Elf Fragen und Antworten rund um die motorische Kontrolle bei lumbaler Instabilität

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Transkript:

215 Elf Fragen und Antworten rund um die motorische Kontrolle bei lumbaler Instabilität ALLES UNTER KONTROLLE? Seit Jahrzehnten ist das Thema lumbale Instabilität ein Dilemma der Manuellen Therapie. Endlose Debatten über Befund- und Behandlungsmaßnahmen erreichten teilweise mythische Dimensionen. Wie setzt man ein evidenzbasiertes Stabilisationstrainings in der Praxis um? Forschungsergebnisse In den 90er-Jahren demonstrierte das Forschungsteam um Richardson [15] drei Ergebnisse. Erstens: Tiefe lokale Muskeln eignen sich für die segmentale Schutzfunktion. Zweitens: Eine Veränderung der motorischen Kontrolle ist mit rezidiven chronischen Kreuzschmerzen eng assoziiert. Und Drittens: Die motorische Kontrolle des lokalen Systems spezifisch zu trainieren, ist für Patienten mit rezidiven Kreuzschmerzen effektiv. Vermarktung der Ergebnisse Die Forschungsergebnisse änderten die Betrachtungsweise der Rumpfmuskelfunktion und -dysfunktion grundlegend. Außerdem brach ein Stabilisationsmarkt aus mit Angeboten, die auf diesen Forschungsergebnissen mehr oder weniger basierten. Ausreichend oder kaum qualifizierte Berufsgruppen (Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler, Ergotherapeuten, Fitnesstrainer, Ärzte) vermarkten verschiedene Konzepte (Core Stability, spezielles Gerätetraining, propriozeptives Training, Pilates usw.) für unterschiedliche Klienten (Patienten mit Kreuzschmerzen, Wellness, Sportler). 15 Jahre später überblicken weder Wissenschaftler noch Kliniker das Thema. Wen wundert das? Häufige Missverständnisse Mit der Begeisterungswelle waren leider einige Missverständnisse über motorische Kontrolle, tiefe lokale Muskelfunktion, Stabilisation und ihre Beziehung zu Kreuzschmerzen verbunden. Irrtümer und Fehlschlüsse breiteten sich aus. Letztendlich müssen die einzelnen Therapeuten, nicht die Wissenschaftler und erst recht nicht die Systematic Reviewer täglich möglichst schnell klinische Entscheidungen für Patienten treffen. Die folgenden Fragen und Antworten sollen für Klarheit sorgen: Was leistet ein Training der motorischen Kontrolle für die lokalen Muskeln und was nicht? Auf dem Rezept steht Übungen zur Stabilisation der Wirbelsäule und Schmerzlinderung eine klare Verordnung? Nein Das Problem ist zweifach. Erstens gibt es keine optimale Definition für Stabilität, aber hundert unterschiedliche. Daher gibt es keine falsche Definition und auch keine richtige. Die Stabilität der Wirbelsäule ist eine hochkomplexe und mathematisch undefinierbare Struktur. Ihre Stabilität ist entsprechend schwer zu eruieren. Zweitens ist chronischer Schmerz ein komplexes biopsychosoziales Phänomen. Versucht die Manuelle Therapie den Zusammenhang zwischen Instabilität und Kreuzschmerzen auf eine typische Anamnese, ein Bewegungsmuster, ein Bildverfahren, einen Palpationsbefund oder eine Muskeldysfunktion zu beschränken, ist das bestenfalls illusorisch. Sind endlose Diskussionen über Definitionen der Stabilität oder Instabilität wirklich sinnvoll? Sollten wir uns stattdessen nicht überlegen, welche klinischen Ziele wir mit unserer Vorstellung von Stabilisationsübungen für die Wirbelsäule verfolgen? Mehr Schutz? Mehr Belastbarkeit? Weniger Schmerzen? Dieser Ansatz ermöglicht Offenheit für