4.1.1 Anforderungen an geldpolitische Strategien und allgemeine Diskussion konkurrierender Strategien

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Transkript:

4. Kochrezepte ( Strategien ) für eine erfolgreiche Geldpolitik 4.1 Einführung Die Diskussion der geldpolitischen Transmissionsmechanismen hat uns gezeigt, dass die praktische Geldpolitik kein ganz einfaches Geschäft ist. Konkret sehen sich die Entscheidungsträger in einer Notenbank permanent mit der komplexen Aufgabe konfrontiert, in einer sich stets wandelnden Umwelt ihre zinspolitischen Hebel so einzustellen, dass das Ziel der Geldwertstabilität möglichst dauerhaft und ohne negative Nebenwirkung auf das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung gesichert werden kann. 4.1.1 Anforderungen an geldpolitische Strategien und allgemeine Diskussion konkurrierender Strategien Wir werden uns in diesem Absatz zunächst ganz allgemein mit der Bedeutung von Daumenregeln (oder wissenschaftlicher: Heuristiken) in komplexen Entscheidungssituationen auseinandersetzen. Ihr entscheidender Beitrag besteht darin, dass sie den Entscheidungsprozeß auf einige wenige relevante Faktoren reduzieren, die in der Regel zu guten Ergebnissen führen. Auf dieser Basis können wir dann die drei wichtigsten geldpolitischen Strategien diskutieren: Die Geldmengensteuerung, Das Inflation targeting, Die Taylor-Regel. Wir werden sehen, dass weder die Geldmengensteuerung noch das Inflation targeting in der Lage sind, eine echte Entscheidungshilfe für die Geldpolitik zu bieten. Die Taylor-Regel erweist sich demgegenüber als eine recht gute Daumenregel für zinspolitische Entscheidungen.

4.1.2 Geldpolitische Strategie der EZB Im zweiten Teil dieses Kapitels setzten wir uns mit der stabiliätsorientierten geldpolitischen Strategie der EZB auseinander. Sie beruht auf zwei Säulen: Einem Referenzwert für die Geldmenge M3, und einer breit fundierten Beurteilung der Aussichten für die künftige Preisentwicklung. Es wird deutlich werden, dass beide Säulen im Grunde wenig zum Verständnis der zinspolitischen Beschlüsse der EZB beitragen. Aus diesem Grund wird die Zinspolitik der EZB auch anhand einer einfachen Taylor-Regel dargestellt. Sie lässt sich damit über weite Strecken recht gut erklären.

4.2 Die Bedeutung einer geldpolitischen Strategie Ein Grundproblem der Diskussion über geldpolitische Strategien (man spricht häufig auch von geldpolitischen Regeln) besteht darin, dass man sich oft wenig darüber im Klaren ist, worin deren konkrete Bedeutung zu sehen ist. In diesem Kapitel soll darunter vor allem eine Entscheidungshilfe für das schwierige Geschäft der Zinspolitik verstanden werden. 4.2.1 Daumenregeln (Heuristiken) machen das Leben einfacher Im Prinzip verwenden die Notenbanker dazu dieselben Landkarten, die wir im vorangegangen Kapitel beschrieben haben. Da sie über große Mitarbeiter-Stäbe verfügen, weisen ihre Karten natürlich einen sehr viel genaueren Maßstab auf als die hier präsentierten Übersichten. Dies ändert aber nichts an dem Grundproblem, dass man nie ganz genau weiß, welche der verschiedenen Karten in einer konkreten Situation gerade am besten ist, und dass es auch bei den detaillierten Darstellungen noch viele ausgedehnte weiße Flecken gibt. Diese Unsicherheit ist im Grunde kein spezifisches Problem der Geldpolitik. In eigentlich allen Bereichen des menschlichen wie des politischen Lebens gilt es häufig, Entscheidungen in einer sehr komplexen Umwelt zu treffen, ohne dass man jemals über alle Konsequenzen vollständig informiert ist. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Entscheidungsträger in solchen Situationen häufig damit behelfen, dass sie sich an Daumenregeln (Heuristiken) halten. Solche Regeln zeichnen sich im Idealfall (Gigerenzer et al. 1999) dadurch aus, dass sie eine recht einfache Handlungsanweisung für komplexe Situation bieten, und dabei in den meisten Fällen zu ähnlich guten (oder nahezu ähnlich guten) Resultaten führen wie sehr komplexe Entscheidungsprozeduren. Bei den geldpolitischen Strategien, die wir im Folgenden darstellen und diskutieren werden, handelt es im Prinzip um solche Daumenregeln. Im Idealfall tragen sie dazu bei, dass es im Innenverhältnis den Mitgliedern des obersten Entscheidungsgremiums einer Notenbank leichter fällt, zweckmäßige zinspolitische Entscheidungen zu treffen als ohne eine solche Hilfestellung. Bei einer großen Zahl von Entscheidungsträgern, der EZB-Rat setzt sich derzeit aus 18 Mitgliedern zusammen, kann eine gemeinsam akzeptierte

Heuristik auch dazu verhelfen, die gruppeninternen Entscheidungsprozesse zu strukturieren und sie damit auch zu vereinfachen. dass es im Außenverhältnis für die Öffentlichkeit leichter nachvollziehbar wird, warum sich eine Notenbank für eine ganz bestimmte zinspolitische Maßnahme entschieden hat. Eine gute Strategie verhilft dann also dazu, dass die Geldpolitik transparent und auf diese Weise auch glaubwürdig wird.

