Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom Seltene, aber wichtige Differenzialdiagnosen der MS

Ähnliche Dokumente
Zusammengefasster Beitrag:* Familiäre Neuromyelitis optica

Multiple Sklerose. Encephalomyelitis disseminata(ed)

Übersichten. Institut für Experimentelle Immunologie, Euroimmun, Lübeck 7. Susac-Syndrom. Historischer Hintergrund

Neue diagnostische Kriterien. Warum früh diagnostizieren? Wie sicher! - diagnostizieren?

Mycophenolatmofetil als Behandlungsoption bei Neuromyelitis Optica

Das Spektrum der Neuromyelitis optica bei Kindern

D. M. Wingerchuk, MD, FRCP(C); V.A. Lennon, MD, PhD; S.J. Pittock, MD; C.F. Lucchinetti, MD; B.G. Weinshenker, MD, FRCP(C)

Multiple Sklerose (MS)

Vom UBO zur MS und andere Unklarheiten!

CIDP- Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie. Stefanie Müller Oberärztin Klinik für Neurologie Kantonsspital St.

Multiple Sklerose ohne oligoklonale Banden in Liquor: Prävalenz und klinischer Verlauf

Die MRZ-Reaktion (Masern-Röteln-Zoster) in der Differentialdiagnostik infektiöser und entzündlichdemyelinisierender

Multiple Sklerose. Priv.-Doz. Dr. med. Zaza Katsarava Oberarzt Neurologische Universitätsklinik Essen

Autoimmun und mehr! - aus neuroradiologischer Perspektive! G.Schuierer Zentrum Neuroradiologie Regensburg

Innovative Neuro-Bildgebung unterstützt frühe Diagnose und maßgeschneiderte Therapiestrategien

Seltene Demenzen. Posteriore Corticale Atrophie. lic. phil. Gregor Steiger-Bächler Neuropsychologie-Basel

Immunogene Myelitis. Update Diagnostik und Therapie. Elke Voß. 15. Autoimmuntage Bernau 22. Und 23. Mai 2013

Erstes Auftreten einer NMOSD im späten Lebensalter von über 75 Jahren 1

Neue Leitlinien zur Dissektion hirnversorgender Arterien: Was ändert sich im klinischen Alltag?

Differentialdiagnostik autoimmuner. ZNS-Erkrankungen. Teil 1 paraneoplastische Syndrome und Neuromyelitis optica

WS 2015/16 Vorlesung Neuropathologie. Multiple Sklerose und andere demyelinisierende Erkrankungen. Tanja Kuhlmann Institut für Neuropathologie

Fall x: - weiblich, 37 Jahre. Symptome: - Visusminderung, Gangunsicherheit. Neurologischer Befund: - rechtsbetonte spastische Tetraparese - Gangataxie

Mathias Schlüter 1, B. Stieltjes 2, H. K. Hahn 1, J. Rexilius 1, O. Konrad-Verse 1, H.-O. Peitgen 1. MeVis 2 DKFZ. Purpose

3 Klassisches in der MRT

Jüngere Menschen mit Demenz Medizinische Aspekte. in absoluten Zahlen. Altersgruppe zwischen 45 und 64 Jahren in Deutschland: ca.

Diagnostik der Multiplen Sklerose 2010 Revision der McDonald-Kriterien

Anwendung von Rituximab in der Behandlung von Neuromyelitis optica

15. FSME (Frühsommer-Meningo-Encephalitis) Tick-borne Encephalitis (TBE)

3. Methodik Retrospektive Datenanalyse

Neuromyelitis optica Diagnostik und Therapie

ACR-Nachlese 2007: ANCA assoziierte Vaskulitiden

Homepage: Online-Datenbank mit Autoren- und Stichwortsuche

Klinische Bildgebung bei Multiple Sklerose und anderen Infektionen des ZNS

Diagnostik und Therapie der Neuromyelitis optica

AKTUELLES ZUR DEMENZDIAGNOSTIK

Eine Krankheit die auf die Nerven geht neurologische Beteiligung bei Sjögren-Syndrom

Limbische Encephalitis ein Neurologicum in der Psychiatrie?

Pilzpneumonie. CT Diagnostik

Herztransplanation erste erfolgreiche kurative Herztransplantation am Menschen am 3. Dezember 1967 Christiaan Barnard im Groote Schuur Hospital in Kap

B. Wildemann 1 S. Jarius 1 F. Paul 2 1. offenbar das klinische Erscheinungsbild und den Schweregrad der Erkrankung. Geschichtlicher Hintergrund

MRT bei MS. CME 1: MRT zur Diagnose der MS. um zusätzliche Informationen zu erhalten. und Sie gelangen zur vorherigen Folie.

Verbundradiologie. Wirbel und Spinalkanal. 7.Bremer MR Workshop

Sklerose verlangsamen

Vaskuläre Demenz G. Lueg Klinik für Allgemeine Neurologie Department für Neurologie Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Klinische Herangehensweise an den Patienten mit Sensibilitätsstörungen

Kognitive Reserve, Bewegung und Demenz

Bevölkerungsbezogene Analysen neuer Therapieoptionen an einem regionalen Beispiel

Multiple Sklerose Kompetenznetz Kleiner MS-Leitfaden für Neurologen Stand: Juli 2014

Liquordiagnostik bei Demenz

Auf dem Boden einer Zirrhose oder einer chronischen Hepatitis B oder C Meist Entwicklung über Regeneratknoten und dysplastische Knoten

Anästhesieempfehlungen für Patienten mit Neuromyelitis optica und verwandten Erkrankungen (neuromyelitis optica spectrum disorder - NMOSD)

Kasuistiken aus der Rheumatologie

Handmotorik trifft Bildgebung / MRT Ein gemeinsamer Weg zur Entwicklungsdiagnostik?

Kognitive Störungen. Olivia Geisseler, MSc. Neuropsychologin, Universitätsspital Zürich

Die anoxische Hirnschädigung Neurophysiologische Prognostik mit und ohne Hypothermie

MS 10 Fragen und Antworten

UNIVERSITÄTSKLINIKUM Schleswig-Holstein. Freitagsfortbildung, Klinik für Neurologie, Campus Lübeck

Warum der Hype um Enzephalitis und Epilepsie?

