Herrn Bernhard Schneider Hauptgeschäftsführung Evangelische Heimstiftung Stuttgart

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Transkript:

dip Hülchrather Str. 15 50670 Köln Herrn Bernhard Schneider Hauptgeschäftsführung Evangelische Heimstiftung Stuttgart Köln Vallendar 12.11.2012 Fachkräftemangel in der Pflege und Zugang zum Pflegeberuf Reform der EU-Berufeanerkennungsrichtlinie Ihr Schreiben vom 19.10.2012 - Offener Brief (per Mail) Sehr geehrter Herr Schneider, sehen Sie es mir bitte nach, dass ich Ihren offenen Brief vom 19.10. 2012 erst heute beantworte, aber als vermeintlicher Theoretiker, wie Sie mich schimpfen, hatte ich gerade in den letzten Wochen alle Hände und auch den Kopf voll zu tun mit lauter praktischen Dingen, die mir keine Zeit ließen, mich an ein Antwortschreiben zu begeben. Aber dazu weiter unten noch ein paar Hinweise. In der Einschätzung der derzeitigen Situation des Fachkräftemangels in der Pflege sind wir uns ja mit nahezu allen Experten einig: Der Mangel ist eklatant, weil der Markt inzwischen so gut wie leer gefegt ist! Ich kann Sie daher natürlich sehr gut verstehen, dass Sie, wie viele andere Träger und Verantwortliche in der Pflege auch, die derzeitige Situation als höchst bedrückend erleben und manchmal nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Überrascht sind wir indes nicht, dass es so gekommen ist. Wir vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e.v. (dip) und auch andere Forschungsinstitute haben diese zugespitzte Situation etwa seit zehn Jahren immer wieder vorhergesagt und auch davor gewarnt. Und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem es noch besser auf dem Pflegemarkt lief. Damals hat diese Thematik bedauerlicherweise kaum jemanden interessiert! Lesen Sie dazu bitte unsere Studien aus der Reihe Pflege-Thermometer unter www.dip.de. Auch gibt es keinen Dissens darüber, dass die Anforderungen an die Pflegeberufe gestiegen sind und in den nächsten Jahren weiter steigen werden. So haben wir heute in der stationären Altenhilfe und in der ambulanten Pflege einen weitaus höheren Anteil an schwerstdementiell erkrankten und somit stark pflegebedürftigen Menschen als noch vor zehn Jahren und diese Entwicklung wird weitergehen. In den Krankenhäusern beschleunigen sich alle Behandlungs- und Steuerungsprozesse mit der kontinuierlichen Verringerung der Aufenthaltszeiten der Patienten spürbar und fordern den Beschäftigten von Jahr zu Jahr immer mehr ab. Institut an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW) German Institute of Applied Nursing Research Standort Köln Hülchrather Str. 15 50670 Köln Tel. +49 (0) 221/ 46861-30 Fax +49 (0) 221/ 46861-39 Email dip@dip.de Internet www.dip.de Steuer-Nr. 215/5863/1064 Finanzamt: Köln-Mitte Vorsitzender des Vorstands Prof. Dr. Frank Weidner (Direktor) Vorsitzender des Verwaltungsrates Prof. Dr. Johannes Kemser Bankverbindung Bank für Sozialwirtschaft BLZ 370 205 00 Kto.-Nr. 83 222 00 Das gemeinnützige dip ist ein Forschungsinstitut der Hochschulen und Verbände KH Freiburg KH Mainz KSFH München KatHO NRW Köln Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar Deutscher Caritasverband e.v. Katholischer Krankenhausverband Deutschlands e.v. Katholischer Pflegeverband e.v.

