Einführung. Dr. Günther Wienberg

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Transkript:

Einführung Dr. Günther Wienberg

P E G A S U S = Psycho- = edukative = Gruppen- = arbeit mit = schizophren = und = schizoaffektiv erkrankten Menschen Ziele: Krankheitsverständnis fördern Selbsthilfe- und Bewältigungsfähigkeiten stärken Informierte Entscheidung über medikamentöse Behandlung ermöglichen Recovery 2

Recovery = Genesung, Heilung, Gesundung das kann heißen (fast) ohne Symptome und Behinderungen zu leben (enge Definition) und/oder trotz fortbestehender psychischer Probleme, Behinderungen oder Auffälligkeiten ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen (weite Definition). 3

Alte Bilder Schizophrenie: Spaltungsirresein früher auch als Dementia praecox bezeichnet; Geisteskrankheit, die zum Verfall der Persönlichkeit und schließlich zur Verblödung führt Die Symptome der S., die von Fall zu Fall sehr verschieden sind: Zerfahrenheit und Verfall des logischen Denkens, Sprachstörungen, Sinnestäuschungen, Bewegungsstörungen, Verfolgungs- oder Größenwahn... Es kommt zum Verlust des sozialen Kontaktes, zur absoluten Wesensveränderung und zur Spaltung der Persönlichkeit (Man) unterscheidet drei Hauptformen der S.: Paranoia (besonderes Vorherrschen von Wahnideen, Endstadium: Verblödung), Katatonie (in Schüben verlaufender Persönlichkeitsverfall, häufig mit Bewegungsstörungen) und Hebephrenie (Jugendirresein, seelischer Verfall mit Störungen des Gefühls und des Willens; auch hier mit dem Endstadium der Verblödung). in relativ neuen Büchern: Barmer-Lexikon 1993 4

Genau 100 Jahre zuvor 1893: Emil KRAEPELIN beschreibt erstmals die Störungen, die wir heute Schizophrenien nennen, als eine Krankheitseinheit Dementia praecox = frühzeitiger Verfall. 1908: Eugen BLEULER führt den Begriff Schizophrenie ein. Die Arbeiten von KRAEPELIN und BLEULER haben weltweit das Schizophrenie-Verständnis mehrerer Generationen von Psychiatern geprägt, für die Diagnostik gilt das bis heute. 5

Gemeinsamkeiten von KRAEPELIN und Eugen BLEULER: charakteristische Symptome Gruppe von Störungen Vermutung einer hirnorganischen Ursache Verlauf immer chronisch, Ausgang mit schweren Behinderungen Verblödung und ein wichtiger Unterschied: Eugen BLEULER war sehr an der Person der Erkrankten, ihren Lebensgeschichten und an einem therapeutisch geprägten Umgang interessiert; er gilt als Wegbereiter der Psychotherapie in der Psychiatrie. 6

Folgen des alten Schizophrenie-Verständnisses für die Betroffenen: Kränkung, Angst, Stigmatisierung für die psychiatrisch Tätigen: negative Erwartungen, Hilflosigkeit, therapeutischer Nihilismus für die Beziehung: Tabuisierung, Schweigen Von diesem Krankheitsverständnis führte ein direkter Weg zu den Eugenik- (z. B. Zwangssterilisierungen) und Euthanasie-Verbrechen des Nationalsozialismus. 7

Aber: Die Auffassung vom regelhaft schlechten Verlauf und Ausgang schizophrener Psychosen ist falsch! Autoren Jahr Ort Anzahl Patienten Nachuntersuchungszeitraum % geheilt oder erheblich gebessert M. Bleuler 1972 Schweiz 208 23 J. Huber u. a. 1975 Bonn 502 22 J. Ciompi & Müller 1976 Schweiz 289 37 J. Ogawa u. a. 1987 Japan 105 24 J. Harding u. a. 1987 USA 82 32 J. Marneros 1991 Köln 169 20 J. 53 57 53 56 65 54 8

