Repetitorium Arbeitsrecht WiSe 07/08 Dr. Alexander Schreiber Fall 7 E war Pfleger in der Kinderabteilung einer Privatklinik mit 70 Angestellten. Eines Tages klagte der 3-jährige K gegenüber seiner Mutter über Schmerzen im Analbereich und berichtete von Manipulationen, die der E an ihm vorgenommen habe. Die Mutter des K äußerte gegenüber den Eltern anderer dort behandelter Kinder den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs durch den E. Als sich dieses Gerücht verbreitete, verlangten die Eltern vom Leiter der Privatklinik am 27.10.2006, dass E ausscheide, denn sie seien nicht bereit, ihre Kinder weiter von ihm pflegen zu lassen. Anderenfalls würden sie diese verlegen lassen. Noch am selben Tag berichtet L dem Betriebsrat davon und von seiner Absicht, den E deshalb fristlos zu entlassen, aber gegebenenfalls später wieder einzustellen. Nachdem L bis zum 31.10.2006 vom Betriebsrat nichts gehört hatte, übergab er zum Arbeitsende des 31.10. 2006 dem E die fristlose Kündigung. Dabei erklärte er ihm mündlich, dass er sich dazu aufgrund des Drucks der Eltern gezwungen sehe, E aber aufgrund der langen und zuverlässigen Zusammenarbeit mit einer Wiedereinstellung rechnen könne, wenn sich demnächst wieder alles beruhigt habe. Am Mittag des 31.10.2006 erzählte K seiner Mutter noch mal von einem derartigen Vorfall. Sie ließ deshalb umgehend eine Untersuchung durch eine Kinderärztin der Klinik durchführen, wobei Verletzungen, welche auf sexuellen Missbrauch hindeuteten, festgestellt wurden. Weiterhin ließ die Mutter den K durch die kinderpsychiatrische Abteilung eines Universitätsklinikums untersuchen. Man erklärte ihr dort, dass die Schilderungen des K absolut glaubwürdig erschienen. Als der Klinikleiter darüber am 13.11.2006 unterrichtet wurde, suchte er E auf. Er befragte ihn zu den Vorwürfen, die dieser nur pauschal bestritt. Am folgenden Tag teilte L dem Betriebsratsvorsitzenden B den neuen Sachstand mit und erklärte, dem E aufgrund der aktuellen Erkenntnisse sicherheitshalber erneut fristlos kündigen zu wollen. Der B erklärte sich sofort gegenüber L damit einverstanden, schließlich habe man schon aufgrund des Gerüchts der Kündigung nicht widersprochen. L meinte, er solle dennoch mit seinen anderen Kollegen darüber reden. B hielt dieses für überflüssig, und als L ihn am Nachmittag des 15.11.2006 erneut wegen der Kündigung anrief, erzählte B wahrheitswidrig er habe mit allen Rücksprache gehalten und sie stimmten auch einer erneuten Kündigung zu. L ließ E daher noch am 15.11.2006 eine weitere fristlose Kündigung durch einen Boten überbringen, die dieser persönlich in Empfang nahm. Am 1.12.2006 hat sich die Klinikleitung unter dem Druck des abgeschlossenen Tarifvertrages im öffentlichen Dienst entschlossen, den Lohn in ähnlicher Weise anzuheben. Rückwirkend zum 1.11. 2006 zahlte sie deshalb Pflegern wie E, die am 1. 12. 2006 in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis standen, 160 brutto mehr. E meint, die Kündigung vom 31.10. 2006 sei völlig haltlos, da insoweit nur Gerüchte und keine Indizien vorlagen. Überhaupt komme eine Kündigung nur aufgrund eines Verdachtes nicht in Betracht. Dies sei eine unzulässige Vorverurteilung. Er erkundigt sich daher am 20.11.2006 bei Ihnen, ob er gegen die Kündigungen vorgehen oder jedenfalls die Lohnerhöhung verlangen kann. Was antworten Sie ihm? 1
I. Wirksamkeit der Kündigung vom 31.10. 1. unwirksam gem. 125 S. 1 BGB (-), da Kündigungserklärung in Schriftform gem. 623, 126 BGB Gründe müssen nicht angegeben werden (Umkehrschluss aus 22 III BBIG) sind aber auf Verlangen der schriftlich mitzuteilen gem. 626 II 3 BGB 2. keine unwiderlegliche Vermutung der Wirksamkeit gem. 4, 7, 13 S.2 KSchG Klageerhebung gem. 4 S 1 KSchG noch bis zum 22.11. möglich 3. 102 I 3 BetrVG (-), Betriebsrat wurde angehört 102 II 3 BetrVG; 3 Tage abgelaufen! (Unterrichtung am Fr, 3 Tage Sa, So, Mo) 4. Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung gem. 626 BGB a) wichtiger Grund an sich aa) Missbrauch schwere Pflichtverletzung nicht erwiesen bb) Verdacht einer schweren Pflichtverletzung zz der Kündigung war es nur ein Gerücht AG zeigte mit Wiedereinstellungsversprechen, dass er noch keinen Verdacht hegte Verdacht als Kündigungsgrund war noch nicht entstanden am 1.10. nur solche Umstände können erfolgreich nachgeschoben werden können, die objektiv bereits zum Zeitpunkt der Kündigung vorlagen; Gutachten wurden erst erstellt nach Kündigungserklärung später entstandene Gründe rechtfertigen nur neue Kündigung 2
