Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, München Annette Holzwarth Fortbildung für Schulpsychologen/innen, München - Dezember 2010
Gliederung Definition und Klassifikation Früherkennung Ätiologie Diagnostik Komorbidität Therapie 2
Definition Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion Beeinträchtigungen in der wechselseitigen Kommunikation Repetitive, restriktive und stereotype Verhaltensmuster 3
Klassifikation Leo Kanner Hans Asperger
Klassifikation von autistischen Störungen nach ICD 10 F 84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen F 84.0 Frühkindlicher Autismus F 84.1 Atypischer Autismus F 84.2 Rett Syndrom F 84.3 sonstige desintegrative Störung des Kindesalters F84.4 überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien F 84.5 Asperger Syndrom 5
Frühkindlicher Autismus (F 84.0) Manifestation vor dem 3. Lebensjahr in mindestens einem Bereich: rezeptiver oder expressiver Sprache selektive soziale Zuwendung oder beeinträchtigte reziproke soziale Interaktion Funktionales oder symbolisches Spiel
Frühkindlicher Autismus soziale Interaktion Unfähigkeit Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktion zu verwenden Schwierigkeiten in der Beziehung zu Gleichaltrigen Mangelnde sozio-emotionale Gegenseitigkeit Mangel spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen
Frühkindlicher Autismus Kommunikation Störung der Sprachentwicklung Störung der wechselseitigen Kommunikation Stereotype und repetitive Verwendung von Sprache Mangel an spontanen Als-ob-Spielen
Frühkindlicher Autismus repetitive, stereotype Verhaltensweisen Stereotype und begrenzte Interessen Rituale, Widerstand gegen Veränderung Stereotype und repetitive motorische Manierismen Sensorische Interessen
Frühkindlicher Autismus Das klinische Bild kann nicht erklärt werden durch eine: Andere tiefgreifende Entwicklungsstörung Rezeptive Sprachstörung Bindungsstörung Intelligenzminderung mit einer emotionalen oder Verhaltensstörung Schizophrenie
Asperger Syndrom (F84.5) Kein Sprachentwicklungsrückstand Altersentsprechende kognitive Entwicklung Altersgemäße Neugierde und lebenspraktische Fähigkeiten in den ersten 3 Lbj. Häufig: verzögerte motorische Entwicklung
Asperger Syndrom (F 84.5) Qualitative Beeinträchtigung der gegenseitigen sozialen Interaktion Ungewöhnlich intensives umschriebenes Interesse oder repetitive und stereotype Verhaltensmuster
Frühkindlicher Autismus - High-Functioning Durchschnittliche kognitive Fähigkeiten Unterschied zum Asperger Syndrom: Sprachentwicklungsstörung vor 3. Lbj. vorhanden
Früherkennung ASS Auffälligkeiten im ersten Lebensjahr unspezifisch - Kaum Blickkontakt, zufrieden wenn allein - Schreiverhalten kein Signalcharakter - Kaum reaktives Lächeln - Kein Brabbeln - Reizbar - Gestörtes Schlaf-Essverhalten - Gleichgültig gegenüber körperlicher Zuwendung Noterdaeme, Amorosa, Früherkennung autistischer Störungen, Monatsschrift Kinderheilkunde 150, 2002
Früherkennung F 84.0 Auffälligkeiten im Alter von 12-36 Monaten - Gleichgültig gegenüber sozialen Kontakten, keine gelenkte Aufmerksamkeit - Führt Erwachsene an der Hand um zu kommunizieren - Auffälliges Spielverhalten - Sprachprobleme, Echolalie, Ich-Du-Umkehr, keine Kompensationsmechanismen - Eigenartige sensorische Stimulation - Bewegungsstereotypien
Geteilte Aufmerksamkeit Geteilte Aufmerksamkeit ist der Versuch, die Aufmerksamkeit Dritter auf Objekte oder auf bestimmte Situationen zu lenken und zwar durch - Deuten - Zeigen - Blickkontakt Entwicklung zwischen 9 und 14 Monaten