2 In der Situationsbeschreibung der Pflege von heute herrscht also Konsens, aber, das Wissen und die Meinungen gehen bei den weiterführenden Fragen auseinander. Etwa bei der Frage, wie diese Situation des massiven Personalmangels in der Pflege eigentlich zustande gekommen ist und vor allen Dingen, was in Zukunft geschehen muss, um nachhaltig Abhilfe zu schaffen. Und da gehöre ich in der Tat zu denjenigen, die dafür plädieren, nicht weiter an den Symptomen eines vernachlässigten Pflegesystems herumzudoktern, sondern den Ursachen für diese zu beklagende Situation auf den Grund zu gehen und damit wirksame Änderungen für die Zukunft einleiten zu können. Auf keinen Fall dürfen wir heute so weitermachen, wie bisher! Die Frage ist also zunächst diejenige nach den Ursachen des Fachkräftemangels. Dabei spielt eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle, die sich auch noch gegenseitig beeinflussen. Es sind sehr komplexe und zudem auch noch dynamische Prozesse, die einfache Erklärungs- oder Lösungsansätze per se verbieten. Zu den Faktoren gehören die Pflegeausbildungen und deren Rahmenbedingungen, die Arbeitsbedingungen, das Qualitätsniveau der pflegerischen Versorgung, die Entlohnung bis hin zur Debatte des Mindestlohns, die Anteile der unterschiedlichen Kostenträgerschaften, Ansätze aber auch Mangel an Innovationen sowie die gesellschaftliche Bedeutung und das Image der Pflege um hier nur die wichtigsten zu nennen. Zahlreichen Studien und Untersuchungen lässt sich entnehmen, dass es in den meisten dieser Faktoren in den letzten zehn Jahren zwar auch positive Entwicklungen, aber auch viele Versäumnisse und schwerwiegende Fehler insbesondere auf der politischen Ebene gegeben hat, die die heutige Situation mit verschuldet haben. Besonders ärgerlich ist, dass der jetzige Fachkräftemangel in der Pflege nun in einer sehr verkürzten Form die öffentliche Debatte beherrscht und dabei zugleich auch einseitig instrumentalisiert wird. So wurden in den vergangenen zehn Jahren die Ausbildungskapazitäten in der Pflege sträflich vernachlässigt, obwohl regelmäßig auch von mir davor gewarnt wurde. Erst in den letzten beiden Jahren dreht sich das Blatt wieder und die Ausbildungsaktivitäten nehmen unter dem Eindruck des Pflegenotstands wieder zu, insbesondere in der Altenpflege. Das wird aber nicht verhindern, dass auch in den nächsten Jahren die Fachkräftemisere Bestand haben wird. Das liegt neben dem steigenden Neubedarf auch an dem immensen Ersatzbedarf an Fachkräften aufgrund von zunehmenden Teilzeitquoten und unverändert hohen Ausstiegsraten insbesondere älterer Beschäftigter aus der Pflege. Denn die Tatsache, dass es kaum eine anderen Beruf gibt, in dem die älteren Beschäftigten derart langwierig krank werden und derartig früh aus dem Beruf aussteigen, hat bislang nicht gerade zu politischen durchschlagenden Aktivitäten geführt. Wir mussten leider mit zwei unserer repräsentativen Studien (Pflege-Thermometer 2007 und 2009) zeigen, dass weder die Leitungen noch die Beschäftigten in der Pflege in Krankenhäusern in Deutschland auch nur über annähernd ausreichend vorhandene Konzepte für ältere Beschäftigte berichten konnten. Und auch die Öffnung der Pflegeausbildung für Absolventinnen und Absolventen mit Hauptschulabschluss (10. Klasse) haben wir für ein falsches und wirkungsloses Signal gehalten und sehen uns heute auch bestätigt darin, wenn wir die Statistik befragen. Wenn wir weiter fragen, warum das alles so gekommen ist, warum Fehler und Versäumnisse zu beklagen sind und warum z.b. die skandinavischen Länder diese Probleme bereits vor mehr als 20 Jahren erkannt haben, gegensteuern konnten und heute erheblich besser dastehen als wir, finden wir einige wichtige