Exkurs: Nachschieben von Gründen Prozessuale Grenze: 56 II 1 ArbGG, 296 II ZPO; 296 I, 273 ZPO gelten jedoch nicht! Materiell-individual-rechtliche Grenze: nur vor der Kündigung bereits entstandene Gründe, Kenntnis egal! Betriebsverfassungsrechtliche Grenze: 102 I 2 BetrVG; Gründe sind mitzuteilen, durch unbegrenzte Nachschiebemöglichkeit würde dessen Sinn unterlaufen! dem Arbeitgeber unbekannte Gründe dürfen aber nachgeschoben werden, soweit auch Anhörung nachgeholt wurde! cc) Druckkündigung (1) 104 BetrVG (Entfernung betriebsstörender Arbeitnehmer (-) (2) objektive Rechtfertigung Verhaltensbedingte Gründe: Verdacht nicht durch Arbeitgeber, bisher daher keine Gründe! Personenbedingte Gründe: Pädophilie erst recht nicht bewiesen! (3) echte Druckkündigung als betriebsbedingte Kündigung Verlegung aller Kinder droht; gesamte Abteilung wäre leer! schwerer wirtschaftlicher Nachteil! aber: Arbeitgeber muss sich zunächst schützend vor den Arbeitnehmer stellen und alles Zumutbare versuchen, um die von Dritten ausgehende Drohung abzuwenden. Nur falls diese Bemühungen erfolglos bleiben und keine andere Möglichkeit besteht, einen erheblichen Schaden abzuwenden, darf er kündigen. hier: Kündigung ohne Aussprache mit Eltern/ E; nur aufgrund des Gerüchts Umsetzung zur Beruhigung der Lage weder versucht noch erwogen keine Beurlaubung in Erwägung gezogen! 3
kein Versuch, die Verwirklichung der Drohung zu verhindern; L hat sich nicht zuvor schützend vor E gestellt! keine zulässige Druckkündigung; keine betriebsbedingten Gründe gegeben Exkurs: falls wirksam uu Entschädigungsanspruch des AN analog 904 S. 2 BGB 5. Umdeutung in ordentliche Kündigung gem. 140 BGB a) Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung (+) b) mutmaßlicher Wille c) Erkennbarkeit des mutmaßlichen Willens für den Empfänger d) Wirksamkeit als ordentliche Kündigung aa) Schriftform, 623 BGB Kündigung wurde ja schriftlich erteilt bb) Betriebsratsanhörung, 102 BetrVG Kündigungsart ist anzugeben, steht Umdeutung daher entgegen! Ausn.: bei ausdrücklicher und vorbehaltloser Zustimmung, Schweigen genügt nicht - 102 II 2 BetrVG gilt bereits aus systematischen Gründen nicht hier: (-), also keine Umdeutung II. Wirksamkeit der Kündigung vom 15.11. Zugang durch Bote; keine Zurückweisung nach 174 BGB möglich 1. unwirksam gem. 125 S. 1 BGB (-), da Kündigungserklärung in Schriftform gem. 623, 126 BGB 2. Schriftform bezüglich des Kündigungsgrundes schriftliche Gründe nur auf Verlangen 626 II 3 BGB 4
3. keine unwiderlegliche Vermutung der Wirksamkeit gem. 4, 7, 13 S.2 KSchG Klageerhebung noch gem. 4 S 1 KSchG bis zum 7.12. 4. unwirksam gem. 102 I 3 BetrVG a) Unterrichtung des Betriebsrates durch L gem. 26 II S.2 BetrVG falls Erklärung gegenüber einem anderen Betriebsratsmitglied, ist dieses Erklärungsbote des AG b) Beteiligung des AN gem. 102 II 4 BetrVG fehlt! aber lediglich eine Sollvorschrift Verletzung führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung c) Stellungnahme des Betriebsrats gem 102 BetrVG muss auf Beschluss gem 33 BetrVG beruhen (Sitzung ist einzuberufen, Umlaufverfahren genügt nicht) 26 III 1 BetrVG Vorsitzender vertritt BR nur im Rahmen der Beschlüsse! Zustimmung ohne Vertretungsmacht; nicht rechtlich bindend Kündigung somit vor Ablauf der Anhörungsfrist, also ohne wirksame Anhörung Fehler aber nicht im Bereich des AG BR soll AN schützen; Risiko von Fehlern soll daher auch AN tragen! (Sphärentheorie) durfte AG hier auf ordnungsgemäße Zustimmung vertrauen (Rechtsscheinhaftung)? AG hat unmittelbare Zustimmung zurückgewiesen AG hat dem Betriebsrat ausreichend Gelegenheit zur Befassung gegeben d) ordnungsgemäße Mitwirkung des Betriebsrats nicht unwirksam gem 102 I 3 BetrVG (analog) 5. Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung gem. 626 BGB 5