4.2.2 Die wichtigsten Daumenregeln in der Geldpolitik und die Strategie der EZB Es ist naheliegend, dass alle geldpolitischen Strategien auf einer bestimmten Theorie des Transmissionsprozesses beruhen. Dies gilt in besonderem Maße für die drei besonders populären Strategien, die wir im Folgenden diskutieren werden: Die Strategie der Geldmengensteuerung basiert auf dem quantitätstheoretischen Transmissionskanal. Für die Strategie des Inflation Targeting bietet der erwartungstheoretische Transmissionskanal die entscheidende theoretische Grundlage. Die Taylor Regel bezieht sich auf die zentralen Wirkungsmechanismen des Zinskanals. Nach einer Darstellung dieser drei elementaren Strategien werden wir die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie der EZB beschreiben. Wir werden dabei überprüfen, inwieweit diese als eine Daumenregel betrachtet werden kann, die zu einem besseren Verständnis der zinspolitischen Entscheidungen der EZB beiträgt.

4.3 Die Geldmengensteuerung: Simpel, aber leider wenig praxistauglich In Anbetracht der einfachen Struktur der Quantitätstheorie ist es nicht überraschend, dass sich daraus auch eine recht klare geldpolitische Strategie ableiten läßt (Friedman 1968). Die Deutsche Bundesbank hat hierbei im Jahr 1974 eine Vorreiter-Rolle übernommen und dieses Konzept bis zum Jahr 1998, dem Ende ihrer eigenständigen geldpolitischen Verantwortlichkeit, beibehalten. Wir stellen zunächst das Konzept in seiner Reinform dar und beschrieben dann die Probleme, die sich bei seiner Anwendung in der Praxis ergeben. 4.3.1 Die Logik der Geldmengensteuerung Der Ausgangspunkt für die Geldmengensteuerung ist die einleuchtende Idee, dass die Geldmenge auf mittlere Sicht so wachsen soll, dass ein inflationsfreies Wachstum der Wirtschaft ermöglicht wird. Die dazu erforderliche normative Wachstumsrate der Geldmenge ( M *) erhält man, wenn man Quantitätsgleichung (3.1) nach der Geldmenge auflöst und sie dann in Veränderungsraten formuliert: (4.1) M * = π* + Y V. Entscheidend ist nun, wie man die Determinanten auf der rechten Seite konkret definiert. Wir halten uns dabei an die Vorgehensweise der Europäischen Zentralbank, die fast identisch mit der der Bundesbank ist (Schächter 1999): Für die Preisentwicklung (π*) wird eine normative Größe genommen, konkret der von der Notenbank angestrebte Zielwert für die Inflationsrate. Es läßt sich ermitteln, dass die EZB hierbei einen Wert von etwa 1 ½ % angesetzt hat. Der zweite Term (Y ) steht für die realwirtschaftliche Entwicklung, da die EZB eine mittelfristige Ausrichtung verfolgt, setzt sie hier nicht die tatsächliche oder eine prognostizierte Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts ein; sie verwendet dazu die jährliche Wachstumsrate des Produktionspotentials, d.h. also der Produktionskapazitäten der Wirtschaft in Euroland. Diese beläuft sich auf etwa 2 ¼ % und ist nahezu identisch mit dem Trend des realen Bruttoinlandsprodukts. Da die Umlaufsgeschwindigkeit nicht konstant ist, sondern einen ausgeprägten Trend aufweist, ist es schließlich noch erforderlich, diesen bei der Berechnung des normativen Geldmengenwachstums zu berücksichtigen. In Euroland sinkt die

Umlaufsgeschwindigkeit mit einer Rate von etwa einem halben bis einem Prozent pro Jahr. Addiert man diese drei Determinanten auf, kommt man zu einer normativen Wachstumsrate der Geldmenge von rund 4 ½ %. Aufgrund ihrer guten statistischen Eigenschaften hat sich die EZB dafür entscheiden, diese Strategie für die Geldmenge M3 zu formulieren. Auf der Grundlage einer solchen normativen Wachstumsrate läßt sich nun eine relativ simple Daumenregel für die Geldpolitik formulieren: Liegt das tatsächliche Geldmengenwachstum höher als der Zielwert, bestehen auf mittlere Sicht Inflationsgefahren. Es ist daher sinnvoll, eine expansivere Zinspolitik zu verfolgen. Im umgekehrten Fall eines zu schwachen Geldmengenwachstums wird der monetäre Mantel auf die Dauer zu eng. Es drohen Inflationsgefahren. In diesem Fall liegt es nahe, die Zinspolitik zu lockern. Besonders deutlich wurde diese Logik in der Geldmengensteuerung der Bundesbank, die um den Zielwert einen Korridor von 3% bis 6 % legte und dann fortlaufend überprüfte, ob die tatsächliche Entwicklung der Geldmenge noch innerhalb des Korridors verlief.

