Stuttgart, 19. Juni 2013 KVJS-Forschungsvorhaben Auswirkungen der Ganztagsschule auf die Kinder- und Jugendhilfe - Ergebnisse - Fachtagung am 19. Juni 2013 im KVJS-Tagungszentrum Gültstein Begrüßung durch Truda Ann Smith Geschäftsführerin des Instituts für soziale Arbeit e.v. (ISA) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe mich sehr auf den heutigen Tag gefreut und möchte Sie im Namen unserer Forschungsgruppe herzlich begrüßen. Im Zuge der verstärkten Einführung von Ganztagsschulen und Ganztagsangeboten im gesamten Bundesgebiet erfährt die Kooperation von Jugendhilfe und Schule große Aufmerksamkeit. Es ist selten, dass unser Thema eine so breite Öffentlichkeit erreicht wie in den letzten Wochen - sogar die Abendnachrichten thematisierten den Ganztag. Dies zeigt uns, dass die Thematik zunehmend gesamtgesellschaftliche Relevanz erhält und zu einer wichtigen Aufgabe geworden ist. Das Themengebiet Kooperation von Jugendhilfe und Schule ist nicht neu. Es ist viel eher ein Dauerbrenner. Aber gegenwärtig wird es jedoch in einer völlig neuen Vielfalt und Reichweite diskutiert. Nachdem viele Jahre die Schulsozialarbeit als Kooperationspunkt im Mittelpunkt stand, treten nun schulbezo-
gene Leistungen nahezu aller Jugendhilfeangebote hinzu: Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit in der Schule, die besondere erzieherische Förderung unter Einbeziehung von Erziehungshilfeträgern oder Erziehungsberatung sowie die Gestaltung von Übergängen zwischen Kindertagesstätte und Grundschule, ebenso von der Schule in Ausbildung und Beruf. Ebenfalls ist das Thema Bildungsbenachteiligung junger Menschen in prekären Lebenssituationen stärker denn je in den öffentlichen Fokus gerückt. Es genügt nicht mehr einen stichtagsbezogenen und institutionell abgeleiteten Blick auf ihre Entwicklung zu haben, sowohl Praxis als auch Wissenschaft zeigen uns, dass individuelle Förderung einer Kooperation der drei Systeme Jugendhilfe, Schule und Gesundheit bedarf, und dass wir dies am Effektivsten sozialräumlich organisieren können, weil dort das Leben unserer Kinder und Jugendlichen stattfindet. Ganztagsschulen wurden und werden in Deutschland ausgebaut, um folgende Ziele zu erreichen: Der Bildungserfolg junger Menschen soll erhöht werden, die Schule soll zu einem Zentrum des sozialräumlichen Lernens werden, die Entwicklungsförderung soll im Zusammenspiel aller relevanten Professionen stattfinden und schließlich soll auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch verlässliche Betreuungen optimiert werden. Der Ganztagsschulausbau ist auch in Baden-Württemberg mit politischen Förderprogrammen in der jüngeren Vergangenheit erkennbar vorangetrieben worden. Bis zum Schuljahr 2014/15 soll in Baden- Württemberg ein flächendeckendes und bedarfsorientiertes Netz von Ganztagsschulen aufgebaut werden. Mein Institut ist Träger der Serviceagentur für ganztägig Lernen in NRW und meine Kolleginnen und Kollegen wissen, wie anspruchsvoll ein sol- 2
ches Vorhaben ist, wie aufwendig und intensiv die Veränderung der bisherigen Praxis erfolgen muss, ja vor allem wie sensibel Kooperationsprozesse entwickelt werden müssen. Kooperation ist eine Urvoraussetzung der Zivilisation, sie braucht Zeit sowie Visionen und Ziele. Kooperation im Ganztag beginnt nicht bei Null, die Akteure bringen ihre Fachkenntnisse und ihre eigene Erfahrungen ein. Meine Erfahrung zeigt dabei, dass Kooperation gut gelingen kann, wenn man Zeit einkalkuliert und auf die Vielfalt an diese Erfahrungen baut und diese auch ausschöpft. Wenn hierbei eine landesweite Strategie verfolgt wird, die dann auch den Kommunen Sicherheit beim Ausbau der Ganztagschulen und einer schulbezogenen Kinder- und Jugendhilfe geben können, sind die Bedingungen optimal. Auch wenn die konzeptionelle Ausgestaltung der Ganztagsschule in Baden-Württemberg noch nicht abschließend geklärt ist und eine schulgesetzliche Verankerung aussteht, machen sich die Akteure bereits jetzt auf dem Weg. Wie in jeder Kooperation ist es elementar, die eigenen Arbeitsweisen und Konzepte zu überprüfen. Dies heißt für die Kinder und Jugendhilfe, sich ihrer eigenen schul- und bildungsbezogenen Position sicher zu sein. Dabei zeigt sich hier wie im gesamten Bundesgebiet die eingangs erwähnte neue Reichweite des Anliegens: Es geht um das Zusammenwirken dreier Systeme mit jeweils einem eigenen fachlichen Fokus auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Der jeweilige Fokus aus Sicht der Schule, der Jugendhilfe und der Gesundheit ist nicht identisch, sie wirken hier ergänzend. Die grundsätzlichen Strukturen der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe stehen also auf dem Prüfstand. 3
