 1 1 Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät, Universität Leipzig, Leipzig 2 Arbeitsgruppe Psychiatrische Epidemiologie und Demographischer Wandel, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Medizinische Fakultät Mannheim/Universität Heidelberg Mannheim, Mannheim 3 Institut für Medizinische Soziologie, Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie (IMSG), Hamburg Center for Health Economics, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg Depression im Alter Herausforderung für eine Gesellschaft der Langlebigen Die Menschen in unserer Gesellschaft leben immer länger. Psychische Störungen im Alter geraten zunehmend ins Blickfeld. Wie häufig sind depressive Störungen in der Altenbevölkerung? Mit welchen Folgen sind sie für den Einzelnen und für die Solidargemeinschaft in Bezug auf Krankheitskosten verbunden? Die meisten Senioren in Deutschland sehen zumindest ihren Hausarzt regelmäßig. Wie sieht die aktuelle Behandlungspraxis depressiver Störungen im Alter aus? Der Beitrag widmet sich diesen Fragen aus einer Bevölkerungsperspektive. International erfolgreiche Wege zur Optimierung der Behandlung depressiver alter Menschen werden aufgezeigt. Häufigkeit, Risikofaktoren und Verlauf depressiver Störungen im Alter Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen im höheren Lebensalter. Das Spektrum reicht von sehr leichten oder unterschwelligen Störungen über klinisch relevante Störungen bis hin zu sehr schweren Erkrankungen [5]. Schwere Formen, die mit den gängigen Klassifikationssystemen erfasst werden, sind seltener als leichtere. Eine aktuelle Metaanalyse bevölkerungsbasierter Studien von Luppa et al. [23] ergab eine Prävalenz von 7,2% (95%-Konfidenzintervall [CI] 4,4 10,6%) für eine Major-Depression bei über 75-Jährigen. Darüber hinaus erlebt eine substanzielle Zahl von Senioren eine depressive Symptomatik, die nicht die geforderten Kriterien des ICD- 10 oder DSM-IV erfüllen. Gleichwohl sind die Betroffenen aber davon beeinträchtigt. Die genannte Metaanalyse ergab eine Prävalenz für depressive Symptomatik, wie sie im Allgemeinen mit Depressionsskalen gemessen wird, von 17,1% (95%-CI 9,7 26,1%) [23]. Die Leipziger Langzeitstudie in der Altenbevölkerung (LEILA75+), eine populationsbasierte Studie, bei der die deutsche Version der Center for Epidemiologic Studies Depression Scale (CES-D) zum Einsatz kam, ergab eine Prävalenz von 14% (95% CI-12 17%) unter Verwendung des für Deutschland definierten Cut-offs von 23 Punkten [10, 22].» Unterschwellige Depressionen sind ein Risiko für die Entwicklung einer Major-Depression Weibliches Geschlecht, funktionelle Beeinträchtigungen, insbesondere Mobilitäts- und Sehbeeinträchtigungen, sowie ein eingeschränktes soziales Netzwerk können unter anderem als wichtige Risikofaktoren für die Entwicklung depressiver Symptome gelten [22, 32, 43]. Über einen Beobachtungszeitraum von 8 Jahren zeigten 40% der Studienteilnehmer einen intermittierenden oder chronischen Verlauf [22]. Eine aktuelle Übersicht unterstreicht die Relevanz sog. unterschwelliger Depressionen, die ein substanzielles Risiko für die Entwicklung einer Major- Depression darstellen [25]. In einer aktuellen multizentrischen Studie, der Age- CoDe-Studie mit initial 3327 untersuchten Allgemeinarztpatienten über 75 Jahre, hatten 10% eine depressive Symptomatik [42]. Verwendet wurde hier eine Kurzform der Geriatrischen Depressionsskala (GDS-15, mit einen Cut-off von <6/6+). Im Zuge des demographischen Wandels und kontinuierlichen Anstiegs der Lebenserwartung wird sich die Zahl der über 80-Jährigen von gegenwärtig 3,9 Mio. auf 10,0 11,6 Mio. bis zum Jahr 2050 steigern [37]. Das könnte bedeuten, dass sich auch die Zahl älterer Menschen mit depressiver Symptomatik um ca. zwei Drittel erhöhen wird. Folgen Depressive Störungen im Alter sind folgenschwer für den Einzelnen und die Solidargemeinschaft. Sie sind mit Funktionsbeeinträchtigungen [2], einer reduzierten Lebensqualität [38], erhöhten Suizidraten [41] sowie einer erhöhten nichtsuizidalen Mortalität verbunden [31]. Zahlreiche Befunde zeigen, dass komorbide depressive Störungen den Verlauf 1