4.3.2 Die Praxis der Geldmengensteuerung In der geldpolitischen Praxis hat sich diese auf den ersten Blick so einleuchtende Strategie leider nicht besonders bewährt. Dies zeigt sich schon daran, dass es der Bundesbank in der Regel recht gut gelungen ist, das Endziel der Geldwertstabilität zu erreichen, obwohl sie ihr Geldmengenziel jedes zweite Jahr verfehlte mit zum Teil sehr starken Abweichungen. Für die zinspolitischen Entscheidungen der Bundesbank kann diese Daumenregeln also keine große Hilfe gewesen sein (Bernanke und Mishkin 1992 sowie Clarida und Gertler 1996). Auch die EZB war in den ersten drei Jahren nicht sehr glücklich über den von ihr fixierten Referenzwert für die Geldmenge M3. Trotz einiger statistischer ad-hoc Korrekturen lag die tatsächliche Wachstumsrate der Geldmenge M3 in dieser Zeit fast durchweg über dem Referenzwert von 4,5%. Bei genauerem Hinsehen ist die mangelnde Kontrollierbarkeit der Geldmenge auch nicht besonders überraschend. Ein Grundproblem besteht darin, dass die Quantitätstheorie sich nur auf die Zahlungsmittelfunktion des Geldes bezieht, während die Geldmengenziele der Bundesbank - wie auch der Referenzwert der EZB - für das sehr breit abgrenzte Aggregat M3 definiert sind. Während es nun noch plausibel ist, dass ein starker Anstieg des Bargelds und der Sichteinlagen auf eine hohe Ausgabenneigung der Privaten hindeutet, müssen Veränderungen von M3 sehr viel differenzierter betrachtet werden (Coenen und Vega 1999). Da hierin vor allem als Wertspeicher verwendete Aktiva gehalten werden (insbesondere Termineinlagen), kann ein Anstieg von M3 allein darauf zurückzuführen sein, dass die Anleger ihre Portfoliostruktur verändert haben, ohne dabei jedoch zusätzliche Ausgaben zu planen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Situation im Sommer und Herbst 2001, in der es zu einem sehr starken Wachstum vom M3 kam. Dieses war darauf zurückzuführen, dass die Anleger bei sehr niedrigen Zinsen für langfristige Anlagen und bei einer allgemeinen Verunsicherung über die weiteren Aussichten am Aktienmarkt einen sicheren Hafen für ihr Vermögen suchten. Ein zweites konzeptionelles Problem der Geldmengensteuerung, wie sie bisher praktiziert wurde, liegt darin, dass sie sich immer nur auf die Veränderungen der Geldmenge in den jeweils letzten zwölf Monaten konzentrierte. Diese sehr kurzfristige Perspektive steht in einem deutlichen Widerspruch zur langfristigen Orientierung der Quantitätstheorie. Konkret zeigt sich das in kurzfristigen Schwankungen der Geldmenge, die neben den bereits genannten systematischen Ursachen auch auf rein zahlungstechnische Instabilitäten

zurückzuführen sind. Als besonders schwerwiegend erweist es sich dabei, dass weder von der Bundesbank noch von der EZB bei einer anhaltend zu starken Ausweitung der Geldmenge in einem Jahr keinerlei Korrekturen im Folgejahr angebracht wurden. Auf diese Weise kann es zu einer systematisch zu hohen Ausweitung der Geldmenge kommen, ohne dass dies von der Geldmengensteuerung adäquat berücksichtigt wird. Auch die Umsetzung dieser Strategie in konkrete zinspolitische Maßnahmen ist nicht so einfach, wie es den Anschein hat. Die oben genannte Regel, Erhöhe den Zins bei einem zu starken Geldmengenwachstum und umgekehrt, ist nur dann zweckmäßig, wenn sich eine Zinserhöhung dämpfend auf die Geldnachfrage auswirkt. Bei den ganz einfachen Modellen der Geldnachfrage wird dies durchweg so gesehen. Dabei hat man aber zu berücksichtigen, dass sich diese auf die Geldmenge M1 beziehen, die nur aus unverzinslichen Komponenten besteht. In diesem Fall haben höhere kurzfristige Zinsen den Effekt einer Ökonomisierung der Kassenhaltung, die Geldnachfrage sinkt. Bei einem breiten Geldmengenaggregat wie der Geldmenge M3 ist dies sehr viel komplexer, da sie neben unverzinslichen auch verzinsliche Komponenten, wie z.b. die Termineinlagen, umfasst. Bei einem Anstieg der kurzfristigen Zinsen kommt es dann zwar ebenfalls zu dem Effekt einer geringeren Nachfrage nach Bargeld und Sichteinlagen, da diese jedoch zunächst vor allem in Termineinlagen umgewandelt werden, bleibt die Geldmenge M3 unverändert. Die Sache wird nun noch weniger eindeutig, da es für die Anleger bei höheren Zinsen für Termineinlagen auch attraktiv wird, ihre festverzinslichen Wertpapiere zu verkaufen und den Erlös in Termineinlagen zu investieren. Somit kann ein Anstieg der kurzfristigen Zinsen also dazu führen, dass sich die Nachfrage nach der Geldmenge M3 erhöht. Es tritt also genau das Gegenteil dessen ein, was die Strategie eigentlich unterstellt. In der Tat sah sich sowohl die Bundesbank als auch die EZB mit dem Phänomen konfrontiert, dass es nach Zinserhöhungen zu einem noch stärkeren Wachstum von M3 gekommen ist und umgekehrt. Dieser positive Einfluss der kurzfristigen Zinsen auf die Nachfrage nach M3 zeigt sich auch in komplexeren ökonometrischen Studien für die Geldnachfrage in der Bundesrepublik wie im Euroraum. Bei diesen vielfältigen Problemen der Geldmengensteuerung ist es nicht überraschend, dass es heute mit der Ausnahme der EZB, die sich ebenfalls nur eine für abgeschwächte Variante dieser Strategie entscheiden hat, keine Notenbank mehr gibt, die sich auf diese geldpolitische Daumenregel stützt.

