Häusliche Gewalt - und was ist mit den Kindern? Vortrag zur Tagung des Gewaltschutzzentrums Burgenland am 22.10.2014 Dr. Sylvia Wintersperger
Wie Kinder von häuslicher Gewalt betroffen sein können Kinder als direkte Opfer von körperlichen Übergriffen in der Familie- körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch Kinder als Opfer verbaler Gewalt emotionale Gewalt durch Demütigung und Entwertung Kinder als Zeugen elterlicher Gewalt - Mitanschauen, Miterleben
Wie Kinder von häuslicher Gewalt betroffen sein können Kinder, deren kindliche Bedürfnisse nicht gesehen und nicht erfüllt werden Vernachlässigung Kinder, deren Bedürftigkeit und emotionale Abhängigkeit ausgebeutet wird emotionaler Missbrauch. Kinder zwischen den Fronten - hilflose Helfer, gefangen in (ausweglosen) Loyalitätskämpfen
Häusliche Gewalt Die besondere Gefährdung von Kindern resultiert aus der Bedürftigkeit und aus dem Angewiesen-sein von Kindern an ihre Eltern Kinder sind überlebensnotwenig von ihren Eltern abhängig Körperlich und seelisch Das Bedürfnis nach Sicherheit dominiert deshalb alles Denken und Handeln von Kindern
Überlebenswichtige Bedürfnisse und Inter-Subjektivität / Beziehung 1. Physiologische 2. 3. Bedürfnisse Bindung Exploration Sensorisch- Stimulation Sexualität 6. Beziehung 5. Selbstwirksamkeit Selbstbewusstsein 4. Vermeidung von negativen Reizen Darstellung nach Karl-Heinz Brisch
Bindungs - Explorations -Wippe Bindung Erkundung Erkundung aktiviert Bindung de-aktiviert Bindung aktiviert Erkundung de-aktiviert
Bindung und Exploration Kinder: Keine Entwicklung ohne ein Minimum an sicherer Bindung! Achtung: PÄDAGOGEN!! wenn die Angst dominiert, ist kein Lernen möglich!
Wie sichere Bindung entsteht Wenn eine oder mehrere Bindungspersonen die Versorgung der Grundbedürfnisse (des Säuglings) sichern Und zwar in einem Klima von Feinfühligkeit : die Signale des Kindes wahrnehmen Richtig/angemessen reagieren prompt reagieren je nach Alter Und Emotionaler Präsenz
Sichere Bindung und affektvolle Interaktionen sind die Grundvoraussetzungen und Basis von Körperlicher Entwicklung Emotionaler Entwicklung Kognitiver Entwicklung = Gehirnentwicklung Sozialisation / Beziehungsverhalten und Jede Mitmenschlichkeit im späteren Leben
Frühkindliche Hochstresserfahrungen Schreck Schock Alarm (ev. Schmerzzufügung) und Keine Beruhigung durch eine Bindungsperson = Vernachlässigung Frühkindliche Vernachlässigung hat gravierende Folgen für die Gehirnentwicklung
Die Familie als Ort von Traumatisierung - Familie als Minenfeld. Vernachlässigung Gewaltzufügung körperlich / emotional Zwischenmenschliche Traumatisierung durch Bindungspersonen
Angeborene Stress-systeme des Menschen Kampf-Flucht-system (Furchtsystem) springt an bei Außengefahr : kämpfen fliehen Suche nach kognitiver Problemlösung Bindungssystem (Paniksystem): In Situationen von Bedrohung/Angst Suche nach Hilfe und Sicherheit bei einer Bindungsperson - Sicherer Hafen Springt in jeder Gefahrsituation an, auch (und vor allem) in Situationen von Vernachlässigung, Alleingelassen-sein, Ausgeliefertsein und jedweden Angsterlebens 12
Die Rolle der Bindungsperson In Momenten höchster Gefahr wird unser Bindungssystem aktiviert. Bindungsschrei Wenn die einzige Person, von der Hilfe kommen könnte diejenige ist, von der Gefahr ausgeht, der/die Täterin ist Konfusion Abhängig von Reife (Kind) und Resilienz setzen unmittelbare Distress-folgen und komplexe Bewältigungsstrategien ein Dr. Sylvia Wintersperger 13
