Zuwanderung in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart Ulrich Op de Hipt

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Zuwanderung in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Gegenwart Ulrich Op de Hipt Nur Amerika ist noch beliebter: Deutschland zweitbeliebtestes Zuwandererziel : Die Schlagzeile der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Mai 2014 hätte in ähnlicher Form bereits hundert Jahre früher erscheinen können. Deutschland war 1914 mit 1,2 Millionen Arbeitern aus dem Ausland weltweit das größte Zuwanderungsland nach den USA. Kaiserreich Das Deutsche Kaiserreich erlebte in der Phase der Hochindustrialisierung ab 1890 ein Wirtschaftswunder mit massiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. In Bergbau und Industrie herrschte Arbeitskräftemangel, der mit Einheimischen nicht mehr zu decken war. Leutenot meldeten auch landwirtschaftliche Arbeitgeber insbesondere im Osten Deutschlands. Vor allem die Agrarkrise hatte zur Folge, dass viele Menschen auswanderten oder die boomenden Industriezentren aufsuchten. Arbeitskräfte aus dem nahen Ausland füllten die Lücken. Die größte Gruppe bildeten Polen aus den von Russland und Österreich-Ungarn okkupierten Teilen des ehemaligen Königreichs. Sie wurden überwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt. In deutlichem Abstand folgten Italiener, die zum größten Teil in der Industrie, dem Bausektor oder dem Bergbau Beschäftigung fanden. Die als ausländische Wanderarbeiter bezeichneten Zuwanderer blieben in der Regel nicht dauerhaft, sondern nur für eine Saison oder mehrere Jahre. Sie verfolgten das Ziel, in möglichst kurzer Zeit viel Geld zu verdienen und erhebliche Teile des Lohns zu sparen, um die Angehörigen in der Heimat zu unterstützen und sich nach einigen Jahren dort eine Existenz zu sichern. Eine dauerhafte Niederlassung erschwerte auch die deutsche Ausländerpolitik. Vor allem Polen, die unter dem Generalverdacht standen, den polnischen Staat, den Preußen, Österreich-Ungarn und Russland Ende des 18. Jahrhunderts unter sich aufgeteilt hatten, wieder errichten zu wollen, unterlagen scharfen Reglementierungen. Sie erhielten nur eine befristete Arbeitserlaubnis und mussten Deutschland jährlich in der winterlichen Sperrfrist wieder verlassen. Um zu verhindern, dass sich Familien niederlassen, erhielten nur Unverheiratete eine Arbeitserlaubnis; im Falle einer Eheschließung mit einer Deutschen drohte die Ausweisung. Einwanderung erschwerte auch ein 1913 verabschiedetes Reichsgesetz, das von einem ethnisch-kulturellen Begriff der Nation ausging und das Prinzip der Vererbung der Staatsangehörigkeit festschrieb. Die Aufnahme in die sich als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft verstehende Nation war grundsätzlich schwierig beziehungsweise nur als Ausnahme vorgesehen. Deutscher konnte man nur sein, aber kaum werden. Eine besondere Gruppe bildeten die Ruhrpolen, preußische Staatsangehörige polnischer Sprache und Kultur, die aus dem Osten des Kaiserreichs in das boomende Ruhrgebiet migriert waren und hier 1