3 Antworten. Im Kern geht es dabei um die gesellschaftliche Bewertung und Position der Pflege als weiblicher Dienstleistungsberuf und die vorhandene oder aber fehlende Bereitschaft in die entsprechende Infrastruktur öffentlich verstärkt zu investieren. Während die skandinavischen Länder auf eine Dienstleistungsorientierung gesetzt, mehr qualifizierte Stellen in der Pflege geschaffen, den zugrundeliegenden Pflegebegriff erweitert und die öffentliche Verantwortung, etwa in den Kommunen, für die alten und pflegebedürftigen Menschen ausgebaut haben, setzt Deutschland weiterhin auf ein im Kern familienorientiertes System (Stichwort vom größten Pflegedienst der Nation; gemeint sind die pflegenden Angehörigen, die immer noch sehr auf sich gestellt sind), auf einen zu engen Pflegebegriff und vernachlässigt nachhaltige Infrastrukturentwicklungen und öffentliche Investitionen im außerstationären wie im stationären Sektor. Ich empfehle Ihnen dazu die Lektüre des Gutachtens von Cornelia Heintze für die Friedrich Ebert Stiftung aus dem Sommer dieses Jahres. Es ist eine aufschlussreiche Vergleichsuntersuchung Deutschlands mit Skandinavien und erklärt die beschriebene hiesige Rückständigkeit und fehlende sozialpolitische Passung vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen hier bei uns sehr plastisch (Quelle: www.fes.de/forumpug/inhalt/publikationen. php). Hingegen ist Ihr Vergleich mit Portugal oder Spanien deswegen weniger hilfreich, weil diese Länder ganz andere gesellschaftliche und familiäre Strukturen und Bindungen haben. Die Sozialsysteme sind aus diesen und weiteren Gründen mehr noch als unsere stärker auf die familiären und weniger auf die serviceorientierten Leistungen ausgerichtet. Ganz zu schweigen von der dortigen Wirtschaftskrise, die derzeit alles überschattet. Würden wir bei der Pflege über einen wirtschaftlich auch im internationalen Wettbewerb als bedeutsam eingeschätzten Sektor sprechen, dann würde man heute konstatieren müssen: Der Pflegestandort Deutschland ist in Europa und in der Welt nicht wettbewerbsfähig! Und das lässt sich sogar nachweisen: Im Zeitraum von 2008 bis 2011 sind 4.931 in Deutschland ausgebildete Pflegefachkräfte in die EU und die Schweiz (2.245) ausgewandert und haben dort ihre Arbeit aufgenommen. Hauptauswanderländer in der EU sind Österreich (1.311) und Luxemburg (525). Damit liegt die Pflege an erster Stelle in der Statistik der mobilen Berufsgruppen, die von Deutschland in die Staaten der EU und die Schweiz ausgewandert sind! Aus all diesen Ländern sind jedoch im gleichen Zeitraum nur insgesamt 1.353 Pflegefachkräfte nach Deutschland eingewandert (Schweiz: 36, Luxemburg: 2). Der Saldo für Pflegefachkräfte beträgt damit für Deutschland insgesamt ein Minus von 3.578 Fachkräften für den betrachteten Zeitraum. Im gleichen Zeitraum haben sich aus allen Ländern 6.565 Pflegefachkräfte in Großbritannien niedergelassen, aber nur 530 haben das Land verlassen, d.h. das Land hat in den drei Jahren insgesamt mehr als 5.000 Fachkräfte aus anderen Ländern hinzugewonnen, davon alleine 279 aus Deutschland (Quelle: http://ec.europa.eu/internal_market/qualifications/ regprof/index.cfm). Das ist doch unglaublich! Seit einigen Jahren quält uns dieser Fachkräftemangel, wir beginnen über die Anwerbung von ausländischen Pflegekräften nachzudenken und derweil verlieren wir tausende wichtiger Fachkräfte ans benachbarte Ausland weil die Anreize und Bedingungen in hierzulande einfach nicht hinreichen! Das müssen wir jetzt begreifen und grundsätzlich gegensteuern. Mir geht es aber nicht in erster Linie um die Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Wichtiger ist die Frage, wie in zehn Jahren, wenn es keine Hauptschule mehr gibt und der Anteil der Abiturienten unter den Schulabgängern weiter gestiegen

