31.5.2005 Der "semi-souveräne Staat" und die Gegengewichte im Bund: Föderalismus, Europäische Zentralbank, Bundesverfassungsgericht, Bundespräsident Grundlagen des Föderalismus in der Bundesrepublik Unterschiedliches genetisches Profil der 16 Bundesländer: Reste eigenstaatlicher Tradition in den Freien Hansestädten Bremen und Hamburg sowie den Freistaaten Bayern und Sachsen Thüringen als Produkt der Weimarer Republik (leichte Veränderungen 1948 und 1990) Saarland Ergebnis der französischen Abtrennungsversuche seit 1918 Gemeinsame Schaffung der Alliierten: Berlin Schaffung neuer Bundesländer durch die Westalliierten: Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein Schaffung neuer Bundesländer in der Sowjetisch Besetzten Zone: Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt (leichte Veränderungen im Jahre 1990) Neugliederung Baden-Württembergs im Jahre 1952 Gescheitertes Referendum zur Schaffung eines Landes Berlin-Brandenburg im Jahre 1996 Strukturelles Profil der einzelnen Bundesländer: siehe Rudzio 1996: 334-335 Politische Mehrheitsverhältnisse: siehe Folie Wichtige Autoren der Föderalismusforschung in der Bundesrepublik: Fritz W. Scharpf (1976: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik ) Heinz Laufer: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland Heiderose Kilper / Roland Lhotta, 1996: Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland Heidrun Abromeit, 1992: Der verkappte Einheitsstaat
Strukturelle Elemente des bundesdeutschen Föderalismus Bundesstaatliche Ordnung: Das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) gehört zu den unabänderlichen Grundsätzen des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3). Es beruht auf mehreren Verfassungsnormen, u.a.: Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens (Art. 35 Abs. 1 GG) Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder (Bundesaufsicht, Bundeszwang, Bundesintervention) Vorrang des Bundesrechts vor Landesrecht (Art. 31 GG) Mitwirkung der Länder bei der Bundesgesetzgebung (Bundesrat) Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (Art. 30 GG, Art. 70 ff. GG) Verwaltungszuständigkeit der Länder: Länder führen Bundesgesetze als eigene Angelegenheit (Art. 83, 84 GG) aus. Die Verwaltung durch bundeseigene Behörden oder im Auftrag des Bundes erfolgt nur in Ausnahmefällen. Gesetzgebungskompetenzen der Länder: In erster Linie mittels Mitwirkung durch den Bundesrat (Art. 50 ff. GG) Beteiligung des Bundesrates am Gesetzgebungsverfahren bei Zustimmungs- bzw. Einspruchsgesetzen. Grundsätzlich: Zustimmungsbedürftig sind solche Gesetzesbeschlüsse, die das Bund-Länder-Verhältnis betreffen. Zustimmungsgesetze mit anschließendem Recht des Bundesrates auf Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG): Finanz- und Steuergesetze gemäß Art. 104a-109 GG Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a) Gebietsänderungen (Art. 29 GG) Gesetze, die die Ausführung durch die Länder beinhalten Gegen alle anderen Gesetzesbeschlüsse des Bundestages kann der Bundesrat Einspruch erheben, der aber mit absoluter Mehrheit des Bundestages zurückgewiesen werden kann Das Einfallstor der Zustimmungspflichtigkeit bildet Art. 84 Abs. 1 GG. Seit 1952 leitet der Bundesrat eine Gesamtverantwortung für Gesetze mit Verwaltungszuständigkeit ab. Im Wesentlichen verfügen die Länder daher nur in den Bereichen Schul- und Bildungswesen, Polizei- und Ordnungsrecht sowie dem Kommunalrecht über weit reichende Eigenkompetenz
Merkmale des Föderalismus in der Bundesrepublik Merkmal Teilung: getrennte Aufgaben: Kulturhoheit (Schulwesen, Hochschulen, Wissenschaft, Kunst, Presse, Funk und Fernsehen) Verwaltungszuständigkeit der Länder (eigene Angelegenheiten und Angelegenheiten des Bundes), getrennte Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern nach Art. 71 und 73 GG (ausschließliche Gesetzgebung) und Art. 72 und 74 (konkurrierende Gesetzgebung) Steuersystem: Aufteilung der Steuerarten in Bundes- und Landessteuern Merkmal Vermischung: Aufgabenvermischung betrifft nach Hesse/Ellwein (a) die Dritte Ebene, (b) den Verwaltungsföderalismus, (c) die Politikverflechtung. Ein Fokus auf die