vor allem als Bergleute oder Industriearbeiter Beschäftigung fanden. Die Zahl dieser fremdsprachigen Zuwanderer lag 1914 bei 350.000 bis 500.000. Sie lebten häufig in ethnisch homogenen Siedlungen mit polnisch geprägter Infrastruktur, Vereinen, kulturellen Organisationen und Zeitungen. Staatliche Diskriminierungen wie das Verbot der polnischen Sprache und antipolnische Ressentiments in der deutschen Bevölkerung förderten die Abkapselung und stärkten ihr polnisches Nationalgefühl. Nach dem Ersten Weltkrieg ging ein großer Teil dieser Gruppe zurück in das wieder gegründete Polen, 100.000 Ruhrpolen blieben jedoch dauerhaft und passten sich zunehmend sozial und kulturell an. Der US-Historiker Richard Murphy versteht die Geschichte der Ruhrpolen im Rückblick als eine Erfolgsgeschichte von amerikanischen Ausmaßen, weil hier eine deutsche Fassung der pluralistischen Gesellschaft geschaffen worden sei. Mit Ende des Ersten Weltkriegs gewannen politisch bedingte Zwangswanderungen erheblich an Bedeutung. Aus dem ehemaligen Zarenreich flohen Hunderttausende vor den neuen kommunistischen Machthabern. Aus Osteuropa kamen Tausende jüdische Flüchtlinge, nachdem sie in ihren Heimatländern vor dem Hintergrund tief greifender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen antisemitischen Ausschreitungen und Pogromen ausgesetzt waren. Eine restriktive Asyl- und Integrationspolitik trug dazu bei, dass die meisten Flüchtlinge bald in andere Länder weiterwanderten und nur relativ wenige dauerhaft in Deutschland blieben. Weimarer Republik Die Arbeitsmigration verlor in der Weimarer Republik im Vergleich zum Kaiserreich erheblich an Bedeutung vor allem wegen der wirtschaftlichen Probleme dieser Zeit. Die Zahl der ausländischen Arbeiter sank auf 200.000 bis 300.000 in den 1920er Jahren, in der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre sogar auf rund 100.000. Sechzig Prozent waren Polen, die vor allem in der Landwirtschaft arbeiteten. Der Rückgang der Ausländerbeschäftigung war vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Stagnation, aber auch einer protektionistischen Arbeitsmarktpolitik zu sehen. Der Schutz des nationalen Arbeitsmarkts wurde Maxime der Ausländerpolitik. Der Inländerprimat schrieb den Vorrang der Beschäftigung Einheimischer fest. Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen wurden für alle Ausländer, nicht nur für die Polen, auf zwölf Monate begrenzt. Die Zulassung konnte so der wirtschaftlichen Lage angepasst werden. Drittes Reich Die nationalsozialistische Diktatur unter Adolf Hitler betrieb nach der Machtübernahme 1933 eine aggressive Außenpolitik und bereitete sich durch eine massive Aufrüstung auf den Krieg vor. Die Rüstungskonjunktur hatte einen Arbeitskräftemangel zur Folge. Seit Mitte der 1930er Jahre schloss die nationalsozialistische Regierung daher Vereinbarungen über einen Arbeitskräfteaustausch mit Polen, Italien, Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien und den Niederlanden. Angesichts der angespannten Devisenlage sowie ideologischer Bedenken wegen Überfremdung und Gefährdung der Blutreinheit der deutschen Bevölkerung erhöhte sich die Zahl ausländischen Arbeiter im Vergleich zur Weimarer Republik allerdings nur gering auf circa 400.000 Mitte 1939. 2

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs verschärfte sich das Problem des Arbeitskräftemangels nochmals drastisch. Die Nationalsozialisten rekrutierten in den eroberten Gebieten Zivilisten und zwangen sie zur Arbeit für das Großdeutsche Reich. Jahrgangsweise Dienstverpflichtungen, kollektive Restriktionen und Razzien waren Elemente einer Menschenjagd. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Gauckel ließ mit ungehemmter Brutalität insgesamt 2,8 Millionen sowjetische Arbeitskräfte in das Deutsche Reich treiben. Sie bildeten vor den Zwangsarbeitern aus Polen mit 1,5 Millionen und aus Frankreich mit 1,2 Millionen die größte Gruppe. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse verschiedener Gruppen der Fremdarbeiter unterscheiden sich der nationalsozialistischen Rassenideologie entsprechend beträchtlich voneinander. Die Arbeiter aus dem Westen waren bessergestellt als die als Untermenschen betrachteten Arbeiter aus dem Osten Europas, die Polenerlasse und Ostarbeitererlasse zu Rechtlosen machten. Der nationalsozialistische Ausländereinsatz zwischen 1939 und 1945 stellt einen der größten Fälle der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von Arbeitskräften in der Geschichte dar. Er markiert einen Bruch in der Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland. Geteiltes Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland wuchs mit dem wirtschaftlichen Aufschwung seit den 1950er Jahren der Bedarf an Arbeitskräften, der zunächst vor allem mit Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten und später bis zum Bau der Mauer im August 1961 mit Flüchtlingen aus der DDR gedeckt werden konnte. Anfang der 1960er Jahre war das einheimische Arbeitskräftepotenzial jedoch ausgeschöpft. Die Beschäftigung von Menschen vor allem aus Süd- und Südosteuropa sollte die Lage entspannen. Die in der Regel weniger gut Ausgebildeten waren überwiegend als Angelernte oder Hilfsarbeiter im Baugewerbe, in der Industrie und im Bergbau tätig. Die Bundesrepublik knüpfte mit ihrer Arbeitsmarktpolitik an die Traditionen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik an. Die Beschäftigung der Gastarbeiter sollte nur auf Zeit erfolgen, Rotation eine flexible Steuerung der Zuwanderung je nach Konjunkturlage erlauben und letztlich Einwanderung verhindern. Dieses Beschäftigungsmodell deckte sich allerdings nicht mit den betriebswirtschaftlichen Interessen vieler Unternehmen, die an dauerhafter Beschäftigung interessiert waren, um Einarbeitungskosten zu sparen. Auch war es nicht im Sinne der Gastarbeiter, die sich vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen, aber auch politischen Situation in vielen Entsendeländern immer häufiger dafür entschieden, die ursprünglich geplante Rückkehr in die Heimat zu verschieben und sich langfristig in Deutschland niederzulassen. Der Anwerbestopp, den die sozialliberale Bundesregierung Ende 1973 vor dem Hintergrund der Ölkrise und der befürchteten konjunkturellen Einbrüche erließ, konnte diesen Prozess nicht stoppen. Die restriktive Maßnahme zeitigte unerwartete Folgen: Viele Ausländer entschieden sich, dauerhaft zu 3

bleiben, da sie wussten, dass eine abermalige Einreise nicht möglich war. Sie holten nun ihre Familien nach. Damit wurde die Bundesrepublik faktisch zu einem Einwanderungsland. Der Familiennachzug entfaltete eine starke Wanderungsdynamik, die bis heute nachwirkt. Besonders deutlich wird diese Entwicklung am Beispiel der größten Ausländergruppe in Deutschland: Etwa 800.000 Türken lebten zum Zeitpunkt des Anwerbestopps in Deutschland, 2012 waren es fast drei Millionen Türken beziehungsweise Türkischstämmige. Zuwanderer und Aufnahmegesellschaft standen vor neuen Herausforderungen. In den 1970er Jahren stieg die Zahl arbeitsloser ausländischer Arbeitnehmer deutlich an. Sie arbeiteten häufig in Bereichen, die in besonderer Weise von der wirtschaftlichen Strukturkrise betroffen waren. Darüber hinaus waren sie aufgrund ihrer oft geringen Qualifikation auf dem sich wandelnden Arbeitsmarkt schwer vermittelbar. Erhebliche Defizite zeigten sich in schulischer Bildung und beruflicher Qualifikation. Die ökonomische Situation der überdurchschnittlich häufig in Armut und beengten Wohnverhältnissen lebenden Familien, Kulturdifferenzen und geringe Bildungsmotivation, aber auch die unzureichende