Die bekannte, die verkannte und die unbekannte Borreliose

Biopsie bei tumorverdächtiger spinaler Raumforderung: Fallstrick Neuromyelitis optica

Plasmaaustausch zur Behandlung von neurologischen Erkrankungen: Richtlinie der American Academy of Neurology

Leichte kognitive Beeinträchtigung (mild cognitive impairment) und Differentialdiagnosen

Kennen Sie Morbus Hunter? Warum ist der HNO-Arzt bei der Diagnose wichtig?

Diagnostische Möglichkeiten der Demenzerkrankung 5. Palliativtag am in Pfaffenhofen

Regionale Unterschiede in der Prävalenz und Pharmakotherapie von Multipler Sklerose

Früherkennung bipolarer Störungen Was wir bisher wissen. Andrea Pfennig

Unerklärliche Todesfälle und der Zusammenhang zu Hypoglykämien

HIV Diagnostik und Symptome

Das klinische Spektrum der ALS. Albert C. Ludolph, Ulm

12.10 Polyneuropathie bei LNB

Hirnschlag - Symptome. Stroke Summer School Hirnschlag Symptom Parese. Hirnschlag - Symptome

Akuttherapien für MS und andere neuroimmunologischen Erkrankungen

Behandlungsmöglichkeiten beim Cogan-I-Syndrom Plasmaseparation als Eskalation?

Adoptive cell transfer

Bildgebende Diagnostik bei Rücken- und Rumpfschmerzen

MRT bei MS. CME 3: Früherkennung einer PML - MRT optimal eingesetzt und genutzt. um zusätzliche Informationen zu erhalten.

Multiple Sklerose. Prof. Dr. med. Klaus-Peter Wandinger. UNIVERSITÄTSKLINIKUM Schleswig-Holstein

Die Rolle des Epstein-Barr-Viruses bei der Pathogenese der Multiplen Sklerose

Was ist normal? ao.univ.prof.dr. Michael Krebs

IMMUNTHERAPIE 2017 JETZT AUCH BEI CHRONISCHER MS? Brigitte Wildemann, Neurologische Klinik Universitätsklinikum Heidelberg

Ernährung und Multiple Sklerose. Dieter Pöhlau Kamillus Klinik Asbach (Westerwald)

Clinical Infectious Diseases 2017;65(10): Journal Club vom 22. Januar 2018 Stefan Erb

Gangstörung? Demenz? Blasenschwäche? Altershirndruck (NPH) ist behandelbar!

Das Lennox-Gastaut-Syndrom

Autoimmunerkrankung Erkrankung, bei der sich das Immunsystem gegen körpereigenes Gewebe richtet.

Symptome und Diagnosestellung des Morbus Parkinson

Kopfschmerzen beim Patienten oder beim Arzt?

demiologische Untersuchungen und Therapiestudien. Jüngste experimentelle und klinische

Welche Immuntherapeutika sind momentan bei schubförmiger Multipler Sklerose verfügbar?

Expertenstandard: Behandlungsverfahren nach der neuen S3-Leitlinie

Können wir die Nervenzellen mit Medikamenten reparieren?

Vom unklaren Symptomkomplex zur ganzheitlichen Diagnose

Multiple Sklerose DIE KRANKHEIT MIT TAUSEND GESICHTERN

Neuronale Bildgebung bei der Alzheimer Krankheit. Stefan J. Teipel

handlungsfehler in der präklinischen Versorgung f. Dr. A. Ferbert Jahrestagung der ANB

tritt ein für die akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM), Neuromyelitis optica, Optikusneuritis und Transverse Myelitis (TM)

Transkript:

480 Schattauer 2011 Multiple Sklerose Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom Seltene, aber wichtige Differenzialdiagnosen der MS J. Dörr NeuroCure Clinical Research Center, Charité Universitätsmedizin Berlin Schlüsselwörter Multiple Sklerose, Neuromyelitis optika, Susac-Syndrom, Differenzialdiagnose Zusammenfassung Der Ausschluss von Differenzialdiagnosen ist elementarer Bestandteil der zeitgemäßen Diagnosestellung der Multiplen Sklerose (MS). Zwei seltene, aufgrund unterschiedlicher Therapiestrategien und Prognosen aber wichtige Differenzialdiagnosen der MS sind die Neuromyelitis optika und das Susac-Syndrom. Während erstere in den letzten Jahren zunehmend als eigenständige Erkrankung, denn als Variante der MS angesehen wird, wird letzteres in vielen Fällen gar nicht erst erkannt. In dieser Übersicht werden beide Erkrankungen vorgestellt, wobei der Schwerpunkt auf der differenzialdiagnostischen Abgrenzung von der MS liegt. Korrespondenzadresse Dr. med. Jan Dörr NeuroCure Clinical Research Center Charité Universitätsmedizin Berlin Charitéplatz 1, 10117 Berlin Tel. 030/450-660162, Fax -539921 jan-markus.doerr@charite.de Nervenheilkunde 7/2011 Keywords Multiple sclerosis, neuromyelitis optica, Susac-Syndrome, differential diagnosis Summary The exclusion of relevant differential diagnoses is crucial in the establishment of the diagnosis of multiple sclerosis. Neuromyelitis optica and Susac-Syndrome are rare but because of different therapeutic approaches and prognoses important differential diagnoses of multiple sclerosis. While the former is increasingly considered to be rather an independent disease than a variant of multiple sclerosis, the diagnosis of the latter is quite often completely missed. This review summarizes the most important aspects of both disorders with a focus on features facilitating the discrimination from multiple sclerosis. Neuromyelitis optica and Susac-Syndrome rare but important differential diagnoses of multiple sclerosis Nervenheilkunde 2011; 30: 480 486 Eingegangen am: 7. Januar 2011; angenommen am: 2. März 2011 Die Multiple Sklerose (MS) ist in unseren Breiten die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) bei jungen Erwachsenen (1). Die Diagnosestellung bereitet bei typischer Präsentation in der Regel kaum Schwierigkeiten. Bei Anwendung der etablierten aktuellen Diagnosekriterien nach McDonald, zuletzt revidiert 2005, kann die Diagnose MS gestellt werden, wenn there is no better explanation for the clinical presentation (2, 3). Somit implizieren die McDonald-Kriterien die Berücksichtigung relevanter Differenzialdiagnosen. Die häufigeren Differenzialdiagnosen der MS sind bekannt und werden in dieser Übersicht nicht berücksichtigt. Die Neuromyelitis optika (NMO) und das Susac-Syndrom sind zweifelsfrei seltene, aufgrund des ähnlichen Phänotyps und der differenziellen therapeutischen Herangehensweise aber wichtige und weniger bekannte Differenzialdiagnosen. Neuromyelitis optika Hintergrund Die Neuromyelitis optika (NMO, synonym Devic-Syndrom) galt bis vor wenigen Jahren als seltene Variante der MS. In jüngster Zeit etabliert sich zunehmend die Erkenntnis, dass die NMO eine eigenständige neuroimmunologische Erkrankungsentität mit Manifestationen an Rückenmark und Sehnerven ist. Die NMO ist in der westlichen Welt mit ca. 1% der demyelinisierenden ZNS-Erkrankungen selten. Im asiatischen Raum hingegen lassen sich bis zu 50% der demyelinisierenden ZNS-Erkrankungen als NMO klassifizieren (4), wobei die NMO wahrscheinlich identisch mit der im asiatischen Raum häufigen optikospinalen Verlaufsform der MS ist (5). Das mediane Manifestationsalter liegt in der zweiten Hälfte der 4. Lebensdekade, Erstmanifestationen im höheren Alter oder bei Kindern kommen aber vor (4). Frauen sind deutlich häufiger betroffen (Verhältnis je nach Population bis zu 9:1) (4). Wie bei der MS zeigen histopathologische Untersuchungen an NMO-Läsionen eine entzündliche Infiltration der weißen und grauen Substanz mit ausgedehnter Demyeliniserung und axonaler Schädigung (6). Perivaskuläre Ablagerungen von Immunglobulinen und Komplement sowie der spezifische Nachweis von IgG-Antikörpern gegen den Wasserkanal Aquaporin-4 (AQP-4-AK) sprechen für eine humorale Immunpathogenese (7 10). Für eine eingehendere Beschreibung der NMO-Pathogenese und die Rolle der AQP-4-AK sei auf die entsprechenden Übersichtsarbeiten verwiesen (4, 11, 12). Klinisches Bild und Diagnostik Die NMO manifestiert sich in ca. 90% monosymptomatisch mit einer longitudinalextensiven transversen Myelitis (LETM, vertikale Ausdehnung der Läsion über 3 Wirbelkörpersegmente, Abb. 1) oder einer Optikusneuritis (ON). Das klassische Devic-Syndrom mit transverser Myelitis und simultaner bilateraler ON tritt ledig-

