Bayerisches Staatsministerium der Justiz Rechtliche Aspekte der künstlichen Ernährung Dr. Hans-Joachim Heßler 1. Künstliche Ernährung als (ärztlicher) Heileingriff - Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit künstlicher Ernährung - zivil- und strafrechtliche Grundlagen des Heileingriffs a) Indikation b) Aufklärung c) Einwilligung d) Handeln und Unterlassen 2. Einwilligung des Patienten selbst a) Einwilligungsfähigkeit b) Aufklärungsgespräch c) Willensmängel 3. Einwilligung eines rechtlichen Vertreters bei fehlender Einwilligungsfähigkeit des Patienten a) Bevollmächtigter - Vorsorgevollmacht b) rechtlicher Betreuer nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch
- 2-4. Beurteilungsmaßstab des rechtlichen Vertreters a) vorausverfügter Wille - Patientenverfügung b) mutmaßlicher Wille 5. Rechtliche Grundlagen der Patientenverfügung a) Fehlen einer gesetzlichen Regelung b) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, insbesondere Beschluss vom 17. März 2003 c) Bewertung der Rechtsprechung, insbesondere Frage der sogenannten Reichweitenbeschränkung (Hängt die Wirksamkeit der Patientenverfügung vom Eintritt des irreversibel-tödlichen Krankheitsverlaufs ab?) d) sonstige Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Patientenverfügung e) Ausblick auf eine gesetzliche Regelung 6. Umsetzung einer Patientenverfügung in der konkreten Entscheidungssituation der Aufnahme oder Einstellung einer künstlichen Ernährung 7. Ermittlung des mutmaßlichen Willens 8. Beteiligung des Vormundschaftsgericht bei Unterlassen oder Einstellen künstlicher Ernährung aufgrund vorausverfügten oder mutmaßlichen Patientenwillens
Dr. Hans-Joachim Heßler, Bayerisches Staatsministerium der Justiz Rechtliche Aspekte der künstlichen Ernährung Fachtagung Künstliche Ernährung in der Pflege 18. Juni 2008
These Die Rechtslage ist klarer, als viele meinen: Der Patientenwille entscheidet.
Ärztepräsident Hoppe und Präsident des Caritasverbandes Neher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 15. Juni 2008 140.000 PEG-Sonden jährlich in Deutschland jeder zweite Sondenträger ist demenzkrank
Sterbehilfe Umfrage unter neurologischen Chefärzten in D: 32%: indirekte Sterbehilfe ist strafbar 45%: Behandlung der terminalen Atemnot mit Morphin = aktive Sterbehilfe 60%: Angst vor Rechtsfolgen beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen 47%: eigene Ausbildung für die Begleitung in der Terminalphase mäßig bis schlecht Borasio et al., Nervenarzt 2004
Künstliche Ernährung als ärztlicher Heileingriff künstliche Ernährung wird über Magensonden oder in Ausnahmefällen als Infusion zugeführt rechtlicher Begriff des Heileingriffs: alle Eingriffe und therapeutischen Maßnahmen, die am Körper eines Menschen vorgenommen werden, um Krankheiten, Leiden zu verhüten, zu erkennen, zu heilen oder zu lindern
Rechtfertigung des Heileingriffs ständige Rechtsprechung (seit Reichsgericht vom 31.5.1894): der indizierte, lege artis durchgeführte Heileingriff ist tatbestandsmäßig Körperverletzung, der der Rechtfertigung durch die Einwilligung des aufgeklärten Patienten bedarf
Handeln und Unterlassen Die Aufrechterhaltung der Magensonde muss fortwährend von der Einwilligung gedeckt sein also liegt darin nach zivilrechtlichen Maßstäben ein Handeln umgekehrt Das Entfernen einer Magensonde, weil die Einwilligung des Patienten entfallen ist, ist Unterlassen der Weiterbehandlung, also strafrechtlich nicht als aktives Tun zu werten
Indikation der künstlichen Ernährung Die nicht indizierte künstliche Ernährung hat zu unterbleiben Auf die Frage der Einwilligung kommt es dabei dann nicht an