4 ist, der innerdeutsche Wettbewerb um kluge Köpfe und soziale Charaktere zwischen der Pflege und allen anderen Berufsfeldern ausgehen mag. Dabei geht es u.a. auch um die Frage, ob wir die Standards der Pflege, die wir entwickelt haben, weiter aufweichen oder sukzessive anheben sollen. In diesem Zusammenhang schreiben Sie: Wir müssen alle Hemmnisse abbauen und neue Zielgruppen für die Pflegeausbildung gewinnen und das sorgt mich schon sehr, weil wir auch aus internationalen Studien wissen, dass dieser Weg der Absenkung der Standards auf Dauer die Wettbewerbsfähigkeit der Pflege und auch das Qualitätsniveau weiter schwächen wird. Damit bringen wir zwar ungewollt, aber doch fahrlässig die zu pflegenden und zu versorgenden Menschen in eine direkte Gefahr. Der Pflegewissenschaft in Deutschland, den Berufsverbänden der Pflege und mir geht es deshalb darum, jetzt die Ursachen der Pflegemisere zu begreifen, um sie von der Wurzel her zu bekämpfen und zugleich die Weichen zu stellen, damit wir in zehn Jahren in diesem Wettbewerb besser bestehen können. Übrigens, das hindert uns im dip nicht daran, Konzepte für die Einstiegsqualifikation zur Pflegeausbildung zu entwickeln, aber bitte ohne die Standards aufzuweichen, d.h. die Anforderungen an die Fachkraftqualifikation bleiben bestehen, nur die Wege werden vielfältiger! Zurück zum konkreten Thema. Ich bin davon überzeugt, dass es vom Grunde her falsch ist, mit einer Therapie der derzeitigen Situation nur bei der Frage der Quantität und der Qualität der Ausbildung unserer zukünftigen Fachkräfte anzusetzen. Mit einbezogen werden müssen die Fragen der Arbeitsbedingungen, der Bezahlung, der öffentlichen Wertschätzung, aber auch der Qualität und Angemessenheit pflegerischer Dienstleistungen, um auch hier nur die wichtigsten Themen zu nennen. Sie hätten mich falsch verstanden, wenn Sie davon ausgingen, dass ich die Anhebung der Zugangsvoraussetzungen für die Pflege auf europäisches Niveau als den heilsbringenden Weg verstehe. Das habe ich so nie gesagt. Insofern warne ich auch stets davor, die derzeitigen Fragen einzig auf die Aspekte des Berufszugangs oder des Fachkräftemangels oder andere Einzelfragen einzuengen, das greift viel zu kurz. Sie sprechen in Ihrem Schreiben auch von Zwangsakademisierung und zeigen damit, dass Sie offensichtlich nicht verstanden haben, dass es bei der Frage um die Anhebung der Voraussetzung zum Berufszugang nicht um Beruf oder Studium geht, sondern um Beruf und Studium. Das deutsche allgemein- und berufsbildende wie hochschulische Bildungswesen ist heute schon vielfältig und bietet bereits zahlreiche Wege an, Menschen in unterschiedlichen Systemen und auf verschiedenen Stufen zu qualifizieren. Alle modernen Bildungskonzepte und Qualifikationsrahmen setzen zunehmend auf Modularisierungen, Stufungen und Durchlässigkeiten. Die aktuellen Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen aus dem Juli 2012 weisen hier den Weg: Mittelfristig wird dort angeraten, den Anteil der akademisch qualifizierten Pflegefachkräfte auf etwa 20% zu bringen. Das halte ich auch für realistisch und gehe dabei selbstverständlich davon aus, dass davon ein größerer Anteil auch in der Praxis mit Menschen arbeitet. Ja, warum denn nicht? Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Medizinerinnen und Mediziner, Psychologinnen und Psychologen studieren doch auch und arbeiten hinterher direkt in ihrer Praxis mit Menschen!