J. Dörr: Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom 481 lich in etwa 10% auf (13). Die Ausprägung der Symptome ist individuell sehr variabel und reicht von milden sensiblen Beschwerden bis zum Vollbild eines kompletten sensomotorischen Querschnittsyndroms mit Para- oder Tetraparese und Blasenentleerungsstörungen. Bei aszendierender zervikospinaler Manifestation kann eine Hirnstammbeteiligung zu lebensbedrohlichen Situationen z. B. durch zentrale Atemfunktionsstörungen führen (13). Die ON verläuft bei der NMO grundsätzlich ähnlich wie bei der MS (13), ist aber ausgeprägter und tritt öfter bilateral simultan bzw. mit kurzer zeitlicher Latenz auf. Eine zerebrale Beteiligung in Form einer Enzephalopathie (z. B. posteriores reversibles enzephalopathisches Syndrom), hypothalamischen Störungen oder kognitiven Einschränkungen kommt in bis zu 15% vor (13 15). Abbildung 1 zeigt deutlich den charakteristischen und hochspezifischen Befund in der spinalen Kernspintomografie (MRT) (16). Häufig lassen sich eine ödematöse Schwellung, Kontrastmittelaufnahme über Tage bis Monate in der akuten Phase und Nekrosen erkennen. Der kraniale MRT-Befund ist in der Regel unauffällig, jedoch schließen zerebrale Läsionen entgegen der früheren Lehrmeinung eine NMO nicht a priori aus (17). Fettsupprimierte MRT-Sequenzen zeigen häufig eine T2-hyperintense Signalstörung im Bereich der N. optikus. Eine Kontrastmittelanreicherung variablen Ausmaßes lässt sich in der akuten Phase beobachten. Unterschiede in der MRT-Darstellung des N. optikus bei NMO und MS wurden nicht untersucht (18). Der Liquorbefund zeigt in ca. 80% eine lymphozytäre Pleozytose, in ca. 50% auch eine Erhöhung neutrophiler Granulozyten. Die Gesamtzellzahl kann vor allem in der akuten Phase 50/μl übersteigen (4, 13). Oligoklonale Banden (OKB) finden sich in max. 30% und sind häufig im Verlauf nicht mehr nachweisbar (4, 19, 20). Einen wesentlichen diagnostischen Fortschritt erbrachte der Nachweis von NMO-IgG mittels Immunfluoreszenz (Sensitivität 73%, Spezifität 91%) (7) und die Identifikation von AQP-4 als Zielantigen der NMO-AK (8). Die Sensitivität des Nachweises von AQP-4-AK für die NMO beträgt 60 bis ca. 80% bei einer Spezifität bis ca. 100% (9, 21 23). Obwohl kein Konsens zur Methodik des NMO- Abb. 1 Sagittales T2-gewichtetes spinales MRT eines NMO-Patienten. Gut erkennbar ist die ausgeprägte, fast über die gesamte Länge des Myelons reichende T2-hyperintense Läsion (Pfeile) bzw. AQP-4-AK-Nachweises besteht, wurde der NMO-AK-Status als eigenständiger Parameter in die 2006 revidierten NMO- Diagnosekriterien aufgenommen (16) ( Tab. 1). Verlauf und Prognose In der Regel verläuft die NMO schubartig. Monophasische Verläufe kommen bei etwa 10 bis 20% der Patienten vor. Im Vergleich zur MS sind die Schübe häufig schwerer und Remissionen öfter inkomplett. Spontanremissionen sind selten (4, 13). So erklärt sich, dass im Vergleich zur MS permanente Defizite bei der NMO schneller kumulieren und die Erkrankung insgesamt rascher voranschreitet. Untersuchungen zum natürlichen Erkrankungsverlauf zeigten bei schubförmigen Verläufen nach einer mittleren Erkrankungsdauer von gut sieben Jahren in 60% eine erhebliche Visusminderung (< 0,1 auf mindestens einem Auge) und eine permanente Mono- oder Paraplegie in 52% (13). Angaben zur Letalität variieren je nach Kollektiv und Verlauf. Während in einer Studie die 5-Jahres-Überlebensrate bei monophasischem Verlauf bei 90% lag, überlebten in der gleichen Studie nur 68% der Patienten mit schubförmigem Verlauf die ersten fünf Jahre. Respiratorische Insuffizienz infolge einer aszendierenden zervikalen Myelitis war bei diesen Patienten die häufigste Todesursache (13). Prädiktoren für einen schubförmigen Verlauf und damit eine schlechtere Prognose sind höheres Alter bei Erstmanifestation, weibliches Geschlecht und ein längerer zeitlicher Abstand zwischen den ersten beiden Ereignissen (24). Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung und der differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten bei Erstmanifestation existieren keine Therapiestudien mit suffizienten Fallzahlen. Retrospektive Untersuchungen unterstützen die gängige Praxis einer hochdosierten intravenösen Glukokortikoidpulstherapie in der akuten Phase (13, 18). Unter Berücksichtigung der vermutlich humoralen Pathogenese stellt die Plasmapherese eine sinnvolle Eskalationsbehandlung dar (25). Eine langfristige schubpräventive Therapie ist erforderlich, wobei die Datenlage keine eindeutige Bewertung der Effektivi- Tab. 1 Revidierte Diagnosekriterien der NMO (modifiziert nach 16). Für die Diagnose einer definitiven NMO müssen beide absoluten Kriterien und mindestens zwei unterstützende Kriterien erfüllt sein. Die Validierung der Kriterien ergab eine Sensitivität von 99% bei einer Spezifität von 90% (16) absolute Kriterien unterstützende Kriterien Optikusneuritis akute Myelitis kontinuierliche Signalveränderung über 3 Rückenmarksegmente kranielle MRT bei Erkrankungsbeginn erfüllt nicht die Paty-Kriterien für MS (63) positiver NMO-IgG-Antikörperstatus im Serum Schattauer 2011 Nervenheilkunde 7/2011

