Substitution in Haft: Zeit zum Handeln! Evidenz und Praxisbeispiele aus der Schweiz

Ähnliche Dokumente
Gewalt in Haft Praxisbeispiel Genf, Schweiz. PD Dr. med. Hans Wolff Gefängnismedizinische Abteilung Universitätskliniken Genf

Substitution in den Haftanstalten der Schweiz

Spritzenvergabe in der Schweiz Beispiel Genf

Geschichtliche Entwicklung und aktuelle Situation in der Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger? Thomas Lüddeckens

Hepatitis C und Haft epidemiologische und therapeutische Implikationen

Substitution und Hepatitis C Behandlung. Von der Kontraindikation zur Normalität? Impulsreferat

Hepatitis C Therapie bei Suchtpatienten. Marc Isler, Arzt Zokl1 und Checkpoint Zürich ARUD Zürich

5. Internationaler Fachtag Hepatitis C

Substitution im Maßregelvollzug bzw. in der forensischen Nachsorge

Auswirkung von Drogengebrauch, Opiatsubstitution und Genußmitteln auf den Verlauf der HCV-Infektion und deren Therapie

6. Fachtag Hepatitis C und Drogengebrauch. Berlin Oktober 2014 Neue Behandlungs- und Präventionsansätze

Tabelle A1: Baseline Soziodemografische Merkmale der eligiblen Ausgangsstichprobe und der Auswertungsgruppen für t 3

Übertragbare Infektionskrankheiten bei IVDU Theorie und etwas Praxis...

Die Epidemiologie von HIV in der

Arztcode: Patienten-Initialen: Geschlecht: m w

Illegale Suchtmittel

HIV/AIDS Prävention bei i.v. - DrogengebraucherInnen

Ausgewählte Ergebnisse der DRUCK-Studie für die Praxis

5. Internationaler Fachtag Hepatitis C Wien, Praktische Erfahrungen aus einer Schwerpunktpraxis für Drogenabhängige

A Trip To Asia C. Jellinek A Trip To Asia

Clean is money. der Händedesinfektion. Menschen machen Fehler. Entwicklung der Lebenserwartung. Errare human est Irren ist Menschlich

Tuberkulose im Justizvollzug

Diabetes mellitus The silent killer. Peter Diem Universitätspoliklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung Inselspital - Bern

Klinik für Neonatologie Sonja Mücke 19. Januar 2016 U N I V E R S I T Ä T S M E D I Z I N B E R L I N

Rights here right now!

DER UNGELENKTE PATIENT

Kostenreduktion durch Prävention?

Schwerpunktpraxis Freiburg/Lörrach

Epidemiologie, Übertragung und natürlicher Verlauf der HCV-Infektion

Zur Epidemiologie der Opiatund Drogenabhängigkeit in Deutschland

Älterwerden mit HIV: Massstab für den Erfolg in der Aids-Arbeit. Christoforos Mallouris Community Mobilization Adviser UNAIDS, Genf

Rückblick & Ausblick Die Kampagne hepatitis c. Peter Menzi, Infodrog, Bern

Eine Sekundärdatenanalyse der Apothekenabgabedaten an deutsche Haftanstalten. 2. Gefängnismedizintage 3. und 4. Dezember 2015, Frankfurt/Main

Ist Harm Reduction nur bei bestimmten Drogen sinnvoll?

Zur Epidemiologie der Opiatund Drogenabhängigkeit in Deutschland

COPD - Outcome IPS Symposium St. Gallen, 12. Januar 2016

Survey on Health, Ageing and Retirement in Europe SHARE: Konzeption und ausgewählte Befunde

Stratégie nationale Addictions

12. Substitutionsforum. Plattform für Drogentherapie Österreichische Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit

Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene. CareerStart

Forum 4. Heidelberger Suchtkongress Stationäre Rehabilitation und Substitution Erste Ergebnisse

Drogenkonsum und Prävention

Neue Zielwerte in der Therapie der Hypertonie

(1) Alice Salomon Hochschule Berlin (2) Freie Universität Berlin

Seminar Suchtmedizin 2016/17. Christian Lanz, Kantonsarzt

Psychosoziale Beratung in der Suchttherapie Welche Zukunft hat die Soziale Arbeit?

Frühintervention bei Drogenkonsumenten

Opiatsubstitution. Sabine Reimann Klinik für Suchtmedizin Calw

50. Hygienekreis Multiresistent Multipräsent

Hepatitis C und Drogengebrauch - optimierte Patientenbetreuung durch Netzwerke in Österreich

Update Hepatitis B und C

Aktivität am µ Rezeptor. Ziele und Rationale für eine spezifische Pharmakotherapie von Abhängigen

Kosteneffektivität der HIV- Präexpositionsprophylaxe in Deutschland

MIT HIV KANN MAN FLIEGEN.