5 Sie verweisen in Ihrem Schreiben auch auf die derzeitige Statistik und dass es in der Altenpflege kaum mehr als 10% Abiturienten gibt. In der Gesundheitsund Krankenpflege sind das hingegen heute bundesweit schon knapp 50%. Die Frage ist also auch die, warum die Altenpflege nicht zumindest vergleichbar viele höher qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber wie die Krankenpflegeberufe erreicht? Zugleich möchte ich zu bedenken geben, dass diese Befunde nicht als Prognose für die Zukunft taugen. Denn sollte es zu einer Anhebung der Zugangsvoraussetzungen für die Pflegeausbildung in Europa kommen und sollte es zugleich zu einer Generalisierung, aber auch zur weiteren Ausdifferenzierung der Stufen der Pflegeausbildungen kommen, dann hätten wir im Jahr 2020 und danach ganz andere Voraussetzungen. Ein Anteil von 50% Abiturienten dürfte dann hinreichend sein (wobei wir aus anderen Ländern wissen, dass mit einer höheren Attraktivität eines Berufsfeldes auch die Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber steigt), wenn der andere Teil über verschiedene berufliche Qualifikationswege (z.b. neue zweijährige Pflegeassistenzberufe) die Äquivalenz zum Einstieg in die Fachkraftausbildung oder das Pflegestudium erreichen würde. Obwohl ich mich immer wieder für eine konsequente Modernisierung der Pflege in Deutschland einsetze, liegt mir eine Diffamierung der heute in der Pflege Beschäftigten fern, zumal das der Beruf ist, den ich selbst gelernt und rund 15 Jahre lang mit vielen Kolleginnen und Kollegen ausgeübt habe. Es kann aber nicht sein, dass Vorschläge für einen als notwendig erachteten Fortschritt schon im Keim erstickt werden, weil sie als Herabstufung der derzeitig Beschäftigten umgedeutet werden. Jeder der so argumentiert muss sich klar darüber sein, dass er damit den Status Quo zementiert. Es muss auch weiterhin möglich sein, in die Zukunft zu blicken, den Fortschritt zu konzipieren und damit nicht zugleich dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, dass man die Vergangenheit und Gegenwart damit herabwürdigt. So kommen wir nicht voran. Natürlich geht das alles, was nötig ist, um die Pflege zu modernisieren, nicht von allein. Ich gehöre zu denjenigen, die selbstverständlich davon ausgehen, dass wir in Deutschland neben der notwendigen Überzeugungsarbeit auch öffentlich und privat mehr in den Pflegesektor investieren müssen. Deutlich mehr! Nun wird man mir entgegnen, wie das wohl gehen soll, angesichts leerer Kassen und öffentlicher Sparappelle? Ich würde antworten, dass in Zeiten, in denen die Bundeswehr ohne lange Diskussion zur Berufsarmee umgebaut wird, in der die Entscheidung, dass die Hauptschule aus dem Bildungswesen verschwinden wird in einem überraschend überschaubaren Zeitraum fällt und in der kurzerhand der Atomausstieg beschlossen wird, wir durchaus erwarten können, dass auch im Bereich der Pflege angesichts des laufenden demografischen Wandels Grundsätzliches entschieden werden könnte. Das Fukushima in der Pflege kommt aber schleichend daher, das scheint die Bedrohung harmloser zu machen. Ich möchte es mir nicht vorstellen, aber ich bin mir sicher und die mir zur Verfügung stehenden Studien und Erkenntnisse weisen eindeutig darauf hin: Wenn wir so weitermachen, wie bisher und obendrein auch noch die Standards der Pflege absenken - und anders kann ich Ihre Vorschläge nicht verstehen - dann werden wir in zehn Jahren einen Fachkräfteund Qualitätsmangel in der Pflege beklagen, gegenüber dem die heutige Situation mit Verlaub noch einigermaßen harmlos ist. Und das will ich nicht!