viele therapeutische Maßnahmen. Ist Gleichgewichtstraining bzw. Rumpfstabilisation auch segmentale Stabilisation? Ja und nein Bei Patienten mit gesundem Rücken, ja; bei Patienten mit Kreuzschmerzen nein. In der Physiotherapie gibt es unzählige Übungsprogramme für das Gleichgewicht und die Rumpfstabilität. Verschiedene Formen der labilen Unterlage (Kreisel, Schlingentraining und so weiter) fordern die posturale und axiale Aufrichtung. Auch Übungen zur Haltungskontrolle, wie Klötzchenspiel, Schwingstab-, Core- und Pilates-Übungen, werden für die Stabilisation der Wirbelsäule angeboten ( Abb. 1). Diese Form des Stabilisationstrainings geht davon aus, Stabilität sei gleichzusetzen mit Bewegungskontrolle. Dennoch hat die Wirbelsäule drei Ebenen der Bewegungskontrolle. Alle müssen gewährleistet sein, um sie insgesamt zu stabilisieren ( Tab. 1). Tab. 1 Ebenen der Bewegungskontrolle posturale Kontrolle axiale Kontrolle arthrokinematische Kontrolle Kontrolle des Körperschwerpunkts Kontrolle der Lordose und Kyphose oder axiale Haltung Kontrolle intraartikulärer Bewegungen, wie Scherkräfte

216 Schwerpunkt LUMBALE INSTABILITÄT Vertiefung 1a 1b 1c Abb. 1 Favorisierte Ebenen der Bewegungskontrolle mit typischen therapeutischen Übungen. a Posturale Kontrolle: labile Unterlage. b Axiale Kontrolle: Schwingstab. c Arthrokinematische Kontrolle: spezifisches Ansteuern des tiefen segmentalen M. multifidus mit Ultraschallfeedback. Alle drei Ebenen der Bewegungskontrolle benötigen gute Koordination und Muskelaktivität. Normalerweise leisten die Rumpfmuskeln diese Aufgaben gleichzeitig und synergistisch. Das sogenannte Stabilisationstraining verwischt diese Ebenen der Bewegungskontrolle jedoch oft. Bei gesunder funktioneller Koordination verursacht jede Belastung eine schützende motorische Kette für alle Ebenen der Bewegungskontrolle der Wirbelsäule. Die Arbeit von Hodges et al. [4] zeigt, bei Patienten mit rezidiven chronischen Kreuzschmerzen ist dies leider nicht so. Daher müssen Therapeuten bei diesen Patienten die tiefen lokalen Muskelfunktionen für die Kontrolle der Arthokinematik speziell prüfen und trainieren. Ist die schützende motorische Kette durch die gezielte Therapie wieder gewährleistet, trainiert der Patient falls nötig die synergistischen Muskeln für die Stabilisation der gesamten Wirbelsäule.

217 Sind lokale Muskeln für die Stabilität wichtiger als andere Muskeln? Nein Alle Muskeln sind wichtig für die Stabilität und den Schutz der Wirbelsäule. Unterschiedliche Beanspruchungen fordern sie jedoch unterschiedlich heraus. Die Kontrolle der Lordose ist eine andere Herausforderung für die Muskulatur als die Kontrolle der Scherkräfte um L4/5. Es geht eher um Effizienz als um Wichtigkeit. Lokale Muskeln sind klein, liegen tief, quer und segmentnah. Dadurch haben sie einen kurzen Hebelarm und wenig Kraft, um die lumbale Lordose zu kontrollieren und das Vorwärtsfallen zu verhindern. Wie soll dagegen ein globaler Muskel, wie der M. rectus abdominis, die Scherkräfte um L4/5 absorbieren? Seine Ansätze sind einfach zu weit weg. Auch intensives Krafttraining kann die anatomischen Verhältnisse nicht ändern. Benötigen steife Patienten segmentale Stabilisation? Ja Sind sie nicht schon stabil? Nein Zwei Mechanismen bewirken segmentalen Schutz: Gelenkzentrierung und Stressabsorbierung. Knorpel und Bandscheiben sind enorm belastbar und müssen hohe