Merkblatt. zur Behandlung Opiatabhängiger mit Methadon im Kanton Aargau

Rückendeckung für f r Lesotho Internationale Partnerschaft für f die globale Behandlung von HIV/AIDS

Der Healthy Migrant Effect im Alter? Physische und mentale Gesundheit von Migranten in 11 europäischen Ländern.

Herzzentrum Klinik III für Innere Medizin. Diabetestherapie bei KHK: Überhaupt noch indiziert? Evren Çağlayan

Finanzierung und Qualität im Gesundheitswesen zwei Seiten der gleichen Medaille?

Vaccines: A success story with failures. Aims of vaccination

Drogen: Aktuelle Entwicklungen in Europa

Dokumentation 5. Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft

Darmkrebs Prävention

Wohnungslos und krank in Hamburg

Infektionsgefährdung und Akzeptanz von Arbeitsschutzmaßnahmen bei Beschäftigten im Gesundheitswesen. Sabine Wicker 23. April 2013

Synkope ambulant betreut

Werkstattbericht Nr. 10/2001. Werkstattbericht. Werkstattbericht

Neues in der Diagnose der Tuberkulose

Argumente gegen die Substitution

1. Opiatabhängigkeit seit Beginn der Substitutions-

Behandlung der arteriellen Hypertonie Perspektiven und Pitfalls

Einstellungen zu Gesundheitssystemen und Ungleichheiten in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im internationalen Vergleich

Hygiene in Europa - Vergleich

Patientenwünsche zum Lebensende

2013 Dr. Dietmar Bayer 1

Therapie mit Opiaten beim Rückenschmerz Sinn oder Unsinn? Adrian Forster, Klinik St. Katharinental, Diessenhofen

LAVRA-Clinic. HIVCENTER Dr. Pavel Khaykin, Dr. Tessa Lennemann, Sebastian Kessler

Substitution Rehabilitation. Anspruch? Widerspruch?

Prävention als Prävention

Unterschiede in der Therapie im Lebensverlauf: Diabetes mellitus

Dokumentation der Substitutionsbehandlung nach 7 der Richtlinien zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger

Finanzierung und Qualität im Gesundheitswesen zwei Seiten der gleichen Medaille?

Wie ist die Datenlage zur Früherkennung des Prostatakarzinoms

TB 2015: Was ist wichtig für Europa

COPD: Rehabilitation und disease management

Übergänge. Entzug - Entwöhnung

Entwicklung der Säuglingssterblichkeit

Was kann die Substitutionsbehandlung? Möglichkeiten und Grenzen

Vom Genuss zur Abhängigkeit Wenn der Alkohol zum Problem wird

Public Health in Deutschland internationale Bezüge: Fokus auf Gesundheitssysteme und ihr Einfluss auf Bevölkerungsgesundheit

Umgang mit Risiken: Wie verstehen und kommunizieren Ärzte Gesundheitsrisiken

Opioid therapy research issues. Opioid maintenance therapy research issues. Prof. Dr. med. Michael Soyka Ärztlicher Direktor

Back to Normal Ist das Soziale messbar?

Diabetes mellitus und kardiovaskuläres Risiko: Welches ist die optimale Therapie?

Transkript:

Substitution in Haft: Zeit zum Handeln! Evidenz und Praxisbeispiele aus der Schweiz Dr. med. Hans Wolff Unité de médécine pénitentiaire Department of Primary Care and Community Medicine Hans.Wolff@hcuge.ch Berlin, 2010

Agenda Substanzgebrauch im Gefängnis Opiat Substitution: Evidenz und Realität Praxisbeispiel Genf: U-Haft Schlussfolgerungen 2

Proportion of Illicit Drug Users in EU prisons (EMCDDA, 2002) 120 100 high estimate low estimate 80 60 40 20 0 UK POR FIN SWE AUS IT DK GER IRL BE LUX FR NL SP GR 3

England and Wales Representative sample from 8/135 prisons Ever injected n (%) First injected in prison (injectors) n (%) Ever injected in prison (injectors) n (%) Shared in prison (prison injectors) n (%) Male n = 2769 Female n = 407 Young offender n = 714 660 (24%) 36 (6%) 195 (31%) 147 (75%) 117 (29%) 3 (3%) 29 (26%) 20 (69%) 30 (4%) 1 (3%) 6 (20%) 3(50%) Weild et al. (2000) Prevalence of HIV, hepatitis B, and hepatitis C antibodies in prisoners in England and Wales: a national survey Communicable Disease and Public Health. 2: 121-126.