in US$ PPP 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 Nicht-Depressive Unützer et al. 1997 Depressive Luber et al. 2001 Studien somatischer Erkrankungen, insbesondere kardiovaskulärer Erkrankungen, deutlich negativ beeinflussen [4, 15]. Ältere Menschen mit depressiven Störungen gehören zu den Vielnutzern des Gesundheitssystems, wobei die allerwenigsten eine depressionsspezifische Behandlung erhalten und nutzen [14, 18, 20]. Eine aktuelle systematische Übersicht zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und Kosten bei Patienten mit depressiven Störungen zeigte durchgehend, dass die ambulanten, stationären sowie die Gesamtkosten depressiver Senioren ein Drittel über den entsprechenden Kosten nichtdepressiver Senioren liegen [24]. Erste deutsche Daten zu den direkten Kosten depressiver Störungen bei über 75- jährigen Allgemeinarztpatienten ergaben im Rahmen einer prävalenzbasierten Bottom-up-Studie mit Inkrementalkostenansatz durchschnittliche jährliche direkte Gesamtkosten in Höhe von 5241 EUR für Depressive und von 3648 EUR für Nichtdepressive [20]. Eine Regressionsanalyse zu den Einflussfaktoren auf die direkten Kosten zeigte, dass depressive Erkrankungen einen eigenständigen signifikanten Beitrag leisten, der nicht durch die erhöhte somatische Komorbidität bedingt ist. Mit jedem zusätzlichen Punkt auf der Geriatrischen Depressionsskala erhöhten sich die Kosten um 336 EUR [20].. Abb. 1 zeigt einen Vergleich mit früheren Studien [13, 17, 19, 39]. Es zeigten sich zudem Hinweise, dass die Kosten derjenigen Allgemeinarztpatienten, deren Depression dem Hausarzt unbekannt war, höher sind, als die Kosten derjenigen vom Hausarzt als depressiv erkannten Patienten [19]. Katon et al. 2003 Luppa et al. 2008 Abb. 1 9 Durchschnittliche jährliche Direktkosten für die Behandlung depressiver und nichtdepressiver Senioren im Vergleich (inflationsbereinigt und mittels Kaufkraftparität in US-Dollar umgerechnet) Die erhöhten Kosten bei depressiven Patienten kamen durch die erhöhte Inanspruchnahme von Medikamenten, Hilfsmittelverordnungen und von Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung zustande. So erhielten 18% der depressiven gegenüber 4% der nichtdepressiven Patienten die Pflegestufe 1. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen zwei internationale Studien [28, 30], die zeigen konnten, dass bei älteren depressiven Menschen die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen und von Unterstützung im Alltag deutlich erhöht ist. Eine aktuelle Studie zum Verlauf der Versorgungskosten bei depressiver Symptomatik im höheren Alter zeigt darüber hinaus, dass leichte depressive Symptome auch die Versorgungskosten in der Zukunft deutlich beeinflussen, unabhängig von vorliegenden körperlichen Erkrankungen ([21],. Abb. 1). Aktuelle Versorgungssituation Über 90% der Senioren suchen ihren Hausarzt regelmäßig auf [16]. Deshalb kommt dem allgemeinärztlichen Versorgungsbereich bei der Erkennung und Bahnung der weiteren Behandlung depressiver Störungen im Alter eine Schlüsselrolle zu. Eine bundesweite Studie, die sich auf über 20.000 Allgemeinarztpatienten im Erwachsensenalter bezog, also vor allem jüngere Patienten einbezog, zeigte, dass ca. ein Zehntel der depressiven Personen in spezialisierte psychologische oder psychiatrische Behandlung überwiesen wurde [11]. D Versorgungsforscher in den USA und in Großbritannien haben ältere Menschen mit Depressionen als hochrelevante und unterversorgte Gruppe identifiziert. Eine Metaanalyse zeigt, dass depressive Störungen im Alter im primärärztlichen Setting unterdiagnostiziert sind. Grob die Hälfte bleibt unerkannt. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Grad der Erkennung noch deutlich unter dem von Depressionen im jüngeren Alter liegt [26, 33]. Obwohl Depressionen behandelbar sind, werden auch Patienten, die als depressiv identifiziert werden, nur selten behandelt [24]. Sowohl psychopharmakologische Interventionen [7, 44] als auch psychotherapeutische Interventionen [45], wie z. B. die speziell für das allgemeinärztliche Setting entwickelte Problemlösetherapie (PST-PC) oder die interpersonelle Psychotherapie (IPT), haben sich für ältere Menschen als effektiv erweisen. Andere nichtpharmakologische Interventionen, wie physische Aktivierung und soziale Vernetzung zeigen ermutigende Resultate [3, 5]. Es gibt international zunehmend Evidenz, dass auch alte Menschen psychosozialen Interventionen einen bevorzugten