Aktuelle Entwicklungen: Produktsicherheit und Stand der Technik

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Transkript:

Aktuelle Entwicklungen: Produktsicherheit und Stand der Technik Dr. Nicole Burkardt, Rechtsanwältin, Robert Bosch GmbH 1

AGENDA I. Einleitung II. Stand der Technik: Anforderungen an die Produktsicherheit III. Das Airbagurteil des BGH und weitere Rechtsprechung IV. Auswirkungen in der Praxis 2

Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG 15.12.1989) 3 Absatz 1: Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände [ ] berechtigerweise erwartet werden kann. 1 Absatz 2 Nr. 5 Die Ersatzpflicht des Herstellers ist ausgeschlossen, wenn der Fehler nach dem Stand von Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte. 3

AGENDA I. Einleitung II. Stand der Technik: Abgrenzung der Begriffe III. Das Airbagurteil des BGH und weitere Rechtsprechung IV. Auswirkungen in der Praxis 4

Stand der Technik: Begrifflichkeiten Allgemein anerkannte Regeln der Technik Bedeutung insbesondere für Gewährleistungsansprüche Stand der Technik Kein einheitliches Begriffsverständnis Verschiedene Legaldefinitionen vor allem in Umweltgesetzen Stand der Wissenschaft und Technik Meint nicht nur die etablierten Lösungen Betrachtung von über die Branchenüblichkeit hinausgehenden Erkenntnissen 5

AGENDA I. Einleitung II. Stand der Technik: Anforderungen an die Produktsicherheit III. Das sog. Airbagurteil des BGH und weitere Rechtsprechung IV. Auswirkungen in der Praxis 6

Entscheidungssatz BGH im sog. Airbagurteil vom 16.6.2009 Ein Konstruktionsfehler liegt vor, wenn das Produkt schon seiner Konzeption nach einem Sicherheitsstandard nicht entspricht, der nach dem im Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts vorhandenen neuesten Stand der Wissenschaft und Technik und nicht nur nach der Branchenüblichkeit konstruktiv? möglich ist. Die Frage, ob eine Sicherungsmaßnahme nach objektiven Maßstäben zumutbar ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls beurteilen. Angesichts der mit Fehlauslösungen von Airbags verbundenen Gefahren für Leib und Leben der Nutzer und Dritter haben Automobilhersteller das Risiko, dass es in den von ihnen produzierten Fahrzeugen zu Fehlfunktionen kommt, in den Grenzen des technisch Möglichen und wirtschaftlich Zumutbaren mittels konstruktiver Maßnahmen auszuschalten. 7

Weitere Schlüsselsätze BGH, Urt. V. 16.6.2009 VI ZR 107/08 Die Möglichkeit der Gefahrvermeidung ist gegeben, wenn nach gesichertem Fachwissen der einschlägigen Fachkreise praktisch einsatzfähig Lösungen zur Verfügung stehen. Hiervon kann grundsätzlich erst dann ausgegangen werden, wenn eine sicherheitstechnisch überlegene Alternativkonstruktion zum Serieneinsatz reif ist. Serienreife = Stand der Wissenschaft? 8

Weitere Schlüsselsätze BGH, Urt. V. 16.6.2009 VI ZR 107/08 Sind bestimmte mit der Produktnutzung einhergehende Risiken nach dem maßgeblichen Stand von Wissenschaft und Technik nicht zu vermeiden, ist unter Abwägung von Art und Umfang der Risiken, der Wahrscheinlichkeit ihrer Verwirklichung und des mit dem Produkt verbundenen Nutzens zu prüfen, ob das gefahrträchtige Produkt überhaupt in den Verkehr gebracht werden darf. Wie macht man das? Wie dokumentiert man das? 9

Weitere Rechtsprechung OLG Hamm 21.10.2010, 21 U 14/08 (Brennpaste) Die Einhaltung einer DIN-Norm genügt nicht als Erfüllung der Sorgfaltspflicht des Herstellers, wenn die technische Entwicklung oder wissenschaftliche Erkenntnisse über den Regelungsgehalt der Norm hinausgegangen sind oder wenn sich bei der Benutzung des Produkts Gefahren gezeigt haben, die die Norm noch nicht berücksichtigt. Die Sicherheitsanforderungen an eine Konstruktion werden durch das gefährdete Rechtsgut und die Größe der von dem Produkt ausgehenden Gefahr bestimmt. Maßgebend sind die Erkenntnisse, die zu dem Zeitpunkt bestanden, zu dem noch eine Abwendung des Schadens möglich war. 10

