I Allgemeines Die Geschichte Thailands unter dem Blickwinkel der Geschichte von Nuad Bis Mitte des 13. Jahrhunderts war Siam (das jetzige Thailand) in der Herrschaft der Khmer, danach das Reich von Sukkothai, weiters das Reich von Ayuthya bis 1765 mit dem heutigen Ayutthaya als Hauptstadt. Nach der Zerstörung Ayutthayas und einer Interimsperiode in Thonburi wurde Bangkok 1782 die Hauptstadt des sich ausdehnenden Reiches Siam, das Ende des 19. Jahrhunderts große Gebiete des heutigen Laos und Kambodscha an Frankreich und England abgeben musste, um kein Kolonialstaat zu werden. Die ältesten berühmten Belege für Nuad stammen aus 1687 n. Chr. in der Ayuthya-Zeit, als der französische Gesandte La Lubiere meinte: Wenn in Siam jemand erkrankt, wird eine Massage-erfahrene Person helfen, den Körper zu strecken, indem sie auf den Rücken steigt. Man sagt auch, dass eine Schwangere es schätzt, wenn ein Kind auf ihren Rücken steigt, um die Geburt zu erleichtern. Entsprechend der Überlieferung gab es sogar Aufzeichnungen in Pali-Sprache, diese Texte wurden aber leider mit der Zerstörung der Hauptstadt verbrannt. Etwas später, unter König Rama I. (1782 1809 n. Chr.), entwickelte sich eine Renaissance der traditionellen Medizin. Ein Tempel (Wat Phra Chetupon Wimonmungklaram, jetzt Wat Pho genannt) wurde zum Zentrum der traditionellen Heilkunst und auch zum Zentrum für Nuad. Der Beginn der Dokumentation von heilsamen Körperhaltungen und Energielinien stammt aus jener Zeit. König Rama III. (1824 1851 n. Chr.) etablierte die erste Universität in Siam im Tempel Wat Pho. Hauptrichtung der akademischen Bestrebungen waren traditionelle Heilmethoden. 80 Statuen mit Yoga- (oder Yoga-ähnlichen) Positionen wurden aufgestellt, ihre Durchführung und Anwendung und ihre Heilzwecke wurden beschrieben. König Chulalongkorn, Rama V. (1868 1910 n. Chr.), nach dem auch die berühmte Universität in Bangkok benannt wurde, setzte die Bestrebungen von König Rama III. fort und förderte Anwendung und Forschung betreffend Nuad. Er sammelte sämt- 10
liches Wissen über traditionelle Medizin, Nuad und Yoga-Positionen, war aber westlichen medizinischen Erfahrungen gegenüber auch aufgeschlossen. Er war der erste König, der die Errichtung eines westlichen Krankenhauses genehmigte, wo sowohl traditionelle Methoden als auch westliche Heilweisen angewendet wurden. Nach König Rama V. begann die westliche Medizin die traditionellen Künste, so auch Nuad, in ihrer Popularität zu verdrängen, wenn sie auch, besonders bei der einfachen Bevölkerung und in den Tempeln, nie vergessen wurden. 1933 verkündete der damalige Herrscher, König Rama VII., aufgrund starken Drucks seitens der Bevölkerung eine konstitutionelle Verfassung. 1939 wurde Siam in Thailand umbenannt, um damit alle Thais, auch jene in den Nachbarländern, unter den zumindest ideologischen Herrschaftsanspruch zu stellen. Thailand, nach dem Zweiten Weltkrieg USA-freundlich, erlaubte die Stationierung von US-Truppen während des Vietnamkriegs, an dem es auch teilnahm. Möglicherweise stammt aus jener Zeit die irreführende Gleichsetzung von thailändischer Massage mit Prostitution. In den Jahren 1977 und 1978 finanzierte die WHO (World Health Organisation) Forschungen über traditionelle Heilmethoden auf internationaler Ebene, so auch in Thailand. Seit damals entwickelte Thailand Standards zur Aus- und Fortbildung und verlangt seit 2004 für die berufliche Anwendung einen entsprechenden Ausbildungsnachweis. Medizinische Grundlagen für die Arbeit mit Nuad Einteilung des Bewegungsapparates Kopf mit Rumpf: Kopf, Wirbelsäule, Brustkorb, Bauch Obere Extremitäten: Schultergürtel, Arm, Hand Untere Extremitäten: Beckengürtel, Bein, Fuß Die Bewegungen der Extremitäten erfolgen auch mit Muskeln, die am Rumpf entspringen, das bedeutet, dass wir z. B. für das Treppensteigen Muskeln aktivieren, die am Bein ansetzen, deren Ursprung an der Wirbelsäule liegt (M. iliopsoas); oder M. pectoralis (Brustkorb-Oberarm) für den Arm. Interessant