Jürgens, Lancet Inf Dis 2009

Hepatitis C Prävalenz (Allgemeinbevölkerung): 3% weltweit 0.5-1% Schweiz/EU EU: 60-90% der IVDU sind HCV+ Aussicht 2015-2020: 70-90% Morbidität und Mortalität Prävalenz Gefängnis: 12-31% (US) 6,9-33% (EU) Genf: 6.9% IV Drug Users: 78% Ost-Europäer: 17% 6 USA: 29-43% aller Personen mit HCV sind mind. 1x/Jahr im Gefängnis! www.hepch.ch Sagmeister Eur J Gastr & Hep 2002 Tan Hepatology 2008 Spaulding Ann Intern med 2006

Agenda Substanzgebrauch im Gefängnis Opiat Substitution: Evidenz und Realität Praxisbeispiel Genf: U-Haft Schlussfolgerungen 7

Effizienz Opiatsubstitution Opiat-Substitutions-Therapie (OST) ermöglicht: 1. Überleben 2. Abstinenz oder stabiler Konsum 3. Verminderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) 4. Verminderung von krimineller Aktivität 5. Kostensenkung 6. Verminderung von Notfallaufnahmen und Hospitalisationen 8 Guidelines Euromethwork (www.q4q.nl/methwork/startguidelines.htm)

Überleben Zugang zu Opiatsubstitution verringert die Anzahl von Überdosen Heroin drastisch! 600 90000 80000 500 70000 Heroin Overdoses 400 300 200 100 Heroin Overdoses Buprenorphine Patients Methadone Patients 60000 50000 40000 30000 20000 10000 Patients Treated 0 0 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 Carrieri & al 2006 9D après Carrieri & al 2006

Tod durch Überdosis Überdosis-Todesrisiko nach Haftentlassung (im Vergleich zu Nicht-Inhaftierten) RR CI 95% 2 Wochen nach Haftentlassung Studie mit 316 IDU, HIV + (kein Aids) 30 34,2 20 10 12 Wochen nach Haftentlassung 7,7 10 S R Seaman & al. BMJ 1998;316;426-428

OST - Injektionen und Bei-Konsum 60 Patienten, niederschwellige Einrichtung. Evaluierung ein Jahr mit Methadon Substituierung (Methadon-Maintainance Therapy=MMT) Au cours des 30 derniers jours 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 84 21,6 Nbre d'injections p<0,001 19,2 p<0,001 1,9 Jours de consommation d'héroïne Avant MMT Après 1 an de MMT 11 Michel Perreault & Al., Montréal, Revue canadienne de Santé Publique Janvier-Février 2007; 98,1

Kosteneffizient $38 1 $ investiert in Methadonsubstitution (MMT), Spart 38 $ bezüglich: Kriminelle Aktivitäten, Haftaufenthalte, Arbeitslosigkeit, Hospitalisierungen, Gesundheitskosten $1 Cost MMT Savings 12 Gary A. Zarkin, Laura J. Dunlap, Katherine A. Hicks and Daniel Mamo Additional contact information Health Economics, 2005, vol. 14, issue 11, p 1133-1150

Reduktion der Kriminalität Zwei Interviews mit 85 Patienten: 1.vor Methadon-Substitution (MMT) 2.im Mittel 57 Monate nach Substitutionsbeginn 7 6 5 4 Anzahl der Delikte pro Woche 4,9 p<0,001 3 2 1 0 Avant MMT 0,7 MMT 13 I Sheerin & al. Reduction in crime by drug users on a methadone maintenance therapy in New Zealand. The New Zealand Medical Journal; 12 March 2004 vol 117, n 1190 ISSN 11758716

OST - Haft-Rezidiv Proportion von NICHT re-inhaftierten Drogen-Gebrauchern die im Gefängnis substituiert wurden (30 Monate nach Haftentlassung) 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 71 % 56 % 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 (P< 0,05) Groupe Traité Groupe non traité Groupe traité n = 154 Groupe non traité n = 92 14 Sara L Johnson & al. Incidence du traitement d entretien à la méthadone en milieu carcéral sur l issue de la mise en liberté. Direction de la recherche, service correctionnel du Canada, centre de recherche en toxicomanie. Sept 2001 R-119

Mangelnde Äquivalenz: Präventionsmaßnahmen- drinnen und draußen Number of countries 25 20 15 10 5 Outside Prisons Inside Prisons 0 15 Methadone Maintenance Methadone Detox Bupren Heroin prescribing Needle Syringe Programme Condoms Source: www.iprt.ie