4.4. Das Konzept des Inflation Targeting Die in 4.3 beschriebenen Probleme der Geldmengensteuerung wie auch die Probleme eines Systems fester Wechselkurse (siehe 5.4.1) waren Anfang der neunziger Jahre für zahlreiche Länder der Anlass, sich nach einer neuen geldpolitischen Strategie umzusehen. Das zunächst von Neuseeland, Kanada und Großbritannien entwickelte Konzept des Inflation targeting erfreute sich dabei einer immer größeren Beliebtheit. Es wird heute von vielen Industrieländern wie auch von den sogenannten emerging market economies verwendet (Bernanke et al. 1998). Im Gegensatz zur Geldmengenstrategie wurde das Inflation targeting nicht durch theoretische Arbeiten vorbereitet, es entstand vielmehr aus der konkreten geldpolitischen Praxis einzelner Notenbanken. 4.4.1 Die Daumenregel des Inflation targeting Auf den ersten Blick weist das Inflation targeting alle Vorteile einer einfachen Daumenregel auf. Der Ausgangspunkt für diese Strategie ist zunächst ein quantifiziertes Inflationsziel einer Notenbank, in dem sie einen konkreten Zielwert (in der Regel ein Zielband) vorgibt, den für sie relevanten Preisindex definiert und gegebenenfalls auch Ausnahmetatbestände (z.b. Preiserhöhungen aufgrund von Naturkatastrophen, Erhöhungen indirekter Steuern, massive Verteuerung von Rohstoffen) festlegt. Dieser Zielwert wird nun mit einer Inflationsprognose für den Zeitraum der nächsten zwei Jahre verglichen (Bank of England 2000 und 2002). Dabei ist es wichtig, dass die Prognose unter der Annahme abgleitet wird, dass die Notenbank ihren derzeitigen Leitzins konstant hält. Aus dem Vergleich des Zielwerts mit dem Prognosewert kann man nun eine sehr einfache Heuristik für die Geldpolitik ableiten: Liegt der Prognosewert über dem Zielwert, sind die derzeitigen Leitzinsen zu hoch. Es ist also eine restriktivere Zinspolitik erforderlich. Liegt der Prognosewert unter dem Zielwert, sind die derzeitigen Leitzinsen zu niedrig. Es ist also eine expansivere Zinspolitik erforderlich.

Von den Anhängern des Inflation targeting wird der große Vorteil dieser Strategie darin gesehen, dass auf diese Weise eine große Transparenz der geldpolitischen Entscheidungen erreicht wird.

4.4.2 Grenzen und Ratio des Inflation targeting Ähnlich wie bei der Geldmengensteuerung liegen auch bei Inflation targeting die Schwächen im Detail. Dies wird deutlich, wenn man sich noch einmal die Ratio einer Daumenregel vor Augen hält: Sie soll es einem Entscheidungsträger erleichtern, in einem komplexen Umfeld richtige Entscheidungen zu treffen, indem sie den Entscheidungsprozess auf einige wenige Kriterien reduziert, die in der Regel zu guten Ergebnissen führen. Der simple Vergleich der Inflationsprognose mit dem Inflationsziel scheint hierfür geradezu ein Paradebeispiel zu sein. Doch dabei würde man übersehen, wie schwierig es in der Praxis ist, eine zuverlässige Inflationsprognose zu erstellen. Hierbei stellen sich alle in Kapitel 3 genannten Unsicherheiten über die Struktur des geldpolitischen Transmissionsprozesses. Eine echte Entscheidungshilfe wäre das Inflation targeting also nur dann, wenn es neben der allgemeinen, in 4.4.1 genannten Daumenregel auch noch ein Kochrezept dafür bieten würde, wie die Inflationsprognose erstellt werden soll. Hierzu hat sich jedoch bisher noch keine der Notenbanken geäußert, die dieses Konzept praktiziert. Im Gegenteil: Es wird immer wieder betont, dass es hierfür keine einfachen Lösungen gibt (Haldane 1997 und Vickers 1998). Für eine Notenbank, die sich der Strategie des Inflation targeting anvertraut, wird damit also das geldpolitische Geschäft kaum nennenswert erleichtert. Der einzige Vorteil kann darin gesehen werden, dass man sich bei zinspolitischen Entscheidungen nicht an der aktuellen Situation, sondern an der voraussichtlichen Entwicklung der nächsten zwei Jahre orientiert und dass dafür ein klar definiertes Inflationsziel zur Verfügung steht. Auch für die Öffentlichkeit wird dadurch das Verständnis geldpolitischer Entscheidungen nicht wesentlich verbessert. So lange die Notenbank nicht bekannt gibt, wie sie ihre Prognose erstellt hat, läßt sich für die Privaten nur schwer nachprüfen, ob die Zinspolitik tatsächlich der aktuellen Situation angemessen ist. Der Informationsgehalt der Inflationsprognose wird dabei zusätzlich dadurch beeinträchtigt, dass sie unter der Annahme konstanter Leitzinsen vorgenommen wird; dies führt vor allem dann zu völlig irrelevanten Werten, wenn man sich in einer Situation besonders hoher oder besonders niedriger Zinsen befindet, in der für den Prognosezeitraum mit deutlichen Zinsanpassungen zu rechnen ist.