Ausgabenvermischung ergibt: Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b (Hochschulen, Wirtschaftsstruktur, Agrarstruktur, Bildungs- und Forschungsplanung), Aufgaben in den Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung, Mitfinanzierung von Länder- und Gemeindeaufgaben nach Art. 104a Abs. 4 GG Mehrjährige Finanzplanung nach Art. 106 Abs. 3 GG Verwaltung: Mitwirkungsrechte durch Antizipation des Vetorechts durch den Bundesrat ("Verwaltungsföderalismus") gemeinsame Gesetzgebungskompetenzen: Rahmengesetzgebung des Bundes nach Art. 75 GG (öffentlicher Dienst, Hochschulwesen, Presse u.a.), Gemeinschaftsaufgaben Steuersystem: Verbundsteuern
Finanzverfassung Verteilung der Steuereinnahmen nach Art. 106 GG: Bundessteuern: Zölle, einige Verbrauchssteuern u.a. Landessteuern: Erbschaftssteuer, Kfz-Steuer Verbund- oder Gemeinschaftssteuern: Einkommen- (50:50), Körperschafts- (50:50) und Umsatzsteuern (1995: Länder 44:56 Bund, 1996+1997: 49.5:50.5, 1998: neu auszuhandeln) Zuständigkeit für Staatsausgaben: Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b. Anteile des Bundes: Hochschulen 1997: 1.8 Mrd. DM, Wirtschaftsstruktur 1997: 5.7 Mrd. DM für die FNL + 2.2 Mrd. DM aus dem EFRE Agrarstruktur 1997: 2.0 von insgesamt 3.2 Mrd. DM, Bildungs- und Forschungsplanung, Aufgaben in den Bereichen der konkurrierenden Gesetzgebung und der Rahmengesetzgebung, Mischfinanzierung von Länder- und Gemeindeaufgaben (im Jahre 1990: ca. 36 Mrd. DM Ausgaben des Bundes) u.a. für Geldleistungsgesetze nach Art. 104a Abs. 3 GG - z.b. Ausbildungsförderung und Wohngeld Investitionshilfegesetze nach Art. 104a Abs. 4 GG - Straßenbau, Personennahverkehr, sozialer Wohnungsbau, Krankenhausfinanzierung Mehrjährige Finanzplanung nach Art. 106 Abs. 3 GG
Politikwissenschaftliche Thesen zu Föderalismus a) Kooperativer Föderalismus nach Schmidt 1995: allgemein Ausdruck für einen Bundesstaat, in dem ein wesentlicher Teil der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Politikplanung und -durchführung in Kooperation von Zentral- und Gliedstaaten erfolgen. Weiterhin grenzt Schmidt den kooperativen gegen den dualen und den politikverflochtenen Bundesstaat ab. Im Zusammenhang mit der "Kommission für die Finanzreform" (Vorsitzender Dr. Troeger) aufgekommener Begriff zur Charakterisierung des bundesdeutschen Föderalismus nach der Finanzreform von 1969 Finanzreform von 1969: Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91 a+b), Bildungsplanung, Forschungsförderung (Art. 74 / 13) Mitfinanzierung von Investitionen der Gemeinden und Länder (Art. 104a Abs. 4 GG) Mischfinanzierungen nach Art. 91 a+b, Art. 104a Erweiterung des Steuerverbunds Merkmal des kooperativen Föderalismus: gegenseitige Abhängigkeit von Zentral- und Gliedstaaten Verfassungsrechtliches Gebot zum kooperativen Föderalismus: Gesetzgebungsrecht des Bundes zum Zweck der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Art. 72 Abs. 2 GG)
b) Politikverflechtung Begriff von Fritz W. Scharpf: "für den Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland charakteristische politisch-administrative Entscheidungsstruktur, in der die meisten öffentlichen Aufgaben nicht durch Entscheidungen und Handlungen einzelner getrennt voneinander a- gierender Gebietskörperschaften, sondern durch die horizontale Kooperation der Länder und die vertikale Kooperation von Bund und Ländern (...) wahrgenommen werden" (Schmidt 1995: 733). Merkmale der Politikverflechtung: Begriff: Gemeinsames Entscheiden der Exekutiven in Bund und Ländern in (a) Teilen der Gesetzgebung, (b) der Planung von Staatstätigkeiten, (c) der staatlichen Einnahmepolitik, (d) der staatlichen Ausgabenpolitik politische Bedeutung: Zwang zur Abstimmung zwischen Bund und Ländern, Tendenz zur großen Koalition bei unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat: Blockadegefahr Typen: horizontale Politikverflechtung Dritte Ebene (z.b. Kultusministerkonferenz), hierarchische Verflechtung (z.b. Bundesauftragsverwaltung), multilaterales Verbundsystem (z.b. bei Gemeinschaftsaufgaben) Schwächen: schwierige Informationsverarbeitung, Regelung komplexer Probleme schwierig, langwierige