Einstellung der Schulen auf die Probleme von Migrantenkindern führten oftmals zu massiven schulischen Problemen. Die Bundesregierungen ignorierten lange Zeit die faktische Einwanderungssituation und hielten an der Maxime fest, dass die Bundesrepublik weder ein Einwanderungsland sei noch werden solle. Die Politik zielte darauf, die Rückkehrbereitschaft zu fördern und den Zuzug weiterer Ausländer zu verhindern. Zugleich reagierte sie aber auch auf wirtschaftliche und soziale Probleme der Einwanderer und unterbreitete begrenzte Integrationsangebote. Dieser Ansatz glich einem Spagat zwischen der Notwendigkeit von Integrationsmaßnahmen und der Rücksicht auf das Meinungsklima in der deutschen Bevölkerung, das sich gegenüber Ausländern vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten verschärfte. Eine konsequente Nicht-Einwanderungspolitik konnte jedoch eher propagiert als in der Praxis umgesetzt werden, da sich der rechtliche Aufenthaltsstatus der Zuwanderer mit zunehmendem Verbleib im Land festigte und auch der Familiennachzug aufgrund des grundgesetzlichen Schutzes von Ehe und Familie garantiert war. Auch in der DDR bildeten Arbeitsmigranten die weitaus größte Gruppe unter den Zuwanderern, deren Zahl mit 190.000 im Jahr 1989 verglichen mit knapp fünf Millionen Ausländern in der Bundesrepublik allerdings sehr gering war. Die Ausländerbeschäftigung setzte Mitte der 1960er Jahre ein. Grundlage waren Abkommen und Vereinbarungen mit verschiedenen sozialistischen Staaten wie Polen, Ungarn, Vietnam, Kuba, Algerien, Mosambik, der Mongolei, Angola und China. Die sogenannten Vertragsarbeiter waren vor allem in der Industrie und im Braunkohlentagebau beschäftigt. Sie übernahmen häufig Arbeitsplätze am Fließband oder an Maschinen im Produktionsbereich, wo schlechte Arbeitsbedingungen mit geringen Aufstiegschancen aufgrund niedriger Qualifikationserfordernisse gekoppelt waren. 4

Einwanderung fand in der DDR im Unterschied zur Bundesrepublik nicht statt, Rotation bestimmte das Migrationsgeschehen. Der Nachzug von Angehörigen war nicht erlaubt. Die Vertragsarbeiter erhielten in der Regel befristete Aufenthaltsgenehmigungen, die leicht entzogen werden konnten. Im Falle einer Schwangerschaft beispielsweise wurden Frauen zur Abtreibung gezwungen oder ausgewiesen. Verstöße gegen die sozialistische Arbeitsdisziplin und längere Krankheitszeiten hatten die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Ausweisung zu Folge. Staatliche Segregationsmaßnahmen verhinderten, dass die große Mehrheit der Ostdeutschen die Ausländer auf privater Ebene kennenlernte und der Kontakt mit Fremden eine alltägliche Erfahrung wurde. Die soziale und wirtschaftliche Situation der Ausländer in der DDR stand im Widerspruch zur SED- Propaganda, die deren Aufenthalt als Akt internationaler Solidarität und Entwicklungshilfe darstellte. Wiedervereinigtes Deutschland Mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall des Ostblocks wandelten sich die Migrationsmuster grundlegend. Deutschland wurde wie bereits im Kaiserreich Zentrum einer Ost- West-Migration. Deutschstämmige aus Osteuropa, vor allem aus Polen, Rumänien sowie der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, die als Deutsche im Sinne des Artikels 116 Grundgesetz einen Rechtsanspruch auf Aufnahme in der Bundesrepublik hatten, nutzten die neue Reisefreiheit zur Auswanderung. Auch die Mehrzahl der Asylsuchenden kam in dieser Zeit nicht aus der Dritten Welt, sondern aus den unter massiven wirtschaftlichen Problemen leidenden osteuropäischen Staaten sowie dem vom