Im Grunde ist das Inflation targeting also nur sehr bedingt als eine geldpolitische Daumenregel anzusehen. Seine gleichwohl sehr hohe Beliebtheit in der Praxis der Geldpolitik dürfte vor allem damit zu erklären sein, dass damit in der Regel der Eindruck eines klaren und zeitgemäßen konzeptionellen Rahmens für die Geldpolitik erweckt wird, ohne dass sich daraus eine nennenswerte Bindung der geldpolitischen Entscheidungsträger ergibt. So gesehen ist das Inflation targeting vor allem als eine durchaus erfolgreiche Marketing- Strategie von Notenbanken anzusehen. Im Gegensatz zu dieser sehr pragmatischen Handhabung des Inflation targeting wird darunter in der theoretischen Literatur ein sehr komplexer geldpolitischer Entscheidungskalkül verstanden. Vor allem in Veröffentlichungen von Lars Svensson (1997) wird unter diesem Schlagwort eine Geldpolitik propagiert, die möglichst alle relevanten Größen modelltheoretisch berücksichtigt und auf dieser Basis eine für einen Prognosezeitraum optimale Zinspolitik ableitet. Obwohl hierfür auch häufig der Begriff einer Regel verwendet wird, handelt es sich dabei geradezu um das Gegenteil einer Heuristik oder Daumenregel, wie sie hier definiert wurde. Anstelle einer Reduktion des Entscheidungsprozesses auf möglichst wenige Kriterien wird hier ein möglichst umfassender Kalkül gefordert. Dieses mag seine Berechtigung haben, es ist aber eher irreführend hierfür den Begriff einer Regel oder des Inflation targeting heranzuziehen.

4.5 Die Taylor-Regel Bei einer Untersuchung der Zinspolitik der amerikanischen Notenbank stieß der Ökonom John Taylor Anfang der neunziger Jahre auf ein relativ stabiles und zugleich einfaches Erklärungsmuster (Taylor 1993). In der Folgezeit zeigte sich, dass dieser Zusammenhang nicht nur in der Zinspolitik anderer Notenbanken beobachtet werden konnte (Deutsche Bundesbank 1999), sondern zugleich auch eine in unterschiedlichsten Situationen sehr zweckmäßige geldpolitische Daumenregel darstellt. 4.5.1 Die wesentlichen Bestandteile der Taylor-Regel und ihre ökonomische Ratio Das von Taylor entdeckte Erklärungsmuster für die Zinspolitik der amerikanischen Notenbank in den Jahren 1987 bis 1992 sah folgendermaßen aus: (4.2) i = π + 2+ 0,5( π 2) + 0,5y Der kurzfristige Zinssatz (i) in den Vereinigten Staaten (konkret: der Satz für Tagesgeld am Geldmarkt) ergab sich danach als Summe aus: Der aktuellen Inflationsrate (π), einem Wert von 2%, der dem durchschnittlichen kurzfristigen Realzinssatz (R) entspricht, einer mit 0,5 gewichteten Differenz zwischen der aktuellen Inflationsrate und einer Zielinflationsrate (π*), die hier gleich 2 gesetzt wurde, sowie der mit ebenfalls 0,5 gewichteten Outputlücke (y). In allgemeiner Form kann man die Taylor-Regel dann auch für den Realzins (r = i π) formulieren: (4.3) * r = R+ 0,5( π π ) + 0,5y Die Taylor-Regel wird nun von vielen Ökonomen nicht nur als eine adäquate Erklärung der amerikanischen Zinspolitik in einer bestimmten historischen Phase betrachtet, sie wird vielmehr auch als eine ebenso einfache wie zweckmäßige geldpolitische Daumenregel