Konsensbildung, langwierige Konfliktregulierung Legitimatorisches Problem: Entmachtung der Landesparlamente und z.t. sogar der Landesregierungen, da in den einzelnen Ländern den gefundenden Kompromissen der verschiedenen Ebenen faktisch nur noch zugestimmt werden kann Ansatz der Theorie der Politikverflechtung (Fritz W. Scharpf): Erklärung der zunehmenden Verflechtung und Kooperation im Bundesstaat Ergebnisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner; Niveaufixierungsprobleme lösbar, Verteilungsprobleme schlecht lösbar Untersuchung der Reaktionen der politischen Akteure auf die Problemlösungsmängel der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung
Bundesverfassungsgericht Aufbau in zwei Senaten erster Senat (Grundrechtssenat) ist zuständig für Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren zweiter Senat (Staatsrechtssenat) ist zuständig für die Bereiche öffentlicher Dienst, Wehr- und Ersatzdienst, Straf- und Bußgeldverfahren, Strafvollzug, Parteienverbote, Wahlbeschwerden Richterwahl: jeweils acht Richter in zwei Senaten auf zwölf Jahre, keine Wiederwahl automatisches Ausscheiden mit 68 Jahren, 2/3-Mehrheit abwechselnd in Bundesrat und einem Wahlausschuß des Bundestages: politisches bargaining und Zwang zur großen Koalition wichtige Zuständigkeiten des BVerfG (Darlegung in 13 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht): Verfassungsstreitigkeiten zwischen Verfassungsorganen ("Organklagen"), abstrakte Normenkontrolle; konkrete Normenkontrolle (vermeintlicher Widerspruch eines Gesetzes gegen das GG), Verfassungsbeschwerden (jeder Bürger gegen einen Verwaltungsakt, ein Gesetz, eine Gerichtsentscheidung); über 96% der Verfahren Demokratie- und Rechtsstaatssicherung (z.b. Parteienverbot, Präsidentenanklage, Grundrechteverwirkung). Ausgewählte wichtige Entscheidungen des BVerfG: Verteidigungsbeitrag (1953), wirtschaftspolitische Neutralität (1954), Fernsehurteil (1961), Grundlagenvertrag mit der DDR (1973), Abtreibung (1975, 1993), Steuerlich zu verschonendes Existenzminimum (1992), Out-of-area-Einsätze der Bundeswehr (1994), Kindergeld (1998) Thesen zur Bedeutung des BVerfG: Judizialisierung der Politik (Loewenstein), BVerfG als Ersatz-Gesetzgeber (Landfried), BVerfG als Gegenregierung (Wewer), BVerfG als Vermittler (Rudzio) bzw. Konfliktschlichter (H.-P. Schneider)
Gegengewicht in der Geldpolitik: Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) Delors-Plan (1985) der Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in drei Stufen Das ESZB besteht aus den nationalen Notenbanken der WWU und der Europäischen Zentralbank (EZB) Organisation der EZB: Rat der EZB: Oberstes Entscheidungsgremium der EZB, das u.a. die geldpolitischen Entscheidungen trifft Bestehend aus: Direktorium und Präsidenten der nationalen Zentralbanken Leitung des des EZB-Rates durch Direktorium, bestehend aus Präsident, Vizepräsident und bis zu vier weiteren Mitgliedern. Derzeitiger Präsident: Wim Duisenberg (Niederlande) Aufgaben der EZB: Vorrangiges Ziel: Gewährleistung der Preisstabilität (EGV und GG) Weitere Aufgaben: Festlegung der Geldpolitik, Verwaltung der Währungsreserven, Banknotenversorgung, etc. Änderungen für die Deutsche Bundesbank aufgrund des Eintritts in die dritte Stufe der WWU im Januar 1999 Verlagerung der wichtigsten Funktionen des Zentralbankrates der BuBa auf den EZB-Rat Stärkung des Präsidenten der Bundesbank, da er allein mit Stimmrecht im EZB- Rat vertreten ist
c) Bundespräsident: Funktionen Repräsentativitätsfunktion: feierliche Anlässe, völkerrechtliche Vertretung der Bundesrepublik, Ordensverleihungen Integrationssymbol durch öffentliche Auftritte, Vorschlag zum Bundeskanzler bei fehlenden Mehrheiten bedeutsam Ernennung des Bundeskanzlers und der Bundesminister - eingeschränktes personelles Prüfungsrecht Reservefunktionen: bei fehlenden parlamentarischen Mehrheiten: wählt der Bundestag den Bundeskanzler nur mit relativer Mehrheit, kann der Bundespräsident ihn ernennen oder den Bundestag auflösen ähnlich bei erfolgloser Vertrauensfrage des Bundeskanzlers: Auflösung binnen 21 Tagen möglich Prüfungsrecht bei der Gesetzgebung (Form- und Verfassungsgemäßheit)