Dr. Henning Tegtmeyer, Institut für Philosophie, Universität Leipzig, Beethovenstr. 15, Leipzig

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Sektion Metaphysik/Ontologie Freiheit im Materialismus? Dr. Henning Tegtmeyer, Institut für Philosophie, Universität Leipzig, Beethovenstr. 15, 04107 Leipzig tegtmey@uni-leipzig.de Die Debatte über die Möglichkeit von Willensfreiheit wird zu Recht allgemein als ontologische aufgefasst. Sie kann aber nicht auf fruchtbare Weise als Streit über die (Un-) Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus geführt werden. Ihre Motivation bezieht sie letztendlich vielmehr aus der Frage, ob Freiheit des Willens im Rahmen einer materialistischen Ontologie denkbar ist. Materialistisch ist eine Ontologie dann, wenn sie die These enthält, dass die Materie erster und einziger Seinsgrund alles Seienden ist. Allerdings bleibt das in der Debatte selbst meist verborgen. 1 1. Kompatibilistische Explikationen des Freiheitsbegriffs Lässt man das einfache Konzept der negativen Freiheit beiseite, wonach Freiheit mit der Abwesenheit von äußerem Zwang gleichgesetzt wird, 2 so scheint zunächst ein psychologischer Begriff negativer Freiheit nahezuliegen. Frei ist ein Akteur demnach dann, wenn er das bejaht, gutheißt oder wenigstens akzeptiert, was er tut, indem er es tut, unfrei dagegen, wenn er sein Tun in actu ablehnt, verabscheut oder anderweitig nicht akzeptiert. Frankfurts Explikation freien Wollens steht in dieser Tradition. 3 Denn nach Frankfurt wird eine Handlung dann als frei erfahren, wenn die kausal allein relevanten Volitionen erster Stufe nicht mit den reflexionsbestimmten Volitionen zweiter Stufe kollidieren; andernfalls erlebt sich der Handelnde als unfrei und mit sich selbst nicht im Reinen. Dieser negative Freiheitsbegriff lässt keinen Raum für die unmittelbare Kontrolle der Volitionen erster Stufe, also der eigentlichen Ursachen des Handelns, durch diejenigen zweiter Stufe. Der Wille ist hier kein genuin praktisches Vernunftvermögen. Frankfurt glaubt ferner ohne das Prinzip der alternativen Möglichkeiten auszukommen. Dieses besagt, dass eine Person nur dann frei handelt und für ihre Handlungen verantwortlich ist, wenn sie anders hätte handeln können, als sie es getan hat. 4 Dagegen sei eine Person, so Frankfurt, unter Umständen auch dann als frei anzusehen, wenn 1 Das gilt auch für die von Ansgar Beckermann, Geert Keil, Jasper Liptow und Gerson Reuter geführte Kompatibilismus-Debatte; vgl. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 36 (2011) 2. Beckermanns Position, die er selbst als naturalistisch bezeichnet, ist aber durchaus materialistisch im hier einschlägigen Sinn, da sie implizieren soll, dass die Annahme einer Seele verzichtbar sei; vgl. ebd., S. 224. 2 Vgl. Physik, 254b. 3 Vgl. Freedom of the will and the concept of a person, Journal of Philosophy LXVIII (1971) 1, wiederabgedruckt in : H.G. Frankfurt, The importance of what we care about. Philosophical essays, Cambridge: Cambridge University Press 1988, S. 11-25. 4 Vgl. ders., Alternate possibilities and moral responsibility, in Frankfurt 1988, S. 1-10, S. 1. Eine differenzierte Verteidigung des Prinzips der alternativen Möglichkeiten liefert Thomas Buchheim, Unser Verlangen nach Freiheit, Hamburg 2006, S. 141-145.