angesehen. Konkret heißt das also, dass eine Notenbank ihre Zinspolitik an der Gleichung (4.3) ausrichten kann, in die sie dann nur noch die jeweiligen Werte für die verschiedenen Parameter einsetzen muss. Bevor wir darauf in 4.5.2 eingehen, soll kurz die ökonomische Ratio dieser Regel herausgearbeitet werden. Als Grundlage hierfür sollen die Schaubilder 3.7 und 3.8 dienen. Der Ausgangspunkt für die in (4.3) formulierte Taylor-Regel ist zunächst eine am kurzfristigen Realzins orientierte Geldpolitik, wie sie auch in der oberen Hälfte der beiden Schaubilder unterstellt wird. Geht man zunächst von einer Situation ohne Störungen aus, die durch eine zielgerechte Inflationsrate und eine Outputlücke von Null gekennzeichnet ist, dann entspricht der kurzfristige Realzins seinem langfristigen Durchschnitt (R), der als Näherungsgröße für einen neutralen kurzfristigen Realzins dient. In der Situation eines negativen Nachfrage-Schocks (Schaubild 3.7) entsteht eine negative Output-Lücke und die Inflationsrate ist niedriger als ihr Zielwert. Beide Parameter in der Gleichung (4.3) weisen also einen negativen Wert aus. Der kurzfristige Realzins liegt dann also unter dem neutralen Wert. Die Taylor-Regel empfiehlt also eine expansive Geldpolitik. Im Fall eines positiven Nachfrage-Schocks wäre das Gegenteil der Fall. Bei einem Angebots-Schock erhöht sich zunächst die Inflationsrate im unteren Teil des Schaubilds 3.8. Da sie jetzt über ihrem Zielwert liegt, legt die Taylor Regel eine Erhöhung des Realzinses nahe. Durch die Gewichtung mit 0,5 kommt es dabei in der Regel jedoch nicht zu einer vollständigen Kompensation des Inflationsschocks. Die Taylor-Regel sorgt bei einer solchen Störung also für eine Kompromiss-Lösung zwischen einer vollständigen Stabilisierung des Outputs und einer vollständigen Stabilisierung der Inflationsrate. Für eine exakte Lösung der geldpolitischen Reaktion bei einem Angebots-Schock wäre es erforderlich, die genauen Verläufe der Phillips-Kurve und der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage-Kurve zu bestimmen.

4.5.2 Probleme bei der geldpolitischen Anwendung einer Taylor-Regel Aufgrund der hier beschriebenen Eigenschaften kann man die Taylor-Regel tatsächlich als eine sehr gute Daumenregel für die Beurteilung der Geldpolitik verwenden. Dabei muss man sich natürlich stets der Grenzen einer solchen Heuristik bewußt sein. Sie kann immer nur eine grobe Orientierung bieten, die in der Regel zu guten Ergebnissen führt. Man hat also im Einzelfall immer zu prüfen, ob nicht spezifische Störfaktoren vorliegen, die der Anwendung einer solchen Daumenregel entgegenstehen. Während heute viele Ökonomen die Taylor-Regel heranziehen, wenn sie ein Bild von der Ausrichtung der Geldpolitik eines Landes machen wollen, hat sich bisher keine Notenbank dazu durchringen können, eine Konzeption zu entwickeln, die explizit auf dieser Heuristik basiert (EZB 2001a). Dies liegt wohl vor allem daran, dass damit der Eindruck einer Berechenbarkeit der Geldpolitik geschaffen würde, der der tatsächlichen Komplexität des Transmissionsmechanismus nicht entspräche und damit den Handlungsspielraum der Notenbanker zu stark einengen würde. Bei der wirtschaftspolitischen Anwendung der Taylor-Regel ist außerdem zu berücksichtigen, dass es auch nicht ganz einfach ist, die konkreten Werte für die einzelnen Parameter in der Gleichung (4.3) zu bestimmen: Bei durchschnittlichem kurzfristigen Realzins kommt es wie bei allen Durchschnittsgrößen sehr darauf an, welchen Zeitraum man für dessen Berechnung heranzieht. Bei der Inflationsrate besteht die Möglichkeit, die tatsächliche Inflationsrate heranzuziehen. In der Situation einer starken Rohstoffpreis-Verteuerung kann es aber sinnvoll sein, die sogenannte Kern-Inflationsrate heranzuziehen, die auf einem Preisindex für die Lebenshaltung beruht, der die Preise von Rohstoffen und Lebensmitteln nicht enthält. Auf diese Weise kann eine zu starke Erhöhung des Realzinses vermieden werden. Die Output-Lücke wird errechnet, indem man das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt mit dem Produktionspotential, d.h. dem Bruttoinlandsprodukt bei Vollauslastung der Produktionskapazitäten, vergleicht. Da eine solche Größe jedoch nur sehr schwer zu ermitteln ist, kommt es zu erheblichen Divergenzen in den Schätzungen, die für die

Output-Lücke von unterschiedlichen Institutionen (z.b. der OECD oder dem Internationalen Währungsfonds) vorgenommen werden. Schließlich wird in der Literatur immer auch die Frage diskutiert, ob man für eine Taylor- Regel die aktuell verfügbaren Werte der Inflation und der Output-Lücke einsetzen soll, oder ob es nicht besser wäre, hierfür Prognose-Werte einzusetzen. Letzteres wird vor allem mit den langen Wirkungsverzögerungen der Geldpolitik begründet. Trotz dieser Schwierigkeiten bei der konkreten Anwendung ist die Taylor-Regel sehr viel eher als die Geldmengenstrategie und das Inflation targeting in der Lage, den Notenbankern im Innenverhältnis eine relativ robuste Entscheidungshilfe zu bieten und auch den Privaten eine Richtschnur dafür zu liefern, ob die aktuelle Zinspolitik einer Notenbank angemessen auf Angebots- und Nachfrageschocks reagiert.