Stellenwert einräumen [9, 40]. Dies steht im Gegensatz zu früheren Annahmen, Senioren würden psychopharmakologische Interventionen präferieren, da sie eine Stigmatisierung fürchten. Über die Behandlungspräferenzen von Allgemeinärzten weiß man wenig [27], über diejenigen von Angehörigen, die häufig als potenzielle Pflegepersonen einen großen Einfluss auf die Senioren haben, nichts. Der Ruf nach optimierter Versorgung Einfache Trainingsprogramme für den allgemeinärztlichen Versorgungsbereich zur Erhöhung der Erkennungs- und Behandlungsraten haben sich als ineffektiv erwiesen [34]. Hier erscheinen komplexe Interventionen notwendig. International spielen integrierte Versorgungsmodelle eine besondere Rolle, die fachspezifische Expertise in das primärärztliche Setting anbinden oder inkludieren [36]. Diese integrierten Versorgungsmodelle wur- 2 Der Nervenarzt 2012

Zusammenfassung Summary den hinsichtlich der Behandlung von Depressivität im Alter untersucht und konnten eine signifikante Verbesserung der Erkennungs- und Behandlungsraten zeigen [35]. Beispielhaft seien die Interventionsprogramme IMPACT (Improving Mood Promoting Access to Collaborated Treatment), PRISM-E (Primary Care Research in Substance Abuse and Mental Health for Elderly) und PROSPECT (Primary Care Elderly Collaborative Trial) genannt. Das IMPACT-Programm ist das am besten untersuchte und implementierte Programm, das die stärkste Evidenz im Hinblick auf die Wirksamkeit einer kombinierten kollaborativen, gestuften Behandlung zeigte [36]. In der ersten Stufe können die Patienten zwischen einer antidepressiven psychopharmakologischen Behandlung und einer Problemlösetherapie wählen, die von einem sog. klinischen Depressionsspezialisten angeboten wird. Führt dies nicht zum Erfolg, werden die Patienten intensiveren Interventionen zugeführt (Kombinationsbehandlung Psychotherapie und Medikation, Elektrokrampftherapie als finale Behandlungsoption). Für das IMPACT-Programm sprechen seine Patientenorientierung und die in den USA nachgewiesene Wirksamkeit und erfolgreiche Implementierung. Niedrigschwellige Interventionen, die Selbstmanagementansätze inkludieren und z. B. körperliche Aktivitäten fördern, sind nicht in diesem Modell verankert. Gensichen et al. [6] konnten positive Ergebnisse für eine Case-Management-Intervention im primärärztlichen Bereich mit ihrer PROMPT-Studie (Primary Care Monitoring for Depressive Patients Trial) zeigen, bei der 18- bis 80- Jährige, jedoch in der Mehrheit jüngere Patienten, eingeschlossen wurden [1]. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat gegenwärtig im Förderprogramm Versorgungsforschung zwei multizentrische Studien auf den Weg gebracht und der Relevanz dieses Themas damit Rechnung getragen. Eine Studie wird die Versorgungssituation, die Bedarfe und Patientenpräferenzen und die Kosten depressiver alter Menschen in Deutschland besser charakterisieren (AgeMooDe). Eine weitere Studie überprüft das IMPACT-Programm unter hiesigen Gegebenheiten (GermanIM- Nervenarzt 2012 [jvn]:[afp] [alp] DOI 10.1007/s00115-012-3586-6 Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 S.G. Riedel-Heller S. Weyerer H.-H. König M. Luppa Depression im Alter. Herausforderung für eine Gesellschaft der Langlebigen Zusammenfassung Depressive Störungen im Alter sind häufig und folgenschwer. Der vorliegende Beitrag fasst aktuelle Ergebnisse zur Häufigkeit, zum Verlauf und zu den Risikofaktoren depressiver Störungen im Alter zusammen. Die Folgen depressiver Störungen für den Einzelnen und die Solidargemeinschaft werden aufgezeigt. Depressive alte Menschen gehören zu den Vielnutzern des Gesundheitssystems. Obgleich die allerwenigsten eine depressionsspezifische Behandlung erhalten, liegen die Kosten für depressive Senioren ein Drittel über den entsprechenden Kosten nichtdepressiver alter Menschen. Deutsche Studien zur aktuellen Versorgungssituation sind rar. Es kann von einer Unterversorgung ausgegangen werden. Internationale Erfahrungen PACT). Es liegt auf der Hand, dass eine Anpassung solcher Programme an die Patientenpräferenzen und die Gegebenheiten im deutschen Versorgungskontext für eine Übertragung und ihren breiten Einsatz unabdingbar sind. Fazit zeigen, dass sich einfache Trainingsprogramme oder Wissensvermittlungen für Hausärzte als nicht