Einwilligung des Patienten selbst Einwilligungsfähigkeit: nicht Geschäftsfähigkeit Patient muss natürliches Einsichts-, Urteils- und Verständnisvermögen besitzen Einwilligungsfähig können demnach insbesondere auch Demenzkranke sein Die Einwilligung oder die Versagung der Einwilligung kann auch konkludent erklärt werden Freiheit von Willensmängeln: Täuschung, Drohung, Irrtum
Einwilligungsunfähiger Patient Vorsorgebevollmächtigter in Gesundheitsangelegenheiten (Vorrang nach 1896 Abs. 3 Satz 2 BGB) Rechtliche Betreuer nach den 1896ff BGB, zu dessen Aufgabenkreis die rechtliche Betreuung gehört
Vorsorgebroschüre
Beurteilungsmaßstab des rechtlichen Vertreters vorausverfügter Wille des Patienten Patientenverfügung mutmaßlicher Wille des Patienten
Verfassungsrecht und Patientenverfügung Art. 1 GG: Menschenwürde Art. 2 Abs. 1 GG: Allgemeine Handlungsfreiheit Art. 2 Abs. 2: Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Rechtsprechung des BGH und Grundsätze der Bundesärztekammer BGH vom 17.3.2003: Ist der Patient im Zeitpunkt der Maßnahme nicht einwilligungsfähig, so gilt: Eine frühere Willensbekundung. wirkt fort. Bundesärztekammer von 2004: Die in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung einer Behandlung ist für den Arzt bindend, sofern die konkrete Situation derjenigen entspricht, die der Patient in der Verfügung beschrieben hat, und keine Anhaltspunkte für eine nachträgliche Willensänderung erkennbar sind.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003 BGHZ 154, 205 - Fallgestaltung Herzinfarktpatient Koma Künstliche Ernährung durch PEG Schriftliche Patientenverfügung liegt vor
Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003 Eine fortwirkende Willenserklärung des Patienten bindet Die Verweigerung der Einwilligung in eine ärztlicherseits angebotene lebenserhaltende oder verlängernde Maßnahme bedarf der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
Probleme der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003 Hängt die Wirksamkeit einer Patientenverfügung von einem irreversibel tödlichen Verlauf der Krankheit ab? Ist die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts (nur) in so genannten Konsensfällen nötig?
Reichweitenbeschränkung im geltenden Recht? Leitsatz und Entscheidungsgründe der BGH- Entscheidung vom 17. 3. 2003 sprechen von irreversibel-tödlichem Verlauf unter irreversibel-tödlichem Verlauf versteht man bisher die unmittelbare Sterbephase
Keine wörtliche Interpretation von Leitzsatz und Entscheidungsgründen in der unmittelbaren Sterbephase ist die Weiterbehandlung medizinisch nicht indiziert die Entscheidung selbst betraf einen Koma-Fall Entscheidung bezieht sich auf BGHSt 40, 257 (Kemptener Entscheidung), die auch keinen irreversibel tödlichen Krankheitsverlauf betraf rechtsdogmatisch: obiter dicta populär: Äußerungen von Frau Dr. Hahne in der Presse
sonstige Voraussetzungen die Bindungswirkung der Patientenverfügung nach geltendem Recht keine Formvorschriften konkrete Beschreibung der Krankheitssituation konkrete Behandlungswünsche (meist Ablehnung bestimmter Behandlungen) Aktualität, kein Widerruf Einwilligungsfähigkeit, keine Willensmängel bei Abfassung ärztliches Aufklärungsgespräch nicht Voraussetzung
Ausblick auf eine gesetzliche Regelung: Gruppenvorschläge im Bundestag MdB Stünker, SPD Keine Reichweitenbeschränkung Schriftform Vormundschaftsgericht nur in Dissensfällen MdB Bosbach, CDU Reichweitenbeschränkung, aber Ausnahmen bei Wachkoma und schwerster Demenz Schriftform Vormundschaftsgericht immer bei mutmaßlichem Willen und nicht irreversiblem Krankheitsverlauf
Situation bei Fehlen einer Patientenverfügung Patientenwille mutmaßlicher Patientenwille im Zweifel: Lebensschutz (nur medizinisch indizierte Behandlung!)