482 J. Dörr: Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom Tab. 2 Wichtige Unterschiede zwischen MS und NMO NMO MS Verteilungsmuster Rückenmark und Sehnerven disseminiert im ZNS Verlauf Beginn immer mit Schub, in 80 bis 90% schubförmiger Verlauf, in 10 bis 20% monophasischer Verlauf Medianes Manifestationsalter Geschlechterverhältnis (w:m) Kraniale MRT tät der unterschiedlichen Therapiestrategien zulässt. Eine aktuelle internationale Konsensusempfehlung spricht sich für die Kombinationstherapie mit Prednisolon und Azathioprin als Therapie der ersten Wahl aus (18). In zweiter Linie kommen Cyclophosphamid, Mitoxantron und Mycophenolat-Mofetil oder Methotrexat und intravenöse Immunglobuline in Frage (18). Eine jüngere unverblindete Untersuchung legt die Wirksamkeit von Rituximab, einem B-Zell depletierenden monoklonalem Antikörper nahe (26). Die Datenlagen zu den in der MS-Therapie fest etablierten Immunmodulatoren Interferon-β und Glatirameracetat ist unklar und zum Teil widersprüchlich (18, 27). Abgrenzung gegen MS zweite Hälfte der 4. Dekade Die NMO ist nach aktueller wissenschaftlicher Datenlage, entgegen der früheren Lehrmeinung keine Variante, sondern vielmehr eine wichtige Differenzialdiagnose der MS bis zu 9:1 ca. 2:1 in ca. 60% unspezifische Läsionen, in bis zu 10% MS-typische Veränderungen Spinale MRT longitudinale langstreckige ( 3 Segmente) zentrale Läsionen Zellzahl und -differenzierung im Liquor Oligoklonale Banden im Schub oft > 50/μl, lymphozytäres und granulozytäres Zellbild 15 bis 30%, oft im Verlauf wieder negativ in ca. 85% initial schubförmiger Verlauf, in ca. 15 % primär chronisch-progredienter Verlauf, keine monophasischen Verläufe zweite Hälfte der 3. Dekade disseminierte, vorwiegend periventrikulär lokalisierte Läsionen multiple, kurzstreckige, eher peripher lokalisierte Läsionen selten > 20/μl, lymphomonozytäres Zellbild 85%, im Verlauf persistierend NMO-IgG / AQP-4-AK in ca. 60 bis 70% positiv selten nachweisbar MRZ-Reaktion im Liquor fast immer negativ in 80 bis 90% positiv Hinweise für andere Autoimmunerkrankungen in ca. 30 bis 50% selten (4). Eine möglichst frühzeitige Diagnose ist aufgrund der unterschiedlichen Prognosen und Therapiestrategien erforderlich ( Tab. 2). Während vor Einführung der neuen Diagnosekriterien eine Differenzierung oftmals schwierig war oder nur retrospektiv gelang, wird die Abgrenzung gegenüber der MS bei konsequenter Umsetzung der revidierten Kriterien insbesondere durch die Verfügbarkeit eines serologischen Markers erheblich vereinfacht. Einige Aspekte verdienen eine besondere Beachtung: Der wichtigste nicht serologische differenzialdiagnostische Parameter ist der Nachweis von langstreckigen ( 3 Rückenmarksegmente) spinalen Läsionen, auch MS-typische Marklagerläsionen im kranialen MRT schließen eine NMO nicht aus (17), ein negativer NMO-IgG- bzw. AQP- 4-AK-Status schließt eine NMO ebenfalls nicht aus (7, 9). Weiterhin Schwierigkeiten bereitet oftmals die Diagnose einer NMO bereits zum Zeitpunkt der monosymptomatischen Erstmanifestation (ON oder Myelitis). Eine LETM als Manifestation einer MS ist äußerst ungewöhnlich (28), sodass eine extensive vertikale Ausdehnung spinaler Läsionen auf eine NMO deutet. Durch die Bestimmung der NMO/AQP-4-AK lassen sich Patienten mit einem hohen Risiko für die Entwicklung einer NMO selektieren (29). Die Liquordiagnostik bietet weitere, wenn auch nicht absolut trennscharfe Parameter zur Differenzierung: Die Prävalenz von OKB ist bei der NMO deutlich niedriger als bei der MS, sodass ein negativer OKB-Status eher für eine NMO spricht ( Tab. 2). Die MRZ-Reaktion (intrathekale Bildung von Masern-, Rubella-, und Varizella-zoster-IgG), die bei der MS in 80 bis 90% positiv ist, fällt bei der NMO nahezu immer negativ aus (30). Susac-Syndrom Hintergrund 1979 beschrieb John Susac zwei Patientinnen mit subakut aufgetretenen paranoidpsychotischen Symptomen, fokalneurologischen Symptomen, sensorineuraler Schwerhörigkeit und retinalen Astarterienverschlüssen (31) und prägten damit das Eponym Susac-Syndrom. Seither wurden weltweit gut 200 Susac-Erkrankungen in Form von Einzelfallberichten oder sehr kleinen Fallserien publiziert. Das Susac- Syndrom gehört sicher zu den sehr seltenen Erkrankungen, valide Daten zur Inzidenz und Prävalenz liegen nicht vor. Es muss davon ausgegangenen werden, dass viele Fälle nicht erkannt werden. Frauen sind deutlich häufiger betroffen (Verhältnis ca. 3:1), das typische Manifestationsalter liegt in der 3. bis 4. Dekade, wobei auch Manifestationen bei Kindern berichtet wurden (32). Geografische oder ethnische Risikofaktoren sind nicht erkennbar. Ätiologie und Pathogenese des Susac-Syndroms sind unbekannt. Unstrittig ist, dass ein okkludierender Prozess der Mikrovaskulatur in Retina, ZNS und Innenohr vorliegt. Thromben sind nicht nachweisbar, sodass die Okklusionen eher auf eine Schwellung der Endothelzellen zurückzuführen sind (33). Auch hirnbioptisch wurden Verdickungen der Nervenheilkunde 7/2011 Schattauer 2011