effektiv erwiesen haben und komplexe Interventionen notwendig sind. Der Beitrag gibt einen Ausblick auf international erfolgreiche Wege zur Optimierung der Behandlung depressiver alter Menschen, deren Prüfung für den deutschen Versorgungskontext noch aussteht. Die demographische Entwicklung wird neue Wege in der Versorgung depressiver alter Menschen und eine intensivierte Versorgungsforschung erzwingen. Schlüsselwörter Depression Alter Epidemiologie Krankheitskosten Versorgungsforschung Depression in old age. Challenge for aging societies Summary Depression in old age is common and has severe consequences. The paper reviews the most recent results of population-based and primary care-based studies reporting the prevalence, course and risk factors for depression in old age. Consequences of late life depression for the individual and for the society in terms of costs of illness are outlined. Studies of health service utilization and costs showed homogeneously that healthcare costs for depressive elderly individuals are one third higher compared to non-depressive individuals even though most do not receive depression-specific treatment. Late life depression is underrecognized and undertreated and data from Germany are rare. Improvement strategies, such as collaborative care models are discussed; however, adaptation and implementation to the German context are still pending. Future demographic changes will facilitate mental health service research into late life depression. Keywords Depression Old age Epidemiology Cost of illness Health service research F Depressive Störungen im Alter sind häufig und folgenschwer und nicht selten von einem ungünstigen Verlauf geprägt. Besondere Bedeutung bei alten Menschen kommt dem Umstand zu, dass über die depressionsspezifischen Beeinträchtigungen hinaus die Prognose zahlreicher somatischer Erkrankungen negativ beeinflusst wird. F Zur Versorgungsepidemiologie depressiver Störungen in Alter ist in Deutschland vergleichsweise wenig bekannt. Insgesamt ist von einer Unterversorgung auszugehen, bei der sowohl Defizite in der Erkennung als auch in der Behandlung zu Buche schlagen. Der primärärztliche Bereich spielt bei der Versorgung depressiver alter Menschen eine zentrale Rolle. International wurden kollaborative gestufte Behandlungsprogramme 3

etabliert, deren Anpassung und Übertragung auf den deutschen Versorgungskontext noch aussteht. In diesem Rahmen müssen Behandlungspfade mit allgemeinärztlichen und fachspezifischen Verantwortlichkeiten definiert werden [12]. F In Deutschland wird sich die Zahl der über 80-Jährigen bis zum Jahr 2050 auf ca. 11,6 Mio. verdreifachen. Im Zuge der demographischen Entwicklung werden depressive Störungen im Alter an Relevanz gewinnen, was vermehrte Anstrengungen zur Versorgungsforschung in diesem Bereich erfordert. Grundsätzliche Probleme der Diagnostik depressiver Störungen im höheren Alter, der Normierung und Weiterentwicklung von Instrumentarien [8] und die adäquate Berücksichtigung von in diesem Alterssegment häufigen Demenzerkrankungen stellen noch immer Herausforderungen [29] für Forschung und Praxis dar. Es wird deutlich, dass eine umfassende Diagnostik funktionelle, kognitive, ernährungsbezogene und soziale Aspekte einbeziehen muss. Korrespondenzadresse Prof. Dr. S.G. Riedel-Heller Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät, Universität Leipzig Philipp-Rosenthal-Str. 55, 04103 Leipzig Steffi.Riedel-Heller@medizin. uni-leipzig.de Danksagung. This work is published in affiliation with the Study on Late-Life Depression in Primary Care (AgeMooDe study). The study is funded by the German Federal Ministry of Education and Research (grant: 01GY1155A). Interessenkonflikt. Keine Angaben Literatur 1. Baron S, Heider D, Gensichen J et al (2011) Cost structure of a telephone-based case management in primary care depression therapy. Psychiatr Prax 38:342 344 2. Beekman ATF, Deeg DJH, Braam AW et al (1997) Consequences of major and minor depression in later life: a study of disability, well-being and service utilization. Psychol Med 27:1397 1409 3. Blake H, Mo P, Malik S, Thomas S (2009) How effective are physical activity interventions for alleviating depressive symptoms in older people? A systematic review. 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