sie nicht anders handeln konnte, als sie es getan hat, z.b. unter Zwang, nämlich dann, wenn die ausgeschlossenen Handlungsalternativen motivational irrelevant sind, sei es dass sie nicht attraktiv erscheinen, sei es, dass sie vom Akteur gar nicht als Möglichkeiten gedacht werden. Damit glaubt Frankfurt ein entscheidendes Argument für den Inkompatibilismus weggeräumt zu haben. Für die Frage, ob Zwang die Willensfreiheit aufhebt, ist aber entscheidend, um welche Art von Zwang es sich handelt. Mit Aristoteles gedacht: Wenn die Gliedmaßen einer Person von einer anderen geführt werden, wenn also A buchstäblich mit der Hand von B der zuvor vielleicht gefesselt oder betäubt worden ist einen Schlag oder Stich ausführt, dann ist B nicht der Akteur. Physischer Zwang hindert die praktische Überlegung daran, kausale Kraft zu entfalten. Anders steht es mit Zwang in Gestalt von Drohung. Hier wird der Zwang gerade nicht auf den Leib des Akteurs ausgeübt, sondern auf die praktische Überlegung selbst. Dazu setzt er aber die Geltung des Prinzips der alternativen Möglichkeiten schon voraus. Die Person B soll in diesem Fall nämlich durch die Drohung von A gerade dazu gebracht werden, eine bestimmte Handlung H zu vollziehen, weil sie die Konsequenzen ihrer Unterlassung fürchtet. Das impliziert, dass B aus A s Sicht keinen hinreichend starken Grund hätte, die erzwungene Handlung zu vollziehen. Nimmt man mit Frankfurt an, dass B ohne A s Drohung H tatsächlich unterlassen würde, auf Grund der Drohung aber vollzieht, dann hat diese Beschreibung nur Sinn, wenn unterstellt werden kann, dass B im Zuge einer praktischen Überlegung zu dem Entschluss gelangt ist, H zu tun, zu einem Entschluss, den sie ohne die Drohung A s nicht vollzogen hätte. B hat also zwischen alternativen Möglichkeiten gewählt; es handelt sich um eine freie Willensentscheidung, entgegen dem, was Frankfurt behauptet. Wieder anders sieht es aus, wenn A zwar B mit Hilfe von Drohungen zwingen will, H zu tun, B aber auch ohne diese Drohungen zum Vollzug von H entschlossen ist. 5 In diesem Fall ist die Drohung überflüssig. B handelt zwar frei, und eine alternative Möglichkeit, die Unterlassung von H, ist vorab ausgeschlossen, aber nur weil B selbst sie ausgeschlossen hat. Frankfurts Explikation von Willenfreiheit ist daher als wesentlich fehlerhaft anzusehen. Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten ist allerdings selbst explikationsbedürftig. 2. Freiheit als Autonomie Von einigen Kompatibilisten wird die Rede von Freiheit als einer Determiniertheit durch Gründe vorgeschlagen. 6 Aber das reicht nicht. Das wird deutlicher, wenn man die Vorstellung 5 Frankfurt 1988, S. 4. 6 Diesen Vorschlag macht etwa Peter Bieri mit seiner an Frankfurt angelehnten Explikation von Willensfreiheit; vgl. ders., Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München: Hanser 2001.

einer Determination durch Gründe bestimmter als eine Selbstdetermination durch ein selbstauferlegtes Gesetz, also im Sinne von Autonomie fasst. Nach Kant wird von der Universalität eines moralischen Gesetzes auf die praktische Notwendigkeit geschlossen, es als Handlungsmaxime zu übernehmen. Aber dieser Schluss ist selbst keine primäre praktische Überlegung, sondern eine sekundäre. Der Kategorische Imperativ repräsentiert keine Handlungsziele, sondern moralisch erlaubte Mittel zur Erreichung von Zielen. Das zeigt sich, wenn man an die Beispiele für Handlungen und Handlungsmaximen denkt, welche Kant mit Hilfe des Kategorischen Imperativs beurteilt, z.b. Lüge oder Diebstahl sowie das Halten oder Brechen von Versprechen. 