J. Dörr: Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom 483 Gefäßwände und Mikroinfarkte innerhalb der grauen und weißen Substanz beschrieben (31, 34 39). Eine Reihe von Evidenzen spricht für eine primäre Schädigung von Endothelzellen auf dem Boden autoimmuner Prozesse: das Ansprechen auf Glukokortikoidgabe im Krankheitsschub und eine Stabilisierung des Krankheitsverlaufes unter immunsuppressiver Langzeittherapie (31, 40 44), der Nachweis vaskulärer Komplementablagerungen und lymphozytärer Gefäßwandinfiltrate (34 36, 45), das häufige Vorliegen einer lymphozytären Liquor-Pleozytose (46) sowie Übereinstimmungen mit der Gefäßpathologie bei der Dermatomyositis. Es wird gegenwärtig untersucht, ob die bei einigen Susac-Patienten nachweisbaren Antiendothelzellantikörper (AECA) spezifisch für diese Erkrankung sind (46 48). Klinisches Bild und Diagnostik Tab. 3 Wegweisende Zusatzuntersuchungen und typische Befunde beim Susac-Syndrom Auf dem Boden dieser vaskulopathischen Prozesse in den entsprechenden Organen manifestiert sich das Susac-Syndrom symptomatisch mit der Trias Enzephalopathie, Innenohrschwerhörigkeit und Sehstörungen, wobei alle drei Komponenten nur selten zeitgleich vorhanden sind (49). Mitunter liegen Jahre zwischen den einzelnen Manifestationen (35, 50). Das bunte Bild und der zeitliche Verlauf der Symptome ist ein Hauptgrund für Fehldiagnosen. Prinzipiell kann nahezu jede ZNS-Symptomatik mit akuter oder subakuter Manifestation auftreten. Initial häufig sind episodisch auftretende Kopfschmerzen mit vegetativen Begleiterscheinungen, die den übrigen Symptomen auch mehrere Monate vorausgehen können (49). Ebenfalls typisch sind Persönlichkeitsveränderungen, Beeinträchtigungen kognitiver, mnestischer und exekutiver Funktionen sowie Störungen von Affekt und Antrieb (35, 49, 51). Auch quantitative Bewusstseinsstörungen oder schwere paranoide Psychosen kommen vor (31). Hinzu kommen fokalneurologische Symptome z. B. in Form von zentralen sensomotorischen Störungen oder zerebellären Symptomen. Epileptische Anfälle wurden ebenfalls berichtet (35). Retinale Manifestationen äußern sich charakteristischerweise durch Gesichtsfeldstörungen, insbesondere in Form von (Flimmer)-Skotomen, Verschwommensehen und Einengungen des peripheren Gesichtsfelds. Im Innenohr führt der endotheliopathische Prozess zu einer ischämischen Schädigung von Corti-Organ und Vestibularapparat, wobei aufgrund der stärkeren Vulnerabilität der apikalen Cochleaabschnitte bevorzugt der Tieftonbereich betroffen ist. Oftmals besteht begleitend ein anhaltender quälender Tinnitus. Bei einer Beteiligung des Vestibularapparats können Drehschwindel und ein peripher-vestibulär generierter Nystagmus auftreten. Anders als bei der NMO wurden für das Susac-Syndrom keine einheitlichen Diag- Abb. 2 Sagittale T2-gewichtete Sequenz eines Patienten mit Susac- Syndrom. Im Balken imponieren runde, kleine, zentral gelegene, Snowball-like -Läsionen Methode retinale Fluoreszenzangiografie zerebrale MRT-Bildgebung Audiometrie Typische Befunde retinale Astarterienverschlüsse Fluoreszein-Extravasate zentrale Veränderungen im Corpus callosum Snowballs, Spokes, Black Holes Balkenatrophie Läsionen in der weißen Substanz periventrikulär zerebellär subkortikal Läsionen in der grauen Substanz kortikal Thalamus Basalganglien leptomeningeale Kontrastmittelanreicherungen sensorineurale Hörminderung vorwiegend für tiefe Frequenzen oft beidseitig nosekriterien etabliert. Die wichtigsten diagnostischen Befunde liefern die zerebrale MRT, die retinale Fluoreszenzangiografie und die Tonaudiometrie ( Tab. 3). Im MRT finden sich kleine multifokale Läsionen überwiegend in der weißen Substanz und praktisch immer im Corpus callosum. Größere Läsionen werden aufgrund ihrer runden, am Rand leicht unscharfen Darstellung Snowballs genannt ( Abb. 2). Bei ca. 30% der Patienten besteht eine leptomeningeale Kontrastmittelaufnahme (52). Als Residuum bleibt nach der akuten Phase ein krankhaft veränderter Balken mit multiplen kleinen, zentral gelegenen Löchern insbesondere im Splenium. Bei schwer betroffenen Patienten findet sich eine generalisierte Atrophie des Groß- und Kleinhirns sowie des Balkens (51 53). Mit- Schattauer 2011 Nervenheilkunde 7/2011