4.6 Die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie der EZB Wie kaum eine andere Notenbank hat sich die Europäische Zentralbank sehr früh darum bemüht, einen umfassenden konzeptionellen Rahmen für ihre Geldpolitik zu entwickeln. Die stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie wurde erstmals im Januar 1999 präsentiert, also ganz unmittelbar nach dem Startzeitpunkt der Europäischen Währungsunion. 4.6.1. Die zwei Säulen Neben der bereits in 1.4.4 präsentierten Definition des Inflationsziels, die durchaus auch mit einem Inflation targeting (siehe 4.4) vereinbar wäre, umfasst die Strategie der EZB zwei Säulen : Eine herausragende Rolle der Geldmenge, die in der Verkündung eines Referenzwerts für das Wachstum eines breiten monetären Aggregats zum Ausdruck kommt, (EZB 1999, S. 50), sowie eine breit fundierte Beurteilung der Aussichten für die künftige Preisentwicklung und die Risiken für die Preisstabilität im Euro-Währungsgebiet insgesamt. (EZB 1999, S. 50). Wir werden beide Säulen darstellen und diskutieren und dabei außerdem überprüfen, inwieweit die Zinspolitik der EZB auch mit einer Taylor-Regel erklärt werden könnte.

4.6.2. Die erste Säule: Herausragende Rolle der Geldmenge Die erste Säule deckt sich nahezu vollständig mit der in 4.3 präsentierten Geldmengenstrategie. Allerdings hat die EZB mit dem Ausdruck Referenzwert von Anfang an klar zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Säule nicht im Sinn einer engen Regelbindung versteht: (...) beinhaltet das Konzept des Referenzwerts nicht eine Verpflichtung seitens des Eurosystems, kurzfristige Abweichungen des Geldmengenwachstums vom Referenzwert zu korrigieren. Die Zinsen werden nicht mechanistisch als Reaktion auf solche Abweichungen angepaßt, um das Geldmengenwachstum auf den Referenzwert zurückzuführen. Trotz dieser Einschränkung ist es nach mehr als drei Jahren nach dem Start der EWU nur schwer möglich, den Einfluß dieser Säule in den konkreten zinspolitischen Entscheidungen der EZB auch nur annäherungsweise zu identifizieren. Wie das Schaubild 4.1 verdeutlicht lag das Geldmengenwachstum von Januar 1999 bis Juli 2000 oberhalb des Referenzwertes, was nach dem Selbstverständnis der EZB eine restriktive Zinspolitik erfordert hätte, von September 2000 bis April 2001 war das Geldmengenwachstum im Vergleich zum Referenzwert zu gering, dies hätte also Zinssenkungen nahe gelegt, von Mai 2001 an ging das Geldmengenwachstum weit über den Referenzwert hinaus, somit hätte man wieder Zinserhöhungen erwarten müssen. Geldmengenwachstum und Referenzwert 9 8 7 6 5 4 3 2 1 Wachstumsrate der Geldmenge M3 Referenzwert von 4,5 % 0 Jan-99 Mar-99 May-99 Jul-99 Sep-99 Nov-99 Jan-00 Mar-00 May-00 Jul-00 Sep-00 Nov-00 Jan-01 Mar-01 May-01 Jul-01 Sep-01 Nov-01

Wie das Schaubild 4.2 zeigt, verlief die tatsächliche Zinsentwicklung nahezu völlig losgelöst von den Signalen der ersten Säule : Von Januar 1999 bis Oktober 1999 kam es zu rückläufigen Zinsen, obwohl das Geldmengenwachstum ein gegenläufiges Handeln erfordert hätte, von November 1999 bis April 2001 kam es zu einer Zinserhöhungsphase, obwohl es von der Geldmengenentwicklung her bereits ab September 2000 zu Zinssenkungen hätte kommen müssen, von Mai 2001 an wurden die Zinsen deutlich zurückgenommen, obwohl sich von genau diesem Zeitpunkt an die Geldmenge immer mehr vom Referenzwert nach oben weg bewegte. Schaubild 4.2 einfügen Zinsentwicklung in Euroland 6 in Prozent 5 4 3 2 1 0 Jan-99 Mar-99 May-99 Jul-99 Sep-99 Nov-99 Jan-00 Mar-00 May-00 Jul-00 Sep-00 Nov-00 Jan-01 Mar-01 May-01 Jul-01 Sep-01 Nov-01 Jan-02 Damit ist es wohl kaum noch möglich, von einer herausragenden Rolle der Geldmenge in den zinspolitischen Entscheidungen der EZB zu sprechen. Diese Beobachtungen decken sich weitgehend mit den bereits erwähnten Ergebnissen der Geldmengenpolitik der Bundesbank, die ebenfalls keinen erkennbaren Einfluss auf die zinspolitischen Entscheidungen hatten.