Bewältigungsstrategien Überlebensstrategien abhängig von Alter und Situation Abschalten im Hochstress ( Dissoziation, Erstarren Einfrieren ) Kampf- Fluchtreflexe Suche nach der Bindungsperson: anklammern usw. Wenn die Gefahr von der Bindungsperson ausgeht: Konfusion : gleichzeitig Schutz suchen und Fluchtreflexe..Erstarrung Strategien, um sich die Bindungsperson gut zu denken, obwohl sie böse ist: z.b. es ist meine Schuld ; ich muss was tun
Traumatisierung durch Bindungspersonen in der Kindheit hat die gravierendsten Folgen verminderte allgemeine Resilienz ( Widerstandskraft) Erhöhte Anfälligkeit für Erkrankungen Psychischer und körperlicher Art Symptome posttraumatischer Belastungssyndrome ( Intrusionen, Übererregung ) und zusätzlich Beziehungs-Symptome wie Erhöhtes Misstrauen gegenüber Menschen Unangemessenes Verhalten in Beziehungen wie z.b. Überanpassung / Abhängiges Verhalten - oder extremes Misstrauen - eventuell alternierend Negative Veränderungen des Selbstbildes = Entwicklungstraumastörung Dr. Sylvia Wintersperger
Traumatisierung durch Zeugenschaft Empathisches Miterleben elterlichen Leides kann zu zu indirekter Traumatisierung = Sekundärtraumatisierung führen Es können die gleichen Symptomen auftreten, wie sie beim unmittelbaren Gewaltopfer auftreten : z.b. Vollbild einer Posttraumatischen Belastungsstörung
ACE-Studie Vincent Felitti und Robert Anda - 1998 Adverse Childhood-Experiences Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und das Miterleben von häuslicher Gewalt als Augenzeuge sind erhebliche Risikofaktoren, die zu einer nachfolgenden Psychischen Erkrankung führen können. Adverse- Childhood Experiences ( ACE) Study von Vincent Feliti und Robert Anda - 1998 San Diego: 17 337 erwachsene Mitglieder einer großen Krankenversicherung haben sich an der Untersuchung beteiligt, die den Zusammenhang zwischen Kindheitserlebnissen und dem späteren Gesundheitszustand untersuchte
ACE Studie Felitti et.al. 1989 ACE Studie / Felitti et al., 1989 N= 17.337 Kaiser Permanente Versicherung Missbrauchskategorien wiederholter körperlicher Missbrauch wiederholter emotionaler Missbrauch sexueller Missbrauch Familiär-elterliche Belastung (Dysfunktionen) - ein Haushaltsmitglied war im Gefängnis ACE-Scores: die Mutter erfuhr körperliche Gewalt ein Familienmitglied war alkohol- oder drogenkrank ein Familienmitglied war seelisch krank oder suizidal zumindest ein Elternteil wurde in der Kindheit verloren Psychotraumatologie
Untersuchte Kategorien Depression Suizidversuche Alkoholismus Substanzmissbrauch Häusliche Gewalt Rauchen Körperliche Inaktivität Sexuell übertragbare Krankheiten Promiskuität Herzerkrankungen Lebererkrankungen Schlaganfälle Krebs Diabetes Frakturen Psychotraumatologie
Ergebnisse in einzelnen Kategorien Psychotraumatologie
Selbstmordversuche Psychotraumatologie
Drogenabusus Psychotraumatologie
Gefährdete Kindheit spätere Krankheit Gestufter Zusammenhang zwischen ACE-score und Psychopathologie Schädliche Kindheitsfaktoren (ACE) sind für 50-70% des bevölkerungsbezogenen Risikos für Depressionen, Suizidversuche, Drogenmissbrauch und Alkoholismus verantwortlich (Michaud, 2006) Psychotraumatologie
Studien zur Folgewirkung früher negativer Erfahrungen auf die Gehirnentwicklung - Teicher Frühe negative Erfahrungen verändern den Verlauf der Nervenbahnen des Gehirns, was zu Schädigungen im sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich führt In der Folge entwickeln die betroffenen Individuen gesundheitsschädigende Verhaltensweisen Teicher Psychotraumatologie