Weitere Rechtsprechung LG Stuttgart, 10.04.2012 (Klebemaschine) Das Gericht hat den Hersteller zum Ersatz der von BG verauslagten Behandlungskosten und Verletztengeld verurteilt. Die Fenstereinklebemaschine sei mit einem Fehler i.s.d. 3 ProdHaftG behaftet gewesen, wodurch die Gesundheit des Z beschädigt worden sei. Der Unfall des Z sei in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die von der Bekl. hergestellte Maschine konstruktionsbedingt gegen gesetzliche Sicherheitsbedingungen verstoßen habe. Das Gericht sah unter anderem in dem Fehlen einer Risikobeurteilung nach der Maschinen-Richtlinie einen Konstruktionsmangel. Dies führt nach Ansicht des Gerichts dazu, dass sich die Beweislast zu Gunsten der Klägerin dahingehend umkehrt, dass die Beklagte nachzuweisen hat, dass ihr Konstruktionsfehler für das Unfallgeschehen nicht ursächlich war 11

Weitere Rechtsprechung OLG Zweibrücken, Urt. v. 30.01.2014 4 U 66/13 (Brustimplantat) Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte unter dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung eines Vertrages mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter kommen nicht in Betracht, da die getroffene Zertifizierungsvereinbarung keine Schutzwirkungen zugunsten der Klägerin entfaltete. Eine (deliktische) Haftung wegen Unterlassen setzt eine besondere rechtliche Verpflichtung zum Handeln voraus, vermöge derer der Anspruchsgegner rechtlich dafür einzustehen hat, dass der schädliche Erfolg nicht eintritt (Garantenstellung). Da der Beklagten nicht die Verpflichtung oblag, die von der Fa. PIP hergestellten Brustimplantate auf deren konforme Befüllung zu überwachen, kann aus ihrer Zertifizierung des Qualitätsmanagements des Unternehmens keine Garantenstellung gegenüber den am Ende der Absatzkette stehenden Personen oder Einrichtungen für die Produktqualität hergeleitet werden. 12

AGENDA I. Einleitung II. Stand der Technik: Anforderungen an die Produktsicherheit III. Das Airbagurteil des BGH und weitere Rechtsprechung IV. Auswirkungen in der Praxis 13

Stand der Technik: Mindeststandard Voraussetzungen: Naturwissenschaftlich abgesichert Zur Serie freigegeben Im Betrieb bewährt Einhaltung von Gesetzen und sonstigen verbindlichen Regelungen Normen (z.b. DIN, ISO, SAE) und branchenspezifische Regelwerke (z.b. VDA, VDI, VDE) gelten als technische Empfehlung beschreiben die jeweils einzuhaltenden Minimalanforderungen Für viele Produkte gehen die Anforderungen darüber hinaus! 14

Stand der Technik: Ermittlung Feststellung von anwendbaren Gesetzen, Normen und Regelwerken Klärung der branchenüblichen Sicherheitsanforderungen/-konzepte Umsetzung durch Wettbewerber Marktanalysen Produktbeobachtung Wissenschaftliche Erkenntnisse sind insbesondere bei neuen oder innovativen Produkten zu berücksichtigen Ermittlung technisch möglicher Sicherheitsvorkehrungen Betrachtung unvermeidbarer Restrisiken 15

Erwartbare Sicherheit Grundsatz: Es müssen diejenigen Maßnahmen getroffen werden, die im konkreten Fall zur Vermeidung bzw. Beseitigung einer Gefahr sowohl erforderlich als auch zumutbar sind Entscheidend ist die erwartbare Sicherheit: Erwartung des bestimmungsgemäßen Nutzers Berücksichtigung der Eigenverantwortung des Einzelnen Abwägung von Nutzen und Gefahren des Produkts Zumutbarkeit des Sicherheitsaufwands Ggfls. Warnung vor Risiken, sofern nicht konstruktiv vermeidbar Annahmen sind zu dokumentieren 16

Wording und Dokumentation Bei Produkthaftungsfällen kommt der Dokumentation oft die entscheidende Bedeutung zu. Sowohl das Verhalten vor dem Schadensfall Einhaltung Sorgfaltspflichten, z.b. durch Ermittlung/Einhaltung des Standes der Technik als auch nach dem Schadensfall interne und externe Kommunikation (z.b. Information von Kunden/Behörden/Öffentlichkeit) kann für die Bewertung durch eine externe Stelle (Gericht, Versicherung, Gutachter) ausschlaggebend sein. 17

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 18