4.6.3 Die zweite Säule: eine breit fundierte Beurteilung der Aussichten für die Preisentwicklung Was sich hinter der zweiten Säule verbirgt, wird am ehesten in den Worten der EZB deutlich: Diese Beurteilung stützt sich auf eine breite Palette von Konjunkturindikatoren. Diese breite Palette von Indikatoren umfaßt viele Variablen, die Vorlaufindikatoreigenschaften für zukünftige Preisentwicklungen besitzen. Diese Variablen beinhalten u. a. die Löhne, den Wechselkurs, die Anleihekurse und die Zinsstrukturkurve, verschiedene Meßgrößen für die reale Wirtschaftstätigkeit, fiskalpolitische Indikatoren, Preis- und Kostenindizes sowie Branchen- und Verbraucherumfragen. Offensichtlich wird es auch nützlich sein, die Inflationsprognosen, in die all diese Variablen eingegangen sind, bei der Beurteilung zu verwenden, ob der geldpolitische Kurs angemessen ist. (EZB 1999, S. 54f.) Natürlich ist es richtig, wenn sich eine Notenbank bei ihrer Beurteilung der zukünftigen Preisentwicklung auf eine möglichst breit fundierte Beurteilung stützt. Im Zusammenhang mit einer geldpolitischen Strategie hat man sich jedoch zu fragen, inwieweit die EZB damit auch dem Anspruch gerecht wird, eine Reduktion der Komplexität des geldpolitischen Entscheidungsprozesses zu leisten, der zinspolitische Entscheidungen im Innenverhältnis erleichtert und sie damit zugleich im Außenverhältnis besser verständlich macht. Durch eine bloße Aufzählung unterschiedlichster Indikatoren, wie sie in dem obigen Zitat vorgenommen wird, ist beiden Zwecken wenig gedient. Die zweite Säule der EZB-Strategie kann damit lediglich als eine Beschreibung einer Selbstverständlichkeit angesehen werden, nicht jedoch als eine Heuristik, wie sie beispielsweise durch eine Geldmengenregel oder eine Taylor-Regel geboten wird.

4.6.4 Was macht die EZB wirklich? Somit bietet die 2-Säulen-Strategie keine wirkliche Hilfestellung für das Verständnis der zinspolitischen Entscheidungen der EZB. Während die erste Säule keinerlei Kontakt zur tatsächlichen Zinspolitik aufweist, ist die zweite Säule so allgemein gehalten, dass man damit alles und nichts begründen kann. Dies führt zu der Frage, ob es nicht möglich ist, die zinspolitischen Entscheidungen der EZB mit einer Taylor-Regel zu erklären. Schaubild 4.3 zeigt, dass es bis April 2001 relativ gut möglich ist, die Zinspolitik der EZB mit einer typischen Taylor-Regel zu erklären. Die entscheidenden Parameter wurden dafür wie folgt bestimmt: Für den durchschnittlichen kurzfristigen Realzins wurde ein Wert von 2,8 % gewählt. Dies entspricht dem Durchschnitt der deutschen kurzfristigen Zinsen im Zeitraum von 1960 bis 1998. Für die Inflationsrate wurde die Kerninflationsrate eingesetzt, d.h. eine Inflationsrate ohne Rohstoffe und Nahrungsmittel. Für die Outputlücke wurden die von der OECD in ihren halbjährlichen Surveys prognostizierten Werte für die jeweils nächsten zwölf Monate verwendet. Da es sich hierbei um Jahreswerte handelt, wurden sie anteilig auf die entsprechenden Monate umgerechnet. Konkret wurde beispielsweise für den Mai 2000 ein Durchschnitt aus 8x dem Wert für 2000 und 4x dem Wert für 2001 errechnet. Die Gewichtungsfaktoren für die Output-Lücke und die Inflationsabweichungen entsprechen mit jeweils 0,5 den Werten der ursprünglichen Taylor-Regel.

Schaubild 4.3 Chart 9: Taylor interest rates and the Euro overnight rate 8.00 7.00 6.00 Taylor 0.5/0.5 (HICP) Taylor 0.5/0.5 (Core inflation) Taylor 1.0 Gap Euro overnight rate 5.00 4.00 3.00 2.00 1.00 0.00 1999 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez 2000 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez 2001 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov (in %) Von Mai 2001 an kommt es zu einem deutlichen Auseinanderlaufen der tatsächlichen Zinsen und den mit dieser Taylor-Regel berechneten Werten. Dies spricht dafür, dass die EZB von da an eine deutlich expansive Geldpolitik eingeschlagen hat. Dieser Eindruck wird auch dadurch gestützt, dass man das Zinsniveau bis April 2001, wie auch im Dezember 2001, recht gut mit einer Taylor-Regel erklären kann, bei der die Output-Lücke mit dem Faktor 1 gewichtet wird, während die Abweichung der Inflation von ihrem Zielwert einen Gewichtungsfaktor von Null erhält.