Wiederholte frühe Stresserfahrungen wirken ident Kaskadenmodell - Teicher Frühe widrige Einflüsse unterschiedlicher Art wie körperliche Misshandlung sexueller Missbrauch, Exposition gegenüber häuslicher Gewalt und verbale Misshandlung von Seiten der Eltern haben bestimmte identische Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, weil sie gleichermaßen als Stressoren wirken (Teicher) Psychotraumatologie
Kaskadenmodell früher Stresserfahrungen Die Stress-Reaktionssysteme verändern ihre Empfindlichkeit. Wenn das sich entwickelnde Gehirn hohen Mengen an Stresshormonen ausgesetzt ist, führt das zu Änderungen (Reduktion) von Schaltstellen(Synapsen) und der Entwicklung von Gehirnzellen, erhöhte Empfindlichkeit im limbischen System und Reduzierte Entwicklung des Großhirns und der Verbindung der beiden Gehirnhälften (messbare Volumenverminderungen) Psychotraumatologie
Kaskadenmodell früher Stresserfahrungen: Folgen Messbar erhöhtes Risiko in Bezug auf Depression, Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Borderline - Persönlichkeitsstörungen, dissoziale Persönlichkeitsstörungen, Drogenmissbrauch und Alkoholismus Psychotraumatologie
Die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Gehirnentwicklung - Teicher Studie über den Zusammenhang von Traumatisierung in der Kindheit und Veränderungen des Gehirns die Auswirkungen frühen Miterlebens von häuslicher Gewalt bei jungen Erwachsenen: 15 Personen untersucht verglichen mit 33 gesunden Kontrollpersonen Die Ergebnisse waren ähnlich derjenigen, welche Opfer sexueller Gewalt geworden waren Beide male war der visuelle Cortex Sehrinde - betroffen im Sinne von geringerem Volumen
Die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf die Gehirnentwicklung - Teicher Es gibt sensible Entwicklungs-Phasen des Gehirns, in denen die Exposition gegenüber schädlichen Erfahrungen mit einem maximalen Risiko für bestimmte Formen einer Psychopathologie einhergeht Es kann ein großer zeitlicher Abstand bestehen zwischen den schädigenden Erfahrungen und dem Auftreten einer Psychopathologie -
Anpassungsstrategien und Loyalitätskonflikte Kinder brauchen / suchen Bindungs-Sicherheit Tun deshalb Alles, um sich ihre Bindungspersonen als GUT zu erhalten Fakten: z.b. Mutter und Vater liegen im Kampf Kind unternimmt Alles, um die Familie zusammen zu halten: 1. Verantwortungsübernahme: bis zu es liegt an mir, dass es wieder Streit gab Motto: lieber schuldig als hilflos 2. Rollenumkehr / Parentifizierung vorzeitige Reifung Erleben der eigenen Machtlosigkeit als Versagen Depression
Anpassung und Loyalitätskonflikte Suche nach Ersatz für Sicherheitsgefühl: Stressabbau durch Substitute ( Alkohol, Drogen, Gruppenzugehörigkeit.. 3. Verbündung mit einem Elternteil - Loyalität zum Täter und Übernahme dessen Überzeugungssystem - Loyalität mit dem schwächeren Elternteil 4. emotionaler Missbrauch seitens eines Elternteils häufig verbunden mit Bestechung, Verrat und Erpressung
Bessel van der Kolk, 2007 Developmental Trauma Disorder Entwicklungstraumata inkl. Vernachlässigung und sexuelle Gewalt sind die größte gesundheitspolitische Herausforderung in den USA 80 % der Täter in der Familie Menschen mit Entwicklungstraumata machen fast die gesamte kriminelle Population der USA aus (Teplin et. Al, 2002, (Arch. Gen. Psychiatry, 2002, 59, 1133-1143), Korrelation mit Gewaltverbrechen (Minenfeld: transgenerationelle Potenzierung) 75% der Täter im Bereich von sexueller Gewalt waren selbst Opfer (Romana, de Luca, J. Fam. Violence, 97, 12, 85-98) = alarmierender und erschreckender Gewaltzyklus Psychotraumatologie