Was tun in Schule, Kita, Heim, wenn von Körperstrafen der Eltern erfahren wird? Wann ist ein behördliches Verfahren angebracht? Vortrag im Rahmen der Veranstaltung: Wenn Eltern schlagen: tolerieren oder intervenieren? Fachstelle Kinderschutz Kanton Solothurn Grenchen, 7. November 2012 Marie-Tony Walpen
Überblick 1) Klärung der eigenen Haltung gegenüber Körperstrafen 2) Motivation der Eltern, Körperstrafen einzusetzen 3) Handlungsoptionen, wenn von Körperstrafen der Eltern erfahren wird 4) Methodische Zugänge 5) Zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen und strafrechtlicher Kindesschutz 6) Unterstützung im freiwilligen Bereich oder behördliches Verfahren? Mögliche Fragen zur Entscheidfindung 7) Abschliessende Empfehlungen
Eine klar kommunizierbare Haltung ist Grundvoraussetzung, um mit Eltern über das Thema Körperstrafen - Erziehungsgewalt sprechen zu können: Körperstrafen sind als pädagogisches Mittel nicht zu rechtfertigen sie sind un-pädagogisch Körperstrafen sind als Erziehungsgewalt zu verstehen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass.
Klare Haltung, weder bagatellisieren noch bewerten. Körperstrafen sind für das Kind verletzend und entwürdigend und nicht gerechtfertigt. Wie können wir Sie unterstützen, zukünftig Ihr Kind vor Körperstrafen zu schützen?
Wie haben Sie Ihre Kinder erzogen? Nicht 100 Prozent frei von Schlägen. An den Haaren habe ich sie manchmal auch gezogen, aber ich habe sehr viel mehr geredet und erklärt, als dies meine Eltern gemacht haben. Heute spricht man mehr mit den Kindern, und diese Entwicklung finde ich positiv. Ich sage immer: Man schlägt eher sieben Teufel ins Kind hinein als einen heraus. Fredi Häusler, Jhg. 1922 In: Stapferhaus Lenzburg (Hrsg.): strafen. Ein Buch zur Strafkultur der Gegenwart. 2004
Motivation der Eltern, Körperstrafen einzusetzen Körperstrafen als bewusst eingesetztes, jedoch unpädagogisches Erziehungsmittel. Schaffung von normativer Klarheit Körperstrafen als unreflektierte und / oder unkontrollierte Reaktion auf ein Verhalten von Kindern und Jugendlichen, als ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Überforderung, als zornige Antwort der Eltern auf erlittene Frustration oder als ohnmächtige Aufrechterhaltung von Macht. Das Wissen um die gesellschaftliche Ächtung genügt hier nicht Prioritär Angebot von Hilfe und Unterstützung
Handlungsoptionen bei Kenntnis von Körperstrafen I. Ignorieren von Körperstrafen ist keine Option für eine pädagogische Fachkraft oder deren Institution. II. Sie bzw. Ihre Institution beziehen gegenüber den Eltern Stellung zur Körperstrafe, motivieren zur Annahme von Hilfe und bieten Kindern und Eltern Unterstützung an, um gemeinsam nach alternativen Handlungsoptionen zu suchen. III. Sie bzw. Ihre Institution vermittelt externe Hilfe. IV. Ihre Institution veranlasst ein behördliches Verfahren.
Methodischer Zugang bei Vermutung von Körperstrafen 1. Schriftliche Dokumentation von Beobachtungen und Informationen 2. Interne Vernetzung 3. Evtl. externe Vernetzung 4. Beteiligung der Eltern an der Klärung der Situation und an der Suche nach förderlichen Alternativen zur Körperstrafe
Schriftliche Dokumentation Unterscheiden Sie zwischen: Konkreten Beobachtungen und Festhalten von Äusserungen der Kinder oder anderer Personen; Ich nehme wahr Ihren Interpretationen und Bewertungen; Ich interpretiere diese Beobachtung wie folgt Planung und Festlegung für die weitere Vorgehensweise; Meine Vorgehensweise sieht wie folgt aus
Interne Vernetzung Vernetzen Sie sich intern mit Kolleginnen und Kollegen, die zum Kind ebenfalls Kontakt haben Legen Sie fest, wer die Federführung übernimmt Informieren Sie frühzeitig die Leitung Tragen Sie Beobachtungen und Informationen sachlich zusammen Engen Sie den Blick nicht zu frühzeitig ein Hilfreich für Teambesprechungen sind strukturierte Verfahren; sie fokussieren auf das Wesentliche und erlauben eine sachliche Einschätzung
Fragen zur Strukturierung von Teambesprechungen in Anlehnung an Modelle Kollegialer Beratung Wer übernimmt die Moderation? Wie viel Zeit wird für diese Besprechung eingesetzt? Wer verfasst ein Protokoll? Welche Anhaltspunkte liegen vor, die auf Körperstrafen hindeuten? Welche Ressourcen sind bei Eltern und sozialem Umfeld vorhanden, um die Kinder vor Köperstrafen bzw. Erziehungsgewalt zu schützen? Perspektivenwechsel: Legen Sie eine Person fest, die die Perspektive des Kindes und der Eltern einnimmt und was aus dieser Perspektive zu klären wäre.
Fortsetzung Strukturierung von Teambesprechungen Welche Hilfen können angeboten werden, von Ihnen und Ihrer Institution, von anderen Fachstellen? Was soll bis wann passieren? Wie wird evaluiert, ob sich die Eltern an die vereinbarten Schritte halten? Wie wird vorgegangen, wenn die Eltern die vereinbarten Schritte nicht einhalten? Wer führt das Elterngespräch? Wer nimmt allenfalls auch noch teil? Wer lädt die Eltern zu einem Gespräch ein?