Bürgerkrieg betroffenen Jugoslawien. Jüdischen Migranten aus der Sowjetunion beziehungsweise ihren Nachfolgestaaten wurde die Einwanderung vor dem Hintergrund des Holocaust erleichtert. Sie erhielten kollektiv als Kontingentflüchtlinge ein dauerhaftes Bleiberecht. Gut 200.000 Juden machten von dieser Regelung Gebrauch. In der Bevölkerung weckten die hohen Zahlen der Zuwanderer, insgesamt etwa drei Millionen allein im Zeitraum 1989 bis 1992, Ängste vor einer Überflutung Deutschlands durch neue Völkerwanderungen. Medienberichte über Asylbetrüger und Schein- beziehungsweise Wirtschaftsasylanten heizten die Stimmung vor allem gegen Asylbewerber auf. Rechtsradikale Kräfte versuchten, mit Parolen wie Ausländer raus in der Bevölkerung Unterstützung für ihr an nationalsozialistische Traditionen anknüpfendes Konzept der ethnischen Reinheit zu finden. Fremdenfeindliche Gruppierungen stießen in der Bevölkerung jedoch kaum auf Zustimmung. Die NPD blieb an den Wahlurnen relativ erfolglos, auch wenn sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Ostdeutschland Wahlerfolge erzielte und erstmals seit den 1960er Jahren wieder in Landtagen vertreten war. Als 1991 in Hoyerswerda, 1992 in Rostock und Mölln sowie 1993 in Solingen ausländerfeindliche Gewalttaten eskalierten, reagierte die große Mehrheit der Deutschen entsetzt. Fremdenfeindliche Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Sprengstoff- und Brandanschläge hielten sich allerdings auch in den folgenden Jahren auf einem hohen Sockelniveau. Arbeitsmigranten und ihre Familien, Asylbewerber, Flüchtlinge und Aussiedler sowie mit der Erweiterung der Europäischen Union, der Öffnung der Grenzen und der Gewährung der Personenfreizügigkeit auch zunehmend EU-Binnenmigranten haben das Gesicht der Bundesrepublik Deutschland verändert: Von insgesamt circa 80 Millionen Bewohnern haben 16,3 Millionen Menschen 5

familiäre Wurzeln im Ausland, das heißt, jeder fünfte Bewohner hat einen Migrationshintergrund. Die Bundesrepublik bleibt für Migranten attraktiv: 2012 lockte sie 400.000 Menschen aus dem Ausland an und ist so nach den USA das zweitbeliebteste Zuwanderungsland. Es zeichnet sich ab, dass zukünftig weiterhin die Zahl der Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten insbesondere aus Afrika und dem Nahen Osten ansteigt. Die Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, leitete erst spät das politische Handeln. Das 2000 in Kraft getretene Staatsangehörigkeitsgesetz nahm vor dem Hintergrund der durch Migration entstandenen ethnischen Heterogenität der Bevölkerung Abschied von der traditionellen deutschen Orientierung am Konzept der Staatsnation als Abstammungsgemeinschaft. Es sichert in Deutschland geborenen Kindern von Ausländern mit langfristigem Aufenthaltsrecht einen deutschen Pass zu. Mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 verpflichtete sich der Staat, Integration zu fördern. Die Vielfalt der Alltagskulturen, Religionen und Weltbilder bereichert die Gesellschaft, führt aber auch zu Spannungen und Konflikten. Der Wandel der Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland provoziert eine Neubestimmung dessen, was die Gesellschaft zusammenhält. Bundespräsident Joachim Gauck unterstrich bei der Einbürgerungsfeier anlässlich 65 Jahren Grundgesetz im Mai 2014 die Bedeutung des Grundgesetzes als Fundament eines friedlichen, pluralistischen und demokratischen Gemeinwesens. Er postulierte ein neues Selbstverständnis der Einwanderungsgesellschaft: Es gibt ein neues deutsches Wir, das ist die Einheit der Verschiedenen. 6