Frühe Symptome Stereotypien motorische Stereotypien = Körperschaukeln = Finger-/ Handwedeln eigenartige sensorische Stimulationen/ Interessen = akustische Reize (Musik, Geräusche) = visuelle Reize (Licht, Muster, etc..) = haptische Reize (bestimmte Speisen,...) Spezialinteressen/stereotypes Spiel
Früherkennung Asperger Syndrom Auffälligkeiten im 3. und 4. Lebensjahr - Normale Sprachentwicklung, oft sogar früh aber - Pedantische Sprache - Auffällige Intonation - Wenig Interesse an Kommunikation - Integrationsschwierigkeiten in Kindergruppen (kein Interesse an anderen Kindern, kein Einfühlungsvermögen, oft distanzlos, rücksichtslos, auf sich bezogen) - Spezialinteresse öfter vorhanden als motorische Stereotypien - Spiel wenig variabel - Zwanghafte Verhaltenweisen - Schwierigkeiten in der motorischen Entwicklung
Epidemiologie ASS: 0,3% - 0,9% Geschlechterverhältnis: 4:1 (Jungen:Mädchen) (Schiefe des Verhältnisses steigt in Abhängigkeit vom Intelligenzniveau) Autismus : Asperger Syndrom 4:1 19
Ätiologie und Pathogenese Kein schlüssiges Modell zu Ätiologie und Genese Hirnorganisch verursacht Umwelteinflüsse für den Verlauf von Bedeutung Remschmidt H. in Herpertz-Dahlmann et al, Entwicklungspsychiatrie, Schattauer, 2008
Ätiologie und Pathogenese Genetische Faktoren Familien-, Zwillings-, und Adoptionsstudien Konkordanzrate für monozygote Zwillinge 36-96 %, für dizygote Zwillinge 0-23 % Erkrankungsrisiko für Geschwisterkinder erhöht Chromosomenanomalien Molekulargenetische Untersuchungen 21
Ätiologie und Pathogenese Assoziierte körperliche Erkrankungen Eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen ist überzufällig häufig mit Autismus assoziiert, z.b. - Epilepsie - Fragiles X-Syndrom - tuberöse Hirnsklerose - u.a.
Ätiologie und Pathogenese Hirnstrukturelle Besonderheiten Biochemische Besonderheiten Veränderungen bei verschiedenen Neurotransmittern Erhöhung bestimmter Endorphine
Ätiologie und Pathogenese Störung der kognitiven Prozesse Exekutivfunktionen Theory of Mind Zentrale Kohärenz
Störung der kognitiven Prozesse Exekutive Funktionen Schwierigkeiten bei Planungsprozessen Schwierigkeiten im zeitlichen Strukturieren Flexibilitätseinschränkung Störung der Frontalhirnfunktion Bsp. Turm von Hanoi 25
Turm von Hanoi
Störung der kognitiven Prozesse Theory of Mind Fähigkeit psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderen Personen und sich selbst zuzuschreiben: also eine Theorie darüber zu entwickeln, was ein anderer Mensch denkt, fühlt, beabsichtigt.
Theory of Mind Besonderheiten bei Menschen mit ASS: Schwierigkeiten, die Welt aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen Verständnisschwäche für soziale Situationen Verständnisschwäche für Metaphorik (Ironie, Witz) Schwierigkeiten mit So-tun-als-ob-Spiel Störung im Mentalisierungssystem (Temporalregion, Parietalregion, Amygdala) 28
Sally-Anne-Test
Störung der kognitiven Prozesse Zentrale Kohärenz ist die natürliche Tendenz, vorhandene Stimuli global und im Kontext zu verarbeiten, wobei Informationen zusammengefügt werden, um die höherwertige Bedeutung zu erfassen. 30
Zentrale Kohärenz Besonderheiten bei Menschen mit ASS: Zentrale Kohärenz gering ausgeprägt Detailorientierung Störung der ganzheitlichen Erfassung von Objekten Bruchstückhafte Informationsverarbeitung Kontexterfassungsschwäche Sinnerfassungsschwäche