6 Meine Verantwortung als Christ, als Angehöriger des Pflegeberufes und als Pflegewissenschaftler ist diejenige, heute Beiträge zu leisten, um die Weichen für einen modernen und wettbewerbsfähigen Pflegeberuf in die Zukunft zu stellen, der den Kranken, Alten, Pflegebedürftigen und Behinderten und ihren Angehörigen aber auch den Beschäftigten und Arbeitgebern auch zukünftig noch verantwortbare und Perspektiven bietet. Deutschland kann das schaffen, wenn es will und mutig (!) genug dazu ist. Das ist meine Überzeugung, dafür setze ich mich ein und übernehme auch Verantwortung dafür. Abschließend sei mir noch erlaubt auf Ihren Vorwurf einzugehen, ich sei ja nur ein Theoretiker! Abgesehen davon, dass ich seit Jahren meinen Studierenden vermittele, dass die Aufteilung der Welt in Theoretiker auf der einen und Praktiker auf der anderen Seite jeder vernünftigen Grundlage entbehrt, würden Sie sich wundern, wie praktisch die Arbeit eines Pflegewissenschaftlers aussehen kann. Theorie und Praxis gehören untrennbar zusammen, nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft! Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Unsere Studien und Projekte im dip haben jede Menge praktische Ergebnisse gezeitigt. Machen Sie sich bitte einmal die Mühe und schauen durch die rund 80 Projekte, die wir im Institut seit dem Jahr 2000 umgesetzt haben. Dann sehen Sie beispielsweise, dass wir diejenige wissenschaftliche Studie durchgeführt haben, die die Entscheidungen zur Generalisierung der Pflegeausbildungen maßgeblich beeinflusst hat ( Pflegeausbildung in Bewegung ). Sie werden auch sehen, dass auf der Grundlage der von uns konzipierten und durchgeführten Landesberichterstattung Gesundheitsberufe in NRW die Ausbildungsumlage in diesem Bundesland im vergangenen Jahr eingeführt worden ist und daraufhin bis heute bereits mehrere tausend (sic!) neue Ausbildungsverhältnisse in der Altenpflege entstanden sind. Und schauen Sie doch auch einmal nach, wer als erstes den Exodus der Pflege aus dem Krankenhaus mit nahezu 50.000 abgebauten Vollzeitstellen von 1995 bis 2005 beschrieben hat. Auch aufgrund dieser erschreckenden Zahl von uns ist es den Verbänden und Gewerkschaften gelungen, der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt das Sonderprogramm zur Einstellung von 17.000 zusätzlichen Pflegekräften in deutschen Krankenhäusern abzuringen. Sie würden sich sicherlich wundern, wie praktisch meine Arbeit in Köln und Vallendar als Gründungsdekan der ersten universitären Fakultät für Pflegewissenschaft ist (www.pthv.de), und wie vertraut mir z.b. auch die Fragen der Organisations- und Personalentwicklung sind. Also vergessen Sie bitte diese Zuschreibung: hier die Praktiker, dort die Theoretiker. Sie taugt nicht. Gerne können wir die Diskussion bei Gelegenheit einmal vertiefen und fortsetzen. Bisweilen würde ich mir wünschen, dass Sie sich meiner Literaturempfehlungen und doch hoffentlich auch einiger Argumente annehmen. Mit freundlichen Grüßen Univ.-Prof. Dr. Frank Weidner Direktor