7 Lüge, Diebstahl und das Brechen eines Versprechens sind keine Handlungsziele, sondern dienen der Erreichung von Zielen. Im Falle des Haltens eines Versprechens ist das nicht so leicht zu sehen, insofern im Akt des Versprechens eine Intention auf dessen Einhaltung artikuliert wird. Insofern scheint es nicht falsch zu sein, die Einhaltung als Ziel des Gebens von Versprechen anzusehen. Aber es ist zumindest ungenau. Denn das Halten eines Versprechens ist nur dann ein legitimes Handlungsziel, wenn das Versprochene etwas Gutes ist. Es kommt also ganz auf den Gehalt des Versprechens an und damit auf die Handlung oder Unterlassung, welche das Halten des Versprechens ausmacht. Das zeigt sich spätestens an unmoralischen Versprechen, z.b. der Hilfeleistung bei Betrug oder Mord. Solche Versprechen haben keine moralisch bindende Kraft; sie zu halten kann nicht Pflicht sein. Das aber heißt, dass weder das Geben noch das Halten von Versprechen primäre Handlungsziele sind, sondern originären Handlungszielen unter- und nachgeordnet sind. 8 Die Hauptfrage bleibt damit von Kant unbeantwortet: Was heißt es, ein Ziel zu setzen und zu verfolgen? Die Frage, welche der Befürworter einer Freiheit als Determiniertheit durch Gründe beantworten können muss, lautet: Wie kann ein Grund kausale Kraft entfalten? Offenbar nur indem er das durch den Grund bewirkte Handeln regiert. Das kann er nicht als ein mentales Ereignis am Anfang einer Ereigniskette. Denn Ereignis regiert bloß als solches über Folgeereignisse, auch nicht als Wirkursache. Macht, genauer Autorität kann einem praktischen 7 Bei anderen Maximen, z.b. Selbsttötung, Selbstvervollkommnung und Hilfeleistung für Dritte, scheint das nicht ganz offensichtlich. Allerdings präsentiert Kant die dadurch bestimmten Handlungen selbst explizit als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785, A 53 und 67, sowie Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797, 6 f., 19 f. 8 Die These, dass das Halten von Versprechen, wie alle als kategorische Imperative im Sinne Kants formulierbaren Handlungsmaximen, ursprünglichen Handlungszielen nachgeordnet ist, darf nicht mit der gemeinsamen These des moralischen Egoismus und des Utilitarismus verwechselt werden, dass moralische Maximen den Interessen oder Wünschen von Personen nachgeordnet sind. Denn die erstgenannte These stimmt Kants Moralphilosophie darin überein, dass Akteure unter Umständen auch dann zur Einhaltung von Versprechen verpflichtet sein können, wenn das ihren eigenen Wünschen oder Interessen oder denen anderer Personen vollkommen zuwider ist. Eine solche Möglichkeit ist sowohl im Egoismus als auch im Utilitarismus ausgeschlossen. Gegen Kant wird hier aber gefordert, dass der dem Begriff des Handlungsziels inhärente Begriff des Guten nur unabhängig vom Be- griff der moralischen Pflicht formuliert werden kann.

Grund nur zukommen, wenn die begründende praktische Überlegung eine spezifisch ausgerichtete Intentionalität aufweist. Sie muss nämlich auf solche Weise zukunftsgerichtet sein, dass sie das Ziel einer Bewegung als deren Prinzip setzt. Regierende Kraft kommt der Überlegung dann zu, wenn sie die Exekution der durch den Schluss vorgeschriebenen Handlung orientiert und bestimmt, so dass für die Dauer der Handlung zu jeder Zeit gilt, dass sie deswegen vollzogen wird, weil sie auf das Ziel gerichtet ist. Das heißt, sie ist eine von einem Streben verursachte Bewegung, welches sich auf ein Ziel richtet, das als ein Gutes erstrebt wird. Als ein Streben nach Gutem bzw. Gütern ist das Handeln teleologisch bestimmt. Ein Grund kann nur dadurch kausale Kraft entfalten, dass er die Zielursache einer Bewegung festlegt. Autonomie im Sinne Kants kommt erst sekundär ins Spiel: Ein Handeln aus sittlicher Pflicht oder sittlicher Berechtigung kann es nur da geben, wo dieses Handeln schon unabhängig davon nach Gütern strebt. Gesetze der Freiheit sind keine determinierenden, sondern nur einschränkende Gesetze. 