ist, dass der Schultergürtel nur mit einem kleinen Gelenk, der Art. sternoclavicularis, am Rumpf (Brustbein) verbunden ist. Dieses wird allerdings von einem großflächigen Muskelpanzer unterstützt (z. B. M. trapezius, Mm. rhomboidei, M. pectoralis). Die Verbindung der Wirbelsäule zum Becken, die Art. iliosacralis, ist ein besonderes Gelenk, weil es nur einen geringen Bewegungsspielraum aufweist. Die Kippung des Beckens erfolgt hauptsächlich in der Lendenwirbelsäule. Wichtiges Hilfsmittel zur Erhaltung der Mobilität sind die Knorpelscheiben, als Menisken im Knie oder Bandscheiben zwischen den Wirbelkörpern. Sie gewährleisten das mühelose Kippen, Rotieren und Neigen der Gelenksflächen gegeneinander. Und der Abstand der Wirbelkörper 11
zueinander ist bedeutsam für die Funktionsfähigkeit der Nervenbahnen, da diese sonst gedrückt werden, was bis zu Lähmungserscheinungen führen kann. Was bedeutet das für Nuad: Die meisten Bewegungen, die wir an den Extremitäten ausführen, wirken auch (wohltuend) am Rumpf, z. B. kann Zug am Fuß Kopfnicken veranlassen. Aufbau der Skelettmuskulatur Die kleinste Einheit sind Aktin/Myosin-Filamente: Eiweißkörper, die sich bei Befehl zur Kontraktion verbinden und wieder loslassen sollen, um dann erneut kontraktionsfähig zu sein. Viele solcher Filamente ergeben eine Fibrille, viele Fibrillen bilden einen Muskel, der von einer dünnen Haut umgeben ist. Diese Haut (Muskelbindegewebe = Faszie) wird zur Sehne und setzt meist an Knochen an. Jenes Muskelende, das stabil sein soll, wird Ursprung genannt, das bewegliche Ende als Ansatz bezeichnet. Der Ursprung liegt meist körpernah, der Ansatz körperfern, Ausnahmen gibt es, z. B. M. sternocleidomastoideus, der mit Ursprung am Schultergürtel den Kopf wendet. Eine Skelettmuskelfaser kann bis zu 15 cm lang sein. Im Muskel liegen Blutgefäße, Lymphbahnen und Nerven, um die Versorgung und Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Eine Muskeleinheit mit dazugehörigem Sehnenteil heißt Myotenon. Schmale Muskeln (M. gracilis) sind ein einziges Myotenon, breitere Muskeln bestehen aus mehreren Einheiten (M. glutaeus). Was bedeutet das für Nuad: Muskeldehnung heißt Dehnung von der kleinsten Einheit, dem ganzen Muskel, über die Sehne bis hin zum Zugreiz am Knochen. Auch sämtliche Gefäße werden mitgedehnt. Unterteilung der Skelettmuskeln nach ihrer Funktion Posturale (= tonische) Fasern: sind langsam, gut durchblutet, enthalten viele Spindelzellen, ermüden kaum, gewinnen ihre Energie aus Glykogen und Fett, hoher Sauerstoffverbrauch, geringe Milchsäureproduktion, wichtig für Haltefunktion. Bewegungsmangel führt zu Verkürzung. Phasische Fasern: sind schnell, sind weniger durchblutet, enthalten wenig Spindelzellen, ermüden rasch, gewinnen Energie nur aus Glykogen ohne Sauerstoff, schnelle und starke Milchsäureproduktion, wichtig für schnelle Kontraktion. Bewegungsmangel führt zu Schwächung des Muskels. Muskeln können beide Anteile (posturale und phasische) enthalten, wobei einer überwiegt. Beispiel: Der M. erector spinae im thorakalen Bereich ist vorwiegend phasisch, während der M. erector spinae im lumbalen Bereich eher postural ist. Muskeln, die einen höheren Grundtonus brauchen (z. B. um den Kopf zu halten), sind meist tonisch. Posturale und phasische Muskeln sind oft Antagonisten, z. B. M. iliopsoas beugt in der Hüfte und ist vorwiegend postural, M. glutaeus maximus streckt in der Hüfte und ist vorwiegend phasisch. 12