a) wichtiger Grund an sich aa) Missbrauch: schwere Pflichtverletzung Kindesmisshandlung wäre so schwer, dass außerordentliche Kündigung ohne Abmahnung gerechtfertigt Missbrauch ist nicht erwiesen bb) Verdacht einer schweren Pflichtverletzung Problem: Unschuldsvermutung! Art. 6 II EMRK bindet unmittelbar nur den Richter, der über die Begründetheit der Anklage zu entscheiden hat. Nachteile aufgrund eines Ermittlungsverfahrens sind nicht zu vermeiden (Kündigung ist keine Strafe) aber: keine Gleichbehandlung mit Verurteilten Lösung: Verdacht aufgrund objektiver Tatsachen Verdacht muss so dringend sein, dass Tatbegehung durch den AN sehr wahrscheinlich ist AG muss alles Zumutbare zur Aufklärung des Verdachts unternehmen (insbesondere Anhörung des AN) hier (+) aa: 626 BGB belastet den Kündigenden mit der Beweislast Verdacht reicht gerade deshalb nicht, nur Suspendierung des Arbeitsverhältnisses als milderes Mittel zulässig b) Interessenabwägung Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist soziale Gesichtspunkte (z.b. eine lange Beschäftigungszeit) müssen bei so schwerwiegendem Verdacht zurücktreten c) Verdacht bisher nicht ausgeräumt E selbst hat nicht substantiiert bestritten 6
d) Frist des 626 II BGB 2 Wochen nach Kenntnis der den Verdacht begründenden Umstände (+) Kenntnis des L, nicht der untersuchenden Ärzte! 6. Ergebnis: Kündigung vom 15.11. wirksam Exkurs: falls Verdacht später ausgeräumt (nicht Einstellung mangels Beweisen uä. ) kommt ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht! Wiedereinstellungsanspruch bei betriebsbedingter Kündigung (BAG, NJW 1997, 2257): - dass der Arbeitsplatz entfällt, stellt sich vor Ablauf der Kündigungsfrist als fasch heraus - Arbeitgeber hat noch keine Dispositionen getroffen - Fortsetzung muss AG zumutbar sein III. Anspruch auf Lohnzahlung 1. 611 BGB (Lohn für November) E hat aber nicht gearbeitet 2. 615 BGB anteilig für Nov. a) Annahmeverzug gem. 293, 296 (+) Exkurs: kein Annahmeverzug bei Verdacht, der sich später als unbegründet herausstellt! Begr: 242 BGB, Unzumutbarkeit der Leistungsannahme ( 326 BGB: wegen Fixschuld entfällt Leistungspflicht und kein Verschulden vom AG; ausgehend vom 615 BGB käme es aber auf ein Verschulden nicht an) b) Anspruchsumfang aa) vereinbarte Vergütung richtet sich nach Arbeitsvertrag keine Erhöhung bb) TV nicht anwendbar cc) Betriebsvereinbarung ist nicht zulässig, Regelungssperre des 77 III BetrVG 7
dd) Lohnerhöhung = Vertragsänderungsangebot! nur an AN, die am 1.12. noch in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis standen E (-) ee) Anspruch aus arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (1) Grundlage und Inhalt Art. 3 GG IVm. 242 BGB; 75 BetrVG; Verteilungsgerechtigkeit hat anspruchsbegründende und den Vertragsinhalt bestimmende Wirkung kollidiert mit Vertragsfreiheit! (2) Anwendungsbereich Maßnahmen mit einseitiger Gestaltungsmacht auf nicht individueller Basis hier: Angebot an alle vergleichbaren AN Anwendungsbereich eröffnet; Ungleichbehandlung gekündigter AN ist gegeben (3) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung AGG (-) ja, wenn Lohnerhöhung wegen Betriebstreue erfolgt nein, hier erfolgt die Erhöhung rückwirkend, hat nichts mit der Honorierung einer etwaigen Betriebstreue in der Zukunft zu tun! Lohn ist Äquivalent für Arbeit; Gratifikation honoriert nicht Betriebstreue! Exkurs: im TV ist eine derartige Ungleichbehandlung zulässig und infolge dessen dann auch im Betrieb ff) keine anzurechnende Verdienste, 615 S. 2 BGB, 11 KSchG - es muss tatsächlich eine andere Verdienstmöglichkeit bestehen! 8
Ergebnis: E hat Anspruch auf die Hälfte des erhöhten Brutto-Verdienstes ½ November 9