484 J. Dörr: Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom Abb. 3 Retinale Fluoreszenzangiografie eines Patienten mit Susac-Syndrom in der akuten Erkrankungsphase. Rechtes Auge, Zeitverzögerung 32 Sekunden. Erkennbar sind Extravasationen des Fluoreszenzfarbstoffes (Sternchen) und Gefäßokklusionen (Pfeile) tels Diffusion Tensor Imaging (DTI) zur Darstellung der Faserintegrität lassen sich insbesondere im Genu des Corpus callosum und im frontalen Kortex Schäden der Faserintegrität nachweisen (54). Während sich im Normalfall die retinalen Arterienäste fluoreszenzangiografisch bis in die Peripherie darstellen lassen, führt die pathologische Schwellung der Endothelzellen beim Susac-Syndrom zu Okklusionen retinaler Astarterien, die durch einen plötzlichen Abbruch des Farbstoffs im Gefäßverlauf identifiziert werden können. Tab. 4 Wichtige Unterschiede zwischen MS und Susac-Syndrom Häufig lässt sich ein Austritt von Fluoreszenzfarbstoff (Leckage) erkennen ( Abb. 3). Mitunter lassen sich insbesondere in der Peripherie des Augenhintergrunds weißgelbliche plaqueartige Akkumulationen in der arteriolären Gefäßwand erkennen (Gass-Plaques), die durch chronische Extravasate zwischen Endothelzellen und Basalmembran entstehen (55). Da ein bestehender Hörverlust durch eine Enzephalopathie maskiert sein kann, ist die Audiometrie obligater Bestandteil der Diagnostik. Der typische Befund zeigt eine sensorineurale Hörstörung insbesondere im Tieftonbereich. Es können aber auch andere Frequenzbereiche betroffen sein (56). Labordiagnostische Marker wurden für das Susac-Syndrom nicht etabliert, der serologische Nachweis von AECA kann die Diagnose stützen (47, 48). Liquordiagnostisch findet sich typischerweise eine leichtgradige Pleozytose (selten > 20 Zellen/μl) und eine mäßige Proteinerhöhung (35, 57). Eine intrathekale Immunglobulinsynthese und OKB sind eher untypisch (49), schließen die Erkrankung jedoch keineswegs a priori aus. Zur differenzierten Darstellung wichtiger Differenzialdiagnosen sei auf die existierende Literatur verwiesen (51). Verlauf und Prognose MS Susac-Syndrom Kopfschmerzen untypisch häufig, initial Enzephalopathie zumindest initial ungewöhnlich initial häufig Hörminderung untypisch charakteristischer Befund Retinale Perfusionsstörungen nicht vorhanden charakteristischer Befund Kraniales MRT Spinales MRT querovale Läsionen Balkenläsionen an der Unterseite, Dawson-Finger keine leptomeningeale KM-Anreicherung häufig zervikothorakale Läsionen nachweisbar kleine rund Läsionen Balkenläsionen in zentralen Abschnitten, im Splenium, Snowballs leptomeningeale KM-Anreicherung in rund 30% in der Regel unauffällig Liquor OKB in ca. 95% vorhanden OKB nur in Einzelfällen nachweisbar Der klinische Verlauf variiert beim Susac- Syndrom von Patient zu Patient. Am häufigsten ist wahrscheinlich ein monophasischer enzephalopathischer Verlauf über ein bis zwei Jahre mit akutem oder subakutem Beginn. Nur in Einzelfällen bleibt die Erkrankung über einen längeren Zeitraum als fünf Jahre chronisch aktiv (39, 58). Ein Fallbericht beschreibt ein erstes Rezidiv erst 18 Jahre nach der enzephalopathischen Erstmanifestation (50). Neben diesem monophasischen Verlauf zeichnet sich ein weiterer Typ mit rezidivierenden Manifestationen retinal und/oder am Innenohr, jedoch ohne signifikante Enzephalopathie ab. Übergänge von einer in die andere Verlaufsform oder auch Überlagerungen beider Formen kommen vor (51, 57 59). Für die schwierige Diagnosestellung solcher abortiver Verläufe ist die Tatsache wichtig, dass die typischen MRT-Veränderungen insbesondere callosal oftmals trotzdem nachweisbar sind (60). Basierend auf der Hypothese einer Immunpathogenese und gestützt durch das anekdotisch berichtete Ansprechen auf immunsuppressive Therapien kommen überwiegend immunsuppressive Strategien zum Einsatz (31, 40 44). Während die akute Phase zumeist gut auf eine hochdosierte Glukokortikoidtherapie anspricht, ist in der Regel eine langfristige Immunsuppression z. B. mit Cyclophosphamid oder Mycophenolat-Mofetil indiziert (35, 61). Daneben wird der dauerhafte niedrig dosierte Einsatz von Thrombozytenaggregationshemmern empfohlen. Ein pragmatisches, aufgrund der Ähnlichkeit der beiden Erkrankungen an die Behandlung der Dermatomyositis angelehntes Therapieregime wurde jüngst von Robert Rennebohm vorgeschlagen (60). Da die Schädigung von ZNS, Retina und Innenohr zu einer endgültigen Gewebedestruktion und damit zu einem permanenten Funktionsverlust führen kann, hängt die Prognose des Susac-Syndroms von Art, Ausprägung und Dauer der Symptome ab und kann entscheidend durch den frühzeitigen Beginn einer adäquaten Therapie modifiziert werden. Bei mildem monophasischem Verlauf und adäquater Therapie kann sich die Erkrankung ohne relevantes Defizit zurückbilden. Im ungünstigen Fall führt die Erkrankung zu Demenz, Blindheit und Taubheit. Nervenheilkunde 7/2011 Schattauer 2011