Überwiegend posturale Muskeln: M. erector spinae (LWS, HWS), M. quadratus lumborum, Mm. scaleni, M. pectoralis major, M. levator scapulae, M. trapezius (descendens), M. biceps brachii, Ischiocrurale Muskulatur, M. iliopsoas, M. quadriceps (rectus femoris), M. tensor fasciae latae, Adduktoren, M. piriformis. Überwiegend phasische Muskeln: M. erector spinae (BWS), Mm. rhomboidei, M. trapezius (transversus, ascendens), M. pectoralis (abdominalis), M. triceps, M. quadriceps (vastus med et lat), Glutaen, M. tibialis anterior, Mm. peronaei. Die Verkürzung der posturalen Muskeln verläuft in zwei Phasen: Die erste Phase charakterisiert eine Tonussteigerung und soll daher mit entspannendem Druck (ruhig, tief und langsam) ausgeglichen werden. Die zweite Phase geht mit einer morphologischen Gewebeveränderung einher und bedarf starker Dehnreize. Phasische Muskeln vertragen kräftiges, dynamischeres Drücken zur Regeneration und Aktivierung. Muskelaufbau, -abbau, Länge und Dehnfähigkeit sind abhängig von der Beanspruchung. Durch übermäßigen Reiz zur Kontraktion im Verhältnis zur Dehnung und Entspannung verliert der Muskel die Dehnfähigkeit und ist verletzungsgefährdet. Dasselbe gilt natürlich für die Sehnen, z. B. die Achillessehne. Da Sehnen nicht gut durchblutet sind und weniger dehnbar als Muskel, ist die Verletzungsgefahr noch größer. Was bedeutet das für Nuad: Sie können mit Nuad die Dehnfähigkeit unterstützen und positive Impulse für entsprechende ausgleichende Bewegungen (z. B. mittels Yoga) im Alltag geben. Gelenksaufbau und -versorgung Gelenke sind grundsätzlich überall dort zu finden, wo zwei Knochen zusammentreffen, egal wie sie verbunden sind oder wie beweglich sie sind. Synarthrosen werden auch als Bandhaft bezeichnet, besitzen keinen Gelenkspalt und sollen, wie der Name schon sagt, zwei Knochen möglichst stabil zusammenhalten (z. B. die Verbindung zwischen den beiden Schambeinen, die Symphyse, oder auch die Verbindung zwischen den Schädelknochen). 13
Amphiarthrosen haben sehr geringen Aktionsradius, werden durch straffe Bänder fixiert (z. B. die Verbindung zwischen Kreuzbein und Darmbein, das Iliosakralgelenk = ISG). Eine Diarthrose besteht aus: 2 Knochen, die Kopf und Pfanne bilden, Knorpel als Schutzschicht auf beiden Knochenenden, Kapsel, die aus 2 Membranen besteht und das Gelenk schützt, führt und ernährt, Hilfsstrukturen (innere): Bandscheiben oder Menisken, Lippen und Falten (von Membran gebildet), Hilfsstrukturen (äußere): Schleimbeutel, Sehnenscheiden, Sesambeine, Bänder, Synovia (Gelenkschmiere), Blutgefäßen, Nerven, Lymphbahnen. Die Außenschicht der Gelenkkapsel (Membrana fibrosa) schützt das Gelenk vor Folgen von falschen Bewegungen, d.h. Verschiebungen der Gelenkflächen, und wird von Bändern unterstützt. Das gibt Führung und Halt im Gelenk. Die Innenschicht (Membrana synovialis) besteht ebenso aus zwei Schichten: der Intima und der Subintima. Die Subintima enthält viele Nerven und Gefäße und ermöglicht dadurch die Produktion der Synovia. Die Synovia wird von der innersten Membran der Gelenkskapsel (Intima) abgegeben, sie regeneriert die Substanz des hyalinen Knorpels (auf Kopf, Pfanne und tw. Menisken und Bandscheiben). Bei einer Verstauchung im Gelenk wird die Subintima stark gedehnt, die Gefäße werden durchlässiger, das Gelenk schwillt an, die Kapsel wird gedehnt. Die Kapselsensoren schicken den Reizimpuls an das Nervensystem (sensorische Fasern im Hinterhorn des Rückenmarks), das mit Hemmung der betreffenden Muskeln antwortet (motorische Fasern des Vorderhorns). Über längere Zeit geschwächte Muskeln beeinflussen die Belastbarkeit des Gelenks negativ. Der Gelenkknorpel, der bekanntlich keine Blutgefäße enthält und somit von der kapillaren Versorgung nicht erreicht werden kann, ist auf die Synovia angewiesen. Seine Ernährung und Regeneration erfolgt durch Diffusion und ist bewegungsabhängig. Bewegungsmangel führt zu verringerter Produktion der Synovia, wodurch es zu Substanzmangel am Knorpel kommt. Um den Gelenkknorpel gesund zu erhalten, muss er gleichmäßig be- und entlastet und die Kapsel gedehnt werden. Einseitigkeit führt zu starkem Druck und entsprechender Abnutzung und damit zu Schmerzen. Die Folgen reichen von Gelenksentzündung bis zu Degeneration, weitgehendem Knorpelverlust bis hin zu Knochenabrieb (Arthrose) mit der Notwendigkeit einer Operation. Was bedeutet das für Nuad: Um diesem Prozess vorzubeugen, können Sie neben entsprechenden aktiven Übungen mit Nuad die Gelenke entlasten und besonders durch sanften Zug die Kapseln dehnen. 14