Ermittlung des mutmaßlichen Willens nicht maßgeblich ist der Standpunkt des Arztes oder eines vernünftigen Dritten aus den persönlichen Umständen des Betroffenen, aus seinen individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln
Umsetzung der Patientenverfügung rechtlich verantwortlich sind Arzt und rechtlicher Vertreter des Patienten bei der Prüfung, ob eine vorausverfügte Willenserklärung auf die eingetretene Situation passt ist ein Dialog zwischen den Beteiligten einzuleiten (Pflege, sonstige Angehörige, Dritte)
Einschaltung des Vormundschaftsgerichts? BGH: wenn Betreuer auf Grund des Patientenwillens eine ärztlicherseits angebotene medizinische Behandlung ablehnen will daraus entwickelter Grundsatz: nur in Dissensfällen Entscheidung des Vormundschaftsgerichts
Strafrecht 1. Direkte aktive Sterbehilfe 2. Sog. indirekte Sterbehilfe 3. Sterbebegleitung 4. Sog. passive Sterbehilfe 5. Beihilfe zur Selbsttötung Verhalten aktiver Eingriff zur Lebens-verkürzung mit Tötungsvorsatz Schmerzlinderung mit unbeabsichtigter Lebensverkürzung Basispflege Linderung Beistand im Sterben Unterlassen oder Beenden einer lebenserhaltenden Maßnahme Förderung oder Nichthinderung eines Suizids Strafbarkeit strafbar 212 StGB 216 StGB straflos bei (mutmaßl.) Willen des Patienten straflos (Unterlassen als Körperverletzung strafbar) straflos - in Todesnähe - Einwilligung - Patientenverfügung - mutmaßl. Einwilligung, sonst strafbar straflos strafbar nach Verlust der Freiverantwortlichkeit (Rspr.) Probleme Forderung nach Lockerung (NL, B), Missbrauchsgefahr sozialer Druck zu selten, zu spät, zu niedrig; Abgrenzungs-probleme Pflegenotstand, Ausbildungsbedarf, nicht künstl. Ernährung Patientenverfügung Vorsorgevollmacht gerichtl. Genehmigung juristisch widersprüchlich ärztlich standeswidrig? Kasuistik BGHSt 37, 376: Todesengel EGMR NJW 02, 2851 Diane Pretty BGHSt 42, 301: Dolantinfall BGHSt 40, 257 (LG KE) OLG F NJW 98, 2247 BGHZ 154, 205 (u.a. NJW 2003, 1588) BGHSt 32, 367: Dr. Wittig OLG München NJW 1987, 2940: Fall Hackethal
These: Die Rechtslage ist klarer, als viele meinen Der Patient entscheidet entweder selbst oder durch vorausverfügten (oder nach Ermittlung des mutmaßlichen) Willen guter Dialog führt zu einer Konsensentscheidung das Vormundschaftsgericht entscheidet nur bei Dissens strafrechtliche Folgen muss niemand befürchten, der die von der Rechtsprechung entwickelten Regeln einhält
Patientenverfügung und Palliativmedizin Zur Verbesserung der Situation am Lebensende und zur Verwirklichung der Selbstbestimmung brauchen wir (vernünftige) gesetzliche Regelung der Patientenverfügung oder bessere Aufklärung über das geltende Recht bessere palliativ-medizinische Versorgung