Methodischer Zugang bei Kenntnis von Körperstrafen 1. Leitung informieren 2. Klärung, wer das Gespräch mit den Eltern sucht 3. Evtl. externe Vernetzung 4. Beteiligung der Eltern an der Klärung der Situation und an der Suche nach förderlichen Alternativen zur Körperstrafe
Wann ist ein behördliches Verfahren angebracht? I. Wenn durch Körperstrafen eine erhebliche Kindeswohlgefährdung besteht und die Eltern im Rahmen des freiwilligen Kindesschutzes das Kindeswohl nicht sichern können. Zum freiwilligen Kindesschutz zählt auch Ihre Unterstützung oder diejenige von Fachstellen. II. Wenn ein strafrechtlich relevanter Tatbestand vorliegt.
Der Strafrechtliche Kindesschutz Keine normative Klarheit gegenüber Körperstrafen im Elternhaus. Erziehungsgewalt kann strafrechtlich relevant werden. Das Strafrecht schützt Unmündige in ihrer besonderen Verletzlichkeit. Relevant bezüglich Erziehungsgewalt sind insbesondere folgende Artikel: Schutz vor Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 StGB) Gefährdung des Lebens und der Gesundheit (Art. 127 StGB) Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht (Art. 219 StGB) Rechtsprechung: BGE 129 IV 216 aus dem Jahre 2003 Der Täter, der die Kinder seiner Freundin im Zeitraum von drei Jahren etwa 10 Mal schlägt und sie regelmässig an den Ohren zieht, begeht wiederholt Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 StGB und überschreitet damit die Grenze eines allfälligen Züchtigungsrechtes.
Der strafrechtliche und zivilrechtliche Kindesschutz Strafrechtliche Massnahmen kommen grundsätzlich vor zivilrechtlichen Massnahmen zum Zug. In der Regel steht jedoch in einem zivilrechtlichen Kindesschutzverfahren eine Strafanzeige nicht im Vordergrund. Mitteilungspflicht der strafrechtlichen Behörden gegenüber den vormundschaftlichen Behörden, wenn Massnahmen im Rahmen des zivilrechtlichen Kindesschutzes notwendig erscheinen. Jede zur Wahrung des Amts- und Berufsgeheimnisses verpflichtete Person hat das Recht, den vormundschaftlichen Behörden Meldung zu machen, wenn ein Kind Opfer einer Straftat geworden ist.
Der zivilrechtliche Kindesschutz Der zivilrechtliche Kindesschutz kommt dann und nur dann zum Zuge, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine erhebliche Kindeswohlgefährdung vorliegen und die Eltern nicht von sich aus Abhilfe schaffen, zum Beispiel im Rahmen einer freiwilligen Beratung. Prinzipien des zivilrechtlichen Kindesschutzes: Abwendung einer erheblichen Gefährdung des Kindeswohls; Er kommt unabhängig vom Verschulden der Eltern zum Zuge; Er kommt nur dort zum Zuge, wo die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe sorgen (Subsidiaritätsprinzip); Er ergänzt die elterlichen Möglichkeiten (Komplementaritätsprinzip) Der Eingriff ist nicht stärker als notwendig, um eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden (Prinzip der Verhältnismässigkeit).
Unterstützung im freiwilligen Bereich oder behördliches Verfahren? Mögliche Anhaltspunkte für eine Entscheidfindung Welche Informationen liegen konkret vor? Wie hoch schätze ich das Risiko einer Kindeswohlgefährdung ein? Benötige ich bei der Einschätzung des Risikos Hilfe? Problemakzeptanz der Familie? Problemkongruenz? Hilfeakzeptanz und Kooperationsbereitschaft der Familie? Umsetzungsfähigkeiten der Familie? Eigene Ressourcen als Fachkraft oder Institution? Eigene Kompetenzen?
Externe Hilfe ist angebracht Eigene Hilfemöglichkeiten als pädagogische Fachkraft oder als Institution reichen nicht aus Eltern sind bereit und in der Lage, mit einer geeigneten Fachstelle den Schutz der Kinder wieder verbindlich herzustellen.
Eine Gefährdungsmeldung ist angebracht bei vermuteter, jedoch nicht geklärter Kindeswohlgefährdung wenn Hilfeakzeptanz und Kooperationsbereitschaft der Familie nicht hergestellt werden können Bei akuter Kindeswohlgefährdung Wenn bei Eltern zwar die Kooperationsbereitschaft besteht, sie jedoch nicht über genügend Ressourcen zur Umsetzung verfügen.
Eine Strafanzeige ist angebracht Bei einem offensichtlichen Straftatbestand; Im Zweifelsfall ist eher ein zivilrechtliches Verfahren anzustreben.
Abschliessende Empfehlungen I Zeigen Sie sich offen gegenüber der Situation von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern. Bleiben Sie bei Kenntnis von Erziehungsgewalt sachlich, legen Sie klar Ihre Haltung dar. Weder bagatellisieren noch bewerten! Unterschätzen Sie nicht Ihre eigenen Unterstützungs- und Einflussmöglichkeiten! Gesprächsbereitschaft und Hilfeangebot kann bereits viel bewirken. Unterschätzen Sie nicht Ihre Bedeutung als pädagogische Fachkraft für Kinder und Jugendliche. Sie sind oft Vertrauenspersonen und bieten alternative Modelle von Erziehungsarbeit.
Abschliessende Empfehlungen II Schöpfen Sie die Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen des freiwilligen Kindesschutzes aus und informieren Sie die Eltern offen, wann Sie ein behördliches Verfahren in Gang bringen. Kindesschutz ist Teamarbeit!