Der Langzeitverlauf im Vergleich (nach HARROW et al. 2005) 60 % Patienten geheilt 39 % 46 % 37 % 51 % 40 % 52 % 39 % 50 % 43 % NP = nicht psychotisch AP = andere Psychosen (überwiegend affektive) 20 % 21 % 24 % 20 % 21 % SF = schizophrener Formenkreis 11 % 0 % 2 J. 4,5 J. 7,5 J. 10 J. 15 J. 43 % aller SF-Patienten waren an mindestens einem Nachuntersuchungszeitpunkt in Recovery. 9

100 Jahre Schizophrenie Tendenz zum Besseren? (nach HEGARTY et al. 1994) Auswertung von 320 (!) Verlaufs-Studien bei insgesamt fast 52.000 (!) Patienten mit schizophrener Psychose über 9 Jahrzehnte % Patienten geheilt oder erheblich gebessert bei Nachuntersuchung Mittelwert Anzahl der untersuchten Patienten- Gruppen Jahrzehnt 10

Verlauf schizophrener Psychosen über die Zeit (CIOMPI & MÜLLER 1976) n = 228 Nachuntersuchungszeitraum = 37 Jahre 11

Manfred BLEULER (1984) zu Verlauf und Ausgang: Schizophrene Erkrankungen verlaufen nicht grundsätzlich oder mehrheitlich progressiv. Den Statistiken der genannten Autoren folgend kommen schizophrene Erkrankungen einige Jahre nach Krankheitsbeginn mindestens zu einem Stillstand, wobei Spätbesserungen häufig sind und selbst Spät-Heilungen noch vorkommen Nach unserem heutigen Wissen bedeutet Schizophrenie die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwierigen inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen. 12

Zwischenergebnis: 1. Der langfristige Ausgang schizophrener Psychosen ist überwiegend günstig. 2. Den typischen Verlauf schizophrener Psychosen gibt es nicht. 3. Ein günstiger Einfluss der medikamentösen Behandlung auf den langfristigen Verlauf und Ausgang ist bisher nicht eindeutig belegt, aber wahrscheinlich. 4. Eine gesicherte Prognose im Einzelfall ist nicht möglich. 5. Das Alter wirkt eher beruhigend und verwischend im Hinblick auf fortbestehende Beeinträchtigungen/Symptome. Die Erkenntnisse der Langzeitstudien führten zu einem neuen Schizophrenie-Verständnis. 13

Das Verletzlichkeits-Stress-Bewältigungs-Modell der schizophrenen Psychosen von Luc CIOMPI 14

Das Schizophrenie-Verständnis Ende des 19. Jahrhunderts: Das traditionelle Krankheitskonzept der Schizophrenie: Ende des 20. Jahrhunderts: Das Verletzlichkeits-Stress- Bewältigungs-Modell: rein biologisch bedingt, endogen Verletzlichkeit für schizophrene Psychosen biologisch und psychosozial bedingt, externe Auslöser häufig unverstehbar, uneinfühlbar Psychose (auch) als Selbsthilfeversuch verstehbar unheilbar Ausgang überwiegend günstig Verlauf vorherbestimmt Verlauf vielfältig Patient passiv, Behandlungsobjekt Patient aktiv: Selbsthilfe- und Bewältigungs-Fähigkeiten für Betroffene mystifizierend, stigmatisierend, kränkend für Betroffene nachvollziehbar, akzeptabel, entlastend 15

Wie konnten KRAEPLEIN und Eugen BLEULER dermaßen irren? Diagnostische Unsicherheiten, z. B. Einschluss von Patienten mit organischen Psychosen. Patienten nicht repräsentativ, sondern stark selektiert. Das Problem der selektiven Wahrnehmung ein Beispiel: 25 % 33 % 16

Zum Schluss: Eine historisch begründete Warnung an die Psychiatrie: Krankheits-Bilder prägen das Menschenbild. Die Psychiatrie nimmt immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit psychischer Erkrankungen wahr. Sie muss sich dessen bewusst sein. Auch bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis gibt es immer Grund zur Hoffnung auf Recovery. Erwartungshaltungen (positive und negative) beeinflussen die Recovery-Chancen erheblich (Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung). 17

Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Günther Wienberg v. Bodelschwinghsche Anstalten Bethel, Bielefeld guenther.wienberg@bethel.de Telefon 0521 144-3511 08-04-15 mk 18