Störung der kognitiven Prozesse Aufmerksamkeitsprobleme: Aufmerksamkeitswechsel von einem Objekt/Detail auf ein anderes Überfokussierte Aufmerksamkeit auf Details Unterschied zu ADHS: Rascher Aufmerksamkeitswechsel auf andere Situationen oder Objekte Schwierigkeiten in der Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit
Allgemeine Diagnostik Anamnese Beobachtung Fragebogen (CBCL, FSK etc.) Testpsychologische Diagnostik Begabung Teilleistungsstörungen Emotionalität evtl. Aufmerksamkeitsdiagnostik (CPT, TAP) Somatische Diagnostik EEG Körperliche Untersuchung Ausschluß Hör- und Sehminderung Sprachuntersuchung 33
Spezifische Diagnostik Fragebögen (MBAS, SRS, FSK...) ADI-R (Autism Diagnostic Interview Revised) ADOS-G (Autism Diagnostic Observation Schedule) Spez. neuropsycholog. Diagnostik
ADOS-G Autism Diagnostic Observation Schedule halbstandardisierte Beobachtung sozial-kommunikative Fähigkeiten vier Module Modul I Modul II vorsprachlich Dreiwortsätze, keine flüssige Sprache Modul III fließend sprechend (Kind) Modul IV fließend sprechend (Erwachsener)
Zusatzsymptome Schlafstörung Esstörung (Auto)- Aggressivität motorische Unruhe Interaktion Kommunikation Repetitives Verhalten Sprachstörung Geistige Behinderung Zwänge Angst Depressionen Epilepsie
ADHS Differentialdiagnosen Sozialverhaltensstörung Bindungsstörung Emotionale Störung des Kindesalters mit sozialer Ängstlichkeit Sprachstörungen Intelligenzminderung u.a. 38
Behandlungsplanung Kind Individuelles Therapieprogramm Gruppe/ Einzeltherapie (Verhaltenstherapie) Aufbau von lebenspraktischen Fertigkeiten Aufbau von Kommunikation, Sprache, Spiel Verhaltens-/ Sozialtraining Evtl. Pharmakotherapie (Zusatzsymptome) Eltern Beratung, Anleitung durch Fachkräfte Elterngruppen, Selbsthilfeverband
Behandlungsplanung Umfeld Info über das Störungsbild, Komorbiditäten Anleitung/ Strukturierung des Alltages Mobile Sonderpädagogische Dienste Vernetzung der Helferdienste
Applied behavior analysis (ABA) - Dr. Ivar Lovaas, Förderprogramme in den 60-iger Jahren - Angewandte Verhaltensanalyse - 1. Analyse der Verhaltensbedingungen - 2. Beschreibung des Verhaltens - 3. Veränderung des Verhaltens durch Modifikation - 4. Steigerung des erwünschten Verhaltens
TEACCH Treatment & Education of Autistic and Communication handicapped children - entwickelt von Prof.Schopler in den USA - basiert auf Strukturierung und Visualisierung
Aus Anne Häusler, Der TEACCH Ansatz
Weitere Verfahren Sprach- und Kommunikationstherapie Montessoritherapie Ergotherapie Physiotherapie Soziale Kompetenzgruppen
Medikamentöse Behandlung - Es gibt keine Medikation, mit der man autismusspezifische Verhaltensweisen behandeln kann - Medikamentöse Behandlung wird evtl. erforderlich bei schweren komorbiden Problemen - Aggressives od. autoaggressives Veralten - Hyperaktivität - Angstzustände - Depression - Schlafstörungen - Etc. 45
Verlauf und Prognose (HFA/Asperger) Kindergarten- /Grundschulalter: Kontaktschwierigkeiten zu Gleichaltrigen Schulalter: häufige Ausgrenzung und Hänseleien Pubertät: häufig deutliche Zunahme der Problematik Erwachsenenalter: Tendenz zur Verbesserung der autismusspezifischen Symptomatik
Verlauf und Prognose (HFA/Asperger) Prognose abhängig von Schwere der Symptomatik und komorbiden Erkrankungen Mehrheit der Personen benötigt Unterstützung bei der Organisation der Lebensführung Prognose weit schlechter als bei Kinder mit anderen psychiatrischen Störungen (z.b. SSV) Erhebliche Diskrepanz zwischen sozialer Beeinträchtigung und kognitiven Fähigkeiten
Verlauf und Prognose Autistische Störungen sind lebenslange Störungen
Vielen Dank! 49