J. Dörr: Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom 485 Abgrenzung gegen MS Schubartig auftretende ZNS-Symptome, Sehstörungen, periventrikuläre und balkenassoziierte Läsionen im MRT in Zusammenhang mit einem entzündlichen Liquorsyndrom und Ansprechen auf Glukokortikosteroide bei jüngeren Erwachsenen ist eine typische Situation bei der MS, kann aber in gleicher Weise auch beim Susac- Syndrom auftreten. Es überrascht daher nicht, dass bei vielen Patienten mit Susac- Syndrom fälschlicherweise zunächst eine MS diagnostiziert wurde. Es gibt jedoch einige entscheidende Unterschiede, die eine relativ sichere Differenzierung zwischen MS und Susac-Syndrom ermöglichen ( Tab. 4). Auf klinischer Seite sind beispielsweise chronische Kopfschmerzen und ausgeprägte enzephalopathische Symptome in der Frühphase typisch für das Susac- Syndrom, jedoch untypisch für eine MS. Hörstörungen und vaskuläre Auffälligkeiten am Augenhintergrund sollten ebenfalls Anlass zur kritischen Hinterfragung der (Verdachts)Diagnose MS geben. Gefäßabbrüche und Leckagen in der retinalen Fluoreszenzangiografie ( Abb. 3) kommen bei der MS nicht vor. Eine wesentliche differenzialdiagnostische Bedeutung haben die Form und Lokalisation der MRT- Läsionen (52, 62). Bei der MS imponieren die Läsionen häufig queroval und sind um die Venolen des Gehirns lokalisiert, wodurch die bekannten fingerförmigen Darstellungen (Dawson-Finger) entstehen. Beim Susac-Syndrom hingegen sind die Läsionen eher rund. Snowballs im Balken gelten als pathognomonisch für das Susac- Syndrom ( Abb. 2). Während die Balkenläsionen bei der MS in erster Linie an der kaudalen Seite des Corpus callosum, also am septocallosalen Übergang lokalisiert sind, liegen sie beim Susac-Syndrom typischerweise im Zentrum des Balkens und sparen die Peripherie aus (52, 62). Schließlich lässt sich beim Susac-Syndrom in ca. 30% eine leptomeningeale Kontrastmittelanreicherung nachweisen, die bei der MS nicht vorkommt (52). Auch die spinale MRT-Bildgebung kann hilfreich sein: Während bei der MS häufig oft multiple Läsionen zervikothorakal zu finden sind (28), gehören spinale Läsionen nicht zum Bild des Susac-Syndroms. Während der Liquorstatus bei der Differenzierung zwischen beiden Erkrankungen nicht weiterhilft, lassen sich isolierte OKB im Liquor bei etwa 95% der MS-Patienten (20), jedoch nur sehr selten beim Susac-Syndrom nachweisen. Ein OKB-negativer Liquor sollte also immer Anlass zur kritischen Hinterfragung einer MS-Diagnose geben. Literatur 1. Compston A, Coles A. Multiple sclerosis. Lancet 2008; 372(9648): 1502 17. 2. McDonald WI et al. Recommended diagnostic criteria for multiple sclerosis: guidelines from the International Panel on the diagnosis of multiple sclerosis. Ann Neurol 2001; 50(1): 121 7. 3. Polman CH et al. Diagnostic criteria for multiple sclerosis: 2005 revisions to the McDonald Criteria. Ann Neurol 2005; 58(6): 840 6. 4. Wingerchuk DM et al. The spectrum of neuromyelitis optica. Lancet Neurol 2007; 6(9): 805 15. 5. Weinshenker BG et al. OSMS is NMO, but not MS: proven clinically and pathologically. Lancet Neurol 2006; 5(2): 110 1. 6. Lucchinetti C et al. A role for humoral mechanisms in the pathogenesis of Devic's neuromyelitis optica. Brain 2002; 125(Pt 7): 1450 1. 7. Lennon VA et al. A serum autoantibody marker of neuromyelitis optica: distinction from multiple sclerosis. Lancet 2004; 364(9451): 2106 12. 8. Lennon VA et al. IgG marker of optic-spinal multiple sclerosis binds to the aquaporin-4 water channel. J Exp Med 2005; 202(4): 473 7. 9. Paul F et al. Antibody to aquaporin 4 in the diagnosis of neuromyelitis optica. PLoS Med 2007; 4(4): e133. 10. Jarius S et al. NMO-IgG in the diagnosis of neuromyelitis optica. Neurology 2007; 68(13): 1076 7. 11. Jarius S, Wildemann B. AQP4 antibodies in neuromyelitis optica: diagnostic and pathogenetic relevance. Nat Rev Neurol 2010; 6(7): 383 92. 12. Graber DJ, Levy M, Kerr D, Wade WF. Neuromyelitis optica pathogenesis and aquaporin 4. J Neuroinflammation 2008; 5: 22. 13. Wingerchuk DM et al. The clinical course of neuromyelitis optica (Devic's syndrome). Neurology 1999; 53(5): 1107 14. 14. Poppe AY et al. Neuromyelitis optica with hypothalamic involvement. Mult Scler 2005; 11(5): 617 21. 15. Magaña SM et al. Posterior reversible encephalopathy syndrome in neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology 2009; 72(8): 712 7. 16. Wingerchuk DM et al. Revised diagnostic criteria for neuromyelitis optica. Neurology 2006; 66(10): 1485 9. 17. Pittock SJ et al. Brain abnormalities in neuromyelitis optica. Arch Neurol 2006; 63(3): 390 6. 18. Sellner J et al. EFNS guidelines on diagnosis and management of neuromyelitis optica. Eur J Neurol 2010; 17(8): 1019 32. 19. de Seze J et al. Is Devic's neuromyelitis optica a separate disease? A comparative study with multiple sclerosis. Mult Scler 2003; 9(5): 521 5. 20. McLean BN, Luxton RW, Thompson EJ. A study of immunoglobulin G in the cerebrospinal fluid of 1007 patients with suspected neurological disease using isoelectric focusing and the Log IgG-Index. A comparison and diagnostic applications. Brain 1990; 113(Pt 5): 1269 89. 21. Waters P et al. Aquaporin-4 antibodies in neuromyelitis optica and longitudinally extensive transverse myelitis. Arch Neurol 2008; 65(7): 913 9. 22. Jarius S et al. Standardized method for the detection of antibodies to aquaporin-4 based on a highly sensitive immunofluorescence assay employing recombinant target antigen. J Neurol Sci 2010; 291(1 2): 52 6. 23. Kalluri SR et al. Quantification and functional characterization of antibodies to native aquaporin 4 in neuromyelitis optica. Arch Neurol 2010; 67(10): 1201 8. 24. Wingerchuk DM, Weinshenker BG. Neuromyelitis optica: Clinical predictors of a relapsing course and survival. Neurology 2003; 60(5): 848 53. 25. Watanabe S et al. Therapeutic efficacy of plasma exchange in NMO-IgG-positive patients with neuromyelitis optica. Mult Scler 2007; 13(1): 128 32. 26. Cree BAC et al. An open label study of the effects of rituximab in neuromyelitis optica. Neurology 2005; 64(7): 1270 2. 27. Trebst C. [Diagnosis and treatment of neuromyelitis optica: Consensus recommendations of the Neuromyelitis Optica Study Group.] Nervenarzt 2010 Dez 22, www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/21174070. 28. Bot JCJ et al. Spinal cord abnormalities in recently diagnosed MS patients: added value of spinal MRI examination. Neurology 2004; 62(2): 226 33. 29. Weinshenker BG et al. Neuromyelitis optica IgG predicts relapse after longitudinally extensive transverse myelitis. Ann Neurol 2006; 59(3): 566-9. 30. Jarius S et al. Polyspecific, antiviral immune response distinguishes multiple sclerosis and neuromyelitis optica. J Neurol Neurosurg Psychiatr 2008; 79(10): 1134 6. 31. Susac JO, Hardman JM, Selhorst JB. Microangiopathy of the brain and retina. Neurology 1979; 29(3): 313 6. 32. Eluvathingal Muttikkal TJ, Vattoth S, Keluth Chavan VN. Susac syndrome in a young child. Pediatr Radiol 2007; 37(7): 710 3. 33. McLeod DS et al. Retinal and optic nerve head pathology in Susac's Syndrome. Ophthalmology 2010 Okt 2, www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20920828. 34. O'Halloran HS et al. Microangiopathy of the brain, retina, and cochlea (Susac syndrome). A report of five cases and a review of the literature. Ophthalmology 1998; 105(6): 1038 44. 35. Petty GW et al. Retinocochleocerebral vasculopathy. Medicine (Baltimore) 1998; 77(1): 12 40. 36. Heiskala H et al. Microangiopathy with encephalopathy, hearing loss and retinal arteriolar occlusions: two new cases. J Neurol Sci 1988; 86(2 3): 239 50. 37. Barker R et al. Microangiopathy of the brain and retina with hearing loss in a 50 year old woman: extending the spectrum of Susac's syndrome. J Neurol Neurosurg Psychiatr 1999; 66(5): 641 3. 38. Ballard E, Butzer JF, Donders J. Susac's syndrome: neuropsychological characteristics in a young man. Neurology 1996; 47(1): 266 8. 39. Bogousslavsky J et al. Encephalopathy, deafness and blindness in young women: a distinct retinocochleocerebral arteriolopathy? J Neurol Neurosurg Psychiatry 1989; 52(1): 43 6. Schattauer 2011 Nervenheilkunde 7/2011

486 J. Dörr: Neuromyelitis optika und Susac-Syndrom 40. MacFadyen DJ, Schneider RJ, Chisholm IA. A syndrome of brain, inner ear and retinal microangiopathy. Can J Neurol Sci 1987; 14(3): 315 8. 41. Monteiro ML et al. A microangiopathic syndrome of encephalopathy, hearing loss, and retinal arteriolar occlusions. Neurology 1985; 35(8): 1113 21. 42. Papeix C et al. [Susac's syndrome: improvement with combined cyclophosphamide and intravenous immunoglobulin therapy]. Rev Neurol (Paris) 2000; 156(8 9): 783 5. 43. Susac JO. Susac's syndrome: the triad of microangiopathy of the brain and retina with hearing loss in young women. Neurology 1994; 44