Ich sehe, dass auch in Baden-Württemberg Ganztagsschulen ein hervorragendes Setting darstellen um junge Menschen durch erweiterte zeitliche, räumliche und konzeptionelle Spielräume zu fördern. Aus deren Blick ist es nicht essentiell, wer welche Angebote bereitstellt, sondern, dass ihre Lebenswelten Berücksichtigung finden und abgebildet werden und sie dort multiprofessionelle Unterstützung und Begleitung zur Bewältigung ihre Entwicklungsaufgaben genießen und Vertrauenspersonen finden. Der Ausbau der Ganztagsschule berührt die Kinder- und Jugendhilfe nicht nur, weil sie als wichtiger Partner an der Umsetzung ganztägiger Organisationsformen der Schule mitwirkt, sondern auch aufgrund entstehender Wechselwirkungen, die sich zwischen der Anregung innovativer Angebote schulbezogener Kinder- und Jugendhilfe sowie Konkurrenz im Sinne des Leistungsum und -abbaus in den Stadt- und Landkreisen zeigen können. Wie sich die Auswirkungen des Ausbaus von Ganztagsschulen die Kinder- und Jugendhilfe konkret und langfristig verändern, ist bisher wenig erforscht. Dies thematisiert auch der 14. Kinder- und Jugendbericht. Mit dem Forschungsvorhaben in Baden-Württemberg wurde in einem ersten empirischen Ansatz dieser Fragestellung nachgegangen. Bereits im Jahr 2010 hatte das KVJS-Landesjugendamt dem Forschungsverbund aus Hochschule Osnabrück und Institut für soziale Arbeit e.v. den Auftrag erteilt, diese Berührungspunkte der Kinder- und Jugendhilfe mit Ganztagsschulen landesweit und mit exemplarischen lokalen Analysen darzustellen und mögliche spezifische Entwicklungen (wie auch Anforderungen) in den Feldern der Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung sowie Tagesbetreuung für Schulkinder zu ermitteln. Der Schwerpunkt 4
des Forschungsdesigns lag auf der Perspektive der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg und wurde durch einzelne Befragungen im Feld der freien Kinder- und Jugendhilfe ergänzt. Die Ergebnisse der Erhebungen wurden bereits prozessbegleitend auf der Homepage des KVJS dokumentiert und sollen heute im Überblick dargestellt werden. Insbesondere in den Workshops wollen wir Ihnen die Gelegenheit geben, die Befunde vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen vertiefend zu diskutieren und Entwicklungsperspektiven in den Jugendhilfefeldern abzustecken. Die Workshops sollen auch ein symbolischer Start der lokalen Arbeit mit dem als Gesamtergebnis des Forschungsprojektes veröffentlichten Handbuch (inkl. CD-ROM) sein. Es soll den lokalen Akteuren in der Kinder- und Jugendhilfe die Möglichkeit bieten, eine Bestandsaufnahme der (bisherigen) Strategien im Zuge des Ganztagsschulausbaus vorzunehmen. Hierzu dienen als Grundlage der bestehenden Informationen seitens der Sozial- und Jugendhilfeplanung, der schulbezogenen Arbeitsbeziehungen und Schwerpunktsetzungen in der Kinder- und Jugendhilfe sowie von Diskussionsprozessen in Gremien, Arbeitsgruppen bzw. der kommunalen Positionierung und der Willensbildung aller beteiligten Akteure. Wie kann die Kinder- und Jugendhilfe unter dem Einfluss des Ausbaus der Ganztagsschulen in der Zukunft aussehen? Wie kann Kinder- und Jugendhilfe selbst eine initiierende und aktive Rolle in der Schulentwicklung einnehmen, um sozialpädagogische Grundsätze in die ganztägige Förderung junger Menschen einfließen zu lassen? Diese Positionierung der Kinder- und Jugendhilfe hängt nicht nur vom Wissen um ihren gegenwärtigen Stand und ihre Spielräume in der Ganztagsschulentwicklung ab, sie gründet zudem natürlich auf einem fachlichen und fachpoliti- 5
schen Bewertungsrahmen, anhand dessen die Forschungsbefunde und die lokale Standortbestimmung reflektiert werden sollten. Wir wollen die Tagung heute dazu nutzen, diesen Fragen gemeinsam nachzugehen. Dass wir hierfür Befunde zur Situation im Land vorstellen können, ist wesentlich dem Engagement der befragten Personen in der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe zu verdanken. Ohne diese Beteiligung könnten wir heute diesen Auftakt in eine Jugendhilfeentwicklung in Baden-Württemberg, die durch Ganztagsschulen ausgelöst wird, nicht aber nur auf sie bezogen sein muss und sollte, nicht derart fundiert angehen. Hierfür danke ich Ihnen nochmals im Namen des Forschungsverbundes ganz herzlich. Ich möchte auch diese Möglichkeit nutzen, dem KVJS-Landesjugendamt für die gute Zusammenarbeit zu danken und dass Sie uns diese Chance geboten haben unser fachliches Wissen zu vertiefen. Die überaus positive Zusammenarbeit mit den Kollegen Herrn Kaiser, Herrn Miehle-Fregin und Herrn Sprenger war im gesamten Projektverlauf sehr konstruktiv und eine wichtige Grundlage für den erfolgreichen Abschluss des Vorhabens. Letztlich möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen unseres Team für ihre besonders harte Arbeit und Engagement danken und dass sie diese Chance der Forschung an einem richtungweisenden Thema im Land so hervorragend umgesetzt haben. Ich wünsche uns allen eine anregende Diskussion und eine ertragreichen Verlauf der heutigen Veranstaltung. 6