3. Materialismus und Teleologie Zielgerichtetes Streben allein reicht jedoch nicht aus, um Willensfreiheit verständlich zu machen, denn es muss sich um ein vernunftgeleitetes, d.h. von praktischem Denken ausgehendes Streben handeln. In die vernünftige praktische Überlegung geht nun zum einen ein Urteil über das zu erstrebende Gut ein, zum anderen ein Urteil über die Handlungssituation. Dieser Zusammenhang lässt sich als doppelte Bedingung der geistigen Freiheit des Wollens und Handelns formulieren: zum einen nämlich als Freisein des Akteurs für die adäquate Beurteilung der jeweiligen Situation und des darin zu Tuenden bzw. zu Erstrebenden, zum anderen aber auch als freie, d.h. durch vernünftige Einsicht geleitete Ausführung einer intendierten Handlung. Ist der Akteur nicht zu einer zutreffenden Beurteilung seiner Situation in der Lage, dann ist seine kognitive Freiheit beschränkt. Hinsichtlich der Exekution unfrei kann ein Akteur dann sein, wenn äußerer, physischer Zwang auf ihn ausgeübt wird, in gewisser Hinsicht aber auch dann, wenn wie beim Unbeherrschten innerer Zwang überlegtes Handeln verhindert. Diese Art der exekutiven Unfreiheit kann mittelbar selbstverschuldet sein, nämlich durch einen Mangel an Askese. 9 In den bisher vorgetragenen Überlegungen ist nun bereits deutlich geworden, dass die Kompatibilismus-Debatte das eigentliche Problem nicht richtig benennt. Die eigentlich relevante Frage ist nicht, ob Willensfreiheit und universaler Determinismus zusammen denkbar sind, denn der Wille ist selbst eine determinierende Kraft, wenn auch keine unüberwindliche. 9 Vgl. dazu auch Buchheim, a.a.o., S. 145-150.

Die Frage ist vielmehr, ob sich die Freiheit des Willens im Rahmen einer materialistischen Ontologie denken lässt. Präziser kann man fragen: Lässt der Materialismus Raum für Teleologie? Nur dann gibt es Raum für vernunftbestimmte Teleologie. Wäre das der Fall, dann müsste Materie auch der Formal- und Finalkausalität fähig sein. Die Unmöglichkeit von Teleologie im Materialismus wird aber stillschweigend angenommen und der Materialismus als solcher stillschweigend vorausgesetzt. Der klassische Materialismus hat Teleologie mit guten Gründen stets ausgeschlossen, und zwar sowohl in seiner indeterministischen Spielart bei Demokrit und Epikur als auch in der dann dominant gewordenen deterministischen Spielart in Stoa und Neuzeit. Die Materie wird als Ursprung einer spezifisch materialen Kausalität und obendrein als für effiziente Kausalität passiv empfänglich gedacht. Materie ist fähig, bewegt zu werden. Für formale und finale Kausalität bleibt da kein Raum. Das bedeutet im Licht des bisher Gesagten, dass der klassische Materialismus den Begriff der Willensfreiheit nicht explizieren kann. 10 An diesen Voraussetzungen hat sich auch in der gegenwärtigen materialistischen Philosophie des Geistes nichts geändert. Das gilt, sieht man von notorisch mehrdeutigen Identitätstheorien einmal ab, sowohl für Supervenienz- als auch für Emergenztheorien des Geistigen, ungeachtet ihrer Binnendifferenzen. Denn weder die einen noch die anderen können die Teleologie des Lebendigen und des Geistigen angemessen erfassen, denn sie machen Leben und Geist zu Epiphänomenen des Materiellen. Aber die Seele als Prinzip des Lebens und der Geist als Prinzip des Denkens und Handelns regieren das Sein des Lebewesens resp. des Geistwesens, was sie als Epiphänomen nicht könnten. Es stimmt nun aber nicht, dass die einzige Alternative zu einer materialistischen Ontologie ein platonisch-cartesischer Dualismus wäre, wie heute meist behauptet wird. Auch ein aristotelischer hylemorphischer Dualismus wäre eine diskutable Alternative zum materialistischen Monismus. 11 10 Einen teleologischen Materiebegriff versucht prominent Ernst Bloch zu explizieren; vgl. ders., Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, 2., erw. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972. Dieser Versuch kommt m.e. allerdings über das bloße Postulat nicht hinaus, auch wenn das hier nicht gezeigt werden kann. 11 Vgl. auch D. Oderberg, Real Essentialism, New York; London 2007.