Agenda Substanzgebrauch im Gefängnis Opiat Substitution: Evidenz und Realität Praxisbeispiel Genf: U-Haft Schlussfolgerungen 16

Willkommen in Genf, Schweiz 17

18 U-Haft Gefängnis Champ-Dollon, Genf, Schweiz

Haft in der Schweiz Allgemeinbevölkerung: 7 Mio 115 Gefängnisse: 80 Häftlinge/100 000 Bewohner Frauen 6.1 % Anteil Ausländer 70.2 % Anteil Minderjähriger 0.9 % 19

3000 Gefangene/Jahr 270 Plätze; 570 Gefangene (Überbelegung >200%!!) 94% Männer 58% < 30 Jahre Nationalitäten: Schweiz 10% Ost-Europa 21% Andere Europa 17% Nord Afrika 21% Afrika andere 19% Ausländer (ohne Aufenthaltsgenehmigung) 67% Aufenthaltsdauer: 33%< 1 Woche 49% < 1 Monat 20

Allgemein- Ärzte 4.8 p Techniker RX Pflegefachkräfte 12.75 p + 0.90 IRUS Interdisziplinäres Team Psychiater 2 p Psychologen 1.5 p OPH, HNO Physio Zahnärzte + 1 AD Sekretariat 1.5 p 18 500 Konsultationen/Jahr Bei Ankunft: Screening: Infektionen, Drogen, Krankheiten, Medikamente, Psyche, Gewalt 21

Opiat-Substitutions-Therapie (OST) im Gefängnis Champ-Dollon Seit1980 (Formelle Genehmigung durch Kantonsarzt 1996) Pragmatischer Ansatz Politik der 4 Säulen (Prävention, Risikoreduktion, Therapie, Repression) Risiko-Reduktion in Champ-Dollon : Spritzentausch (seit1996) Kondomausgabe Counseling OST 22

Ziele und Organisation (OST) Anamnese (Drogengebrauch, inkl. Alkohol und Tabak): somatische, psychiatrische und soziale Probleme Schweregrad der Abhängigkeit: Klinik: Sudation, Tremor, Tachykardie, Bluthochdruck, Mydriase, Allgemein: OST, Entzug ist Ausnahme Substitution: Weiterführung einer bestehenden Opiat Substitutions-Therapie (OST) Initiierung OST EKG, Bluttests in Funktion der Anamnese Counseling: IV Konsum Infektionskrankheiten (Hepatitiden und HIV, Impfung) Kollaboration mit dem Netzwerk 23

OST praktisch Kompetenz der Allgemeinmedizin Methadon: Falls bestehende OST : Konfirmation per Fax Falls Opiate «vom Schwarzmarkt»: Anfangs max. 30-40 mg, danach Steigerung um je 5-10 mg «start low go slow» Keine Urintests nach Diagnosestellung Buprenorphin: Selten Nur bei bestehender OST in Frankreich 24

Opiat-Substitutions-Therapie (OST) 2009: 5-10% unter OST Substitutions-Substanzen : Methadon (ca. 95%): 45 Flaschen mit je1000 ml (Methadon 10mg/ml = 450g im Jahre 2009: entspricht dem Bedarf von ca 20-25 Personen mit 60 mg/tag Buprenorphin (ca. 4%) Andere: Diacethylmorphin, (ca. 1%) Keine Überdosis (seit 1996) Weiterbetreuung nach der Haft schwierig: Entlassung unbekannt (U-Haft), Sans Papiers keine Krankenversicherung Termine oft nicht wahrgenommen 25

Schlussfolgerungen I Drogengebrauch im Gefängnis 20-100 mal häufiger als in der Allgemeinbevölkerung Hohes Risikoverhalten im Gefängnis Opiat-Substitutions-Therapie (OST): Überleben Abstinenz oder stabiler Konsum Verminderung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis C) Verminderung von krimineller Aktivität Kosten-effizient 26

Schlussfolgerungen II Notwendige Maßnahmen: Entwicklung und Umsetzung Rechtlicher Rahmen für OST im Gefängnis Niederschwelliges Angebot Ausbildungs-Programme für Mitarbeiter der Gesundheitsdienste im Gefängnis Interdisziplinäres Teamwork (Behandlungskontinuität) Pragmatischer Ansatz Ganzheitlicher Ansatz: Prävention, Risikoreduktion und Therapie Behandlungsäquivalenz (OST außerhalb und innerhalb Haft) Captive populations: OST im Gefängnis als Chance Prison Health is Public Health! 27

28

29