Druckkräfte aushalten. Die Kontrolle der Arthrokinematik (Rollen und Gleiten) stellt sicher, dass sich der Druck möglichst gleichmäßig verteilt. Nach einer Verletzung im Knorpel bzw. einem Bandscheibenvorfall ist die Zentrierung des Gelenks noch kritischer. Zunächst entsteht unreifer Knorpel. Er benötigt progressive Belastung, um nachzureifen keine Scherkräfte (Lee et al. 2003). Früher verwechselten Physiotherapeuten häufig die Gelenkzentrierung in ihrer Schutzfunktion mit Steifheit. In der alten Rückenschule vermittelten die Trainer häufig Strategien, die die Bewegungen der LWS komplett einschränkten: nicht bücken, nicht drehen, kein Hohlkreuz, nur Hohlkreuz. Manche Patienten reagierten mit Bewegungsangst. Steif ist nicht stabil. Steif bedeutet: hoher Widerstand mit wenig Nachgiebigkeit ( Abb. 2). Die Stressabsorbierung hängt jedoch von der Elastizität (Resilienz) von Gelenk und Muskeln ab. Die Nachgiebigkeit leistet ein gewisses Maß an Widerstand, 2a 2b Abb. 2 Steif ist nicht stabil! Steifheit ist hoher Widerstand mit wenig Nachgiebigkeit. Gelenkkapseln, Bandscheiben und Muskeln sind nachgiebig. Resilienz leistet elastischen Widerstand zur abweichenden intraartikulären Bewegung, absorbiert gleichzeitig Stress und lässt das Segment immer wieder in die Ausgangsposition zurückkehren (Gelenkzentrierung). a Steif. b Stabil-nachgiebig. absorbiert aber auch gleichzeitig Stress (Grundreaktions- oder Scherkräfte). Mobilität und Stabilität widersprechen sich also nicht. Im Gegenteil: Patienten mit Kreuzschmerzen neigen dazu, ihren Rumpf zu versteifen und verlieren die stoßdämpfenden Qualitäten der Wirbelsäule [5]. Bei Patienten nach Spondylodeseoperationen ist dies noch offensichtlicher. Versteift man ein Segment, erhöht sich der Stress auf die Nachbarsegmente um 300 Prozent [14]. Entscheidend für die lokale Muskelfunktion ist, dass sie ihre Elastizität verändern kann, um mehr oder weniger Schutz für die benachbarten Strukturen zu bieten ohne die Rumpfbewegung einzuschränken. Sind die lokalen Muskeln schwach? Nein Das Problem der lokalen Muskeln bei Patienten mit Kreuzschmerzen ist nicht die Kraft, sondern die Kontrolle. Die lokalen Muskeln schützen nicht nur zu spät im Bewegungsablauf, sie haben eine regelrechte Koordinationsstörung. Außerdem ändern sie ihre Vorprogrammierung von richtungsunspezifisch zu richtungsspezifisch [4]. Alle Rumpfmuskeln sind vorprogrammiert. Allerdings richtet sich die Vorprogrammierung der Gleichgewichtsmuskeln (axiale und posturale Kontrolle) nach der Belastungsrichtung. Ventrale Belastung entspricht dorsaler Muskelvorprogrammierung und umgekehrt. Die tiefen Muskeln schützen dagegen immer während der Kokontraktion. Sie dämpfen abweichende intraartikuläre Bewegungen (Arthrokinematik) und Stress, egal aus welcher Richtung die Belastung kommt. Im Prinzip bilden die lokalen Muskeln um die Wirbelsäule einen myofazialen elastischen Schlauch. Er strafft sich mehr oder weniger und absorbiert ungewollte Kräfte. Muss man in der Therapie die lokalen Muskeln nur ansteuern? Nein Ziel der Therapie ist, dass die lokalen Muskeln wieder rechtzeitig und richtungsunspezifisch kortikal angesteuert werden. Die Patienten trainieren in der Therapie die motorische Kontrolle. Sie lernen vor allem, die lokalen Muskeln gezielt kognitiv ohne Koaktivierung der globalen Muskeln anzusteuern. Beispiel: Den M. transversus abdominis zu aktivieren, ist motorisch relativ einfach. Er ist maximal aktiv bei forcierter Exspiration. Pustet der Patient fünfzig Luftballons auf, sind Ansteuerung und Krafttraining perfekt. Das motorische Ziel ist jedoch, diese Muskelgruppe kognitiv anzusteuern ohne Aktivität der schrägen Bauchmuskeln, ohne Rumpfbewegung und ohne eine veränderte Atmungsstrategie [15]. Auch der M. multifidus lumborum ist ein hoch komplexer Muskel mit tiefen lokalen und oberflächlichen globalen Anteilen. Sie haben nachweislich unterschiedliche Funktionen: Die lokalen Anteile schützen segmental und die globalen erhalten das Gleichgewicht [12]. Daher trainieren beispielsweise Swingstäbe durchaus den M. multifidus aber in seiner globalen Funktion. Außerdem bekommen bei chronischen Kreuzschmerzen die tiefen lokalen Anteile des M. multifidus ein segmentspezifisches Problem, das man auch segmentspezifisch behandeln muss. Das heißt, ist laut manualtherapeutischem Be-

218 Schwerpunkt LUMBALE INSTABILITÄT Vertiefung fund L4 (rechts) symptomatisch, muss der Therapeut vor allem L4 (rechts) testen und trainieren [3]. Allgemeine Übungen zur LWS-Extension oder zur Kontrolle der Lordose beziehungsweise Gerätetraining werden diesem segmentspezifischen Problem nicht gerecht. Ist selektives kognitives Ansteuern die einzige übungstherapeutische Methode bei lokaler Muskeldysfunktion? Nein Sie ist nur die einzige halbwegs nachgewiesene Methode. Ziel der Therapie ist, weder lebenslang zu üben, noch die Muskulatur vor jeder Bewegung kognitiv anzusteuern. Das Behandlungsziel ist die automatische unwillkürliche schützende Vorprogrammierung in der kompletten normalen Stabilisationssynergie. Laut Tsaos Studien [17] lernt das Gehirn relativ schnell um. Nach einer Trainingseinheit mit selektivem Ansteuern des M. transversus abdominis und Ultraschallbiofeedback war die Ansteuerung deutlich früher und richtungsunspezifischer. Sechs Monate später war der motorische Lerneffekt noch immer vorhanden. Auch die Schmerzen und funktionellen Beeinträchtigungen waren weiterhin verringert [16]. Neurale Plastizität ermöglicht diese Ergebnisse. Sie widerspricht der bisher vermuteten hohen Wiederholungszahl für motorisches Lernen, die Experten deshalb kritisieren. Vielleicht liegt es daran, dass das Gehirn wieder erlernt und nicht neu lernt. Nichtsdestotrotz ist es angenehm und praktisch für Patienten und Physiotherapeuten, nicht lebenslang üben zu müssen. Ist das nicht reines Wahrnehmungstraining? Na und Die Muskelspindeln sind die wichtigsten kinästhetischen Wahrnehmungsrezeptoren. Ihre Dichte ist in den lokalen Muskeln sehr hoch, die man deshalb auch häufig als sensorische Organe beschreibt. Chronische Schmerzpatienten haben nachgewiesene Wahrnehmungsstörungen [13]. Daher gehört das Wahrnehmen von Bewegungen und Gelenkstellungen zum lokalen motorischen Kontrolltraining. Muss man nicht zuerst den Schmerz behandeln und dann stabilisieren? Nein Möglichst schmerzfrei zu sein, ist eine gute Bedingung für motorisches Training, aber nicht zwingend erforderlich. Außerdem haben schmerzfreie Patienten eine geringere Motivation und Compliance. Schmerzfreie Patienten üben nicht. Jedes Training ist gut. Benötigen Patienten mit chronischen Schmerzen keine spezifische Übungstherapie? Je nachdem Allgemeine Bewegung und Sport gehören zur europäischen Empfehlung für Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen. Trainingstherapie jeglicher Art ist durchaus erfolgreich für einen gewissen Prozentsatz der Patienten mit chronischen Schmerzen. Allerdings scheint ihr Erfolg mehr mit dem Einfluss von Bewegung, Bewegungsangst und progressiver Belastung zu tun zu haben als mit zunehmender Kraftausdauer der Rumpfmuskulatur [9]. Außerdem sind Patienten nicht grundsätzlich schwach häufig sind sie durch Bewegungsmangel dekonditioniert [8]. Deshalb ist die progressive Trainingstherapie bei Patienten mit ausgeprägter Bewegungsangst und Bewegungsmangel sinnvoll. Trainingstherapie für sportlich aktive Kreuzschmerzpatienten oder Patienten mit der Selbsterkenntnis Bewegung tut gut überzeugt nicht. Laufen Patienten sowieso gern täglich 20 Minuten, ist Nordic Walking als erfolgreiche Schmerzstrategie bestenfalls schwer zu verkaufen. Bei anderen Patienten erfreut dagegen jede angstfreie Bewegung egal was und wie. Ist die motorische Kontrolle der lokalen Muskeln ein Allheilmittel gegen Kreuzschmerzen? Nein Circa zwölf randomisierte kontrollierte Studien untersuchten das spezifische motorische Kontrolltraining des lokalen Systems. Damit gehört es zu den meist untersuchten und nachgewiesenen physiotherapeutischen Behandlungsmethoden [2]. Allerdings sind nicht alle Studien gleich gut. Auch die Ergebnisse sind unterschiedlich. Die Studienanzahl ermöglichte einen systematischen Review [2]. Zusammengefasst fällt auf, dass die Kriterien zu unterschiedlich sind: sowohl für die Probandengruppen, Interventionen und deren Dauer als auch für die Vergleichsgruppen und Parameter ( Tab. 2). Evidenzbasiert? Ohne halbwegs einheitliche Kriterien ist Transparenz schwer möglich weder für die systematischen Gutachter noch für klinisch tätige Therapeuten. Nach jahrelanger praktischer und wissenschaftlicher Erfahrung mit dem Thema vermute ich von einem unsystematischen Standpunkt aus, dass das Training der motorischen Kontrolle für die lokalen Muskeln am wahrscheinlichsten als Teil einer multimodalen Behandlung mit Biofeedback bei moderat rezidiven chronischen Patienten (ICFII-III) funktioniert. Ziel der Behandlung ist, langfristig die rezidiven Episoden zu beeinflus- Tab. 2 Kritik am Review [2]: fehlende Transparenz durch zu unterschiedliche Untersuchungskriterien Probandengruppen Interventionen Dauer Vergleichsgruppen Parameter Erhebungszeitraum homogen und heterogen rezidiv moderat bis schwer chronisch Beispiele: unspezifisch, Spondylolithesen, gemischte Diagnosen, akute Erstepisoden, postpartum mono- bis multimodal mono- bis multizentriert mit und ohne Biofeedback vier bis zehn Wochen Therapie laut Leitlinie (Medikamente und allgemeine Aktivität, Beratung aktiv bleiben ) Trainingstherapie (Schlingen-, Gerätetraining) multidisziplinäre Therapie Schmerzskalen funktionelle Beeinträchtigungsskalen Lebensqualität Medikamenteneinnahme Bewegungsausmaß und Muskelaktivität vier Wochen bis drei Jahre

219 sen. Man strebt seltenere Episoden, geringere Schmerzintensität und funktionelle Beeinträchtigung sowie erhöhte Belastbarkeit an. Um die akuten Schmerzen und Bewegungseinschränkungen kurzfristig zu beeinflussen, sind manualtherapeutische Methoden eher geeignet. Die Forschung mit Feindrahtelektroden zeigt, dass sogar 75 Prozent der Patienten mit unspezifischen Kreuzschmerzen ein motorisches Kontrollproblem in den lokalen Muskeln haben [10]. Das Problem scheint sehr häufig vorzukommen und muss praktisch angegangen werden. Obwohl die klinischen Tests für die tiefe Muskelfunktion teilweise wissenschaftlich suboptimal sind im Moment gibt es keine Alternativen. Kritik an Studien ist nie besonders schwierig. Es gibt keine perfekte Studie. Beispielsweise ist die Blindierung bei klinischen Untersuchungen nahezu unmöglich. An der Kritik stört: Sie basiert oft auf falschen Annahmen über das tiefe System [6] und alternative Vorschläge für die Therapeuten fehlen. Kritik ohne etwas Richtungsweisendes ist leere Kunst. Multimodale Therapie Jede neue Welle erzeugt zwangsläufig eine Gegenwelle und das ist gut so. So finden neue physiotherapeutische Entwicklungen einen realistischen, angemessenen Platz in der täglichen Praxis. Die praktische Realität ist anders als die wissenschaftliche. Gute multimodale Behandlungen basieren auf drei Säulen: passive Therapiemethoden (Hands-on), aktive (Hands-off) und emotionale Methoden (Angstabbau) [11] ( Abb. 3). Manuelle Techniken können emotional Angstabbau passiv Hands-on aktiv Hands-off Abb. 3 Multimodale Physiotherapie mit drei interaktiven Säulen: Passiv Hands-on (wie Manuelle Therapie), aktiv Hands-off (wie Übungen zur motorische Kontrolle des lokalen Systems), emotional mit angstabbauender Kommunikation (wie Schmerzen verstehen). sowohl Schmerzen reduzieren und das Bewegungsausmaß verbessern als auch die tiefe Muskelansteuerung kurzfristig begünstigen. Daher ist die Manuelle Therapie gefolgt von motorischen Kontrollübungen eine sinnvolle Therapiekombination. Außerdem können die Übungen für die tiefen Muskeln zum Angstabbau beitragen. Beschreiben Therapeuten die lokalen Muskeln als ein inneres Korsett, das die Wirbelsäule schützt und stützt, bieten sie ein beruhigendes Bild und eine frühe selbstverantwortliche Strategie zur Schmerzbewältigung. Keine andere aktive Übungsstrategie kann man so früh in den Behandlungsablauf einfügen wie die lokale Ansteuerung. Zur Prävention von Chronifizierungen ist längst bekannt: Je früher die Patienten an ihrer eigenen Schmerzbewältigung aktiv beteiligt sind, desto besser [1]. fazit Letztendlich kann man in der Therapie allgemeines Training und spezifische motorische Strategien für das tiefe lokale System anbieten. Für beides gibt es Evidenz. Allgemeine sportliche Aktivität bei bewegungsängstlichen Patienten erfordert weniger hoch technologische sportwissenschaftliche Kenntnisse als eine gute Vertrauensbasis. Manuelle Therapie und spezifische lokale motorische Kontrolle in der multimodalen Physiotherapie geschickt eingesetzt, können diese Basis ermöglichen und dadurch das Beste beider Welten bieten. Die Literatur finden Sie online unter thieme connect: www.thieme-connect.de/ejournals/toc/manuelletherapie Autor Christine Hamilton M. Phty (Q) absolvierte ihre Aus- und Weiterbildung in ihrer Heimatstadt an der University of Queensland, Brisbane Australien. In der Geburtsstunde der motorischen Kontrolle für lokale Stabilität gehörte sie dem allseits bekannten Forschungsteam an. Seit über 15 Jahren publiziert und unterrichtet sie die praktische Umsetzung der Forschungsergebnisse und präsentiert sie auf zahlreichen Kongressen. Anna-Rosenthal-Weg 41 91052 Erlangen christine.hamilton@freenet.de bibliografie DOI 10.1055/s-0032-1331823 manuelletherapie 2012; 16: 215 219 Georg Thieme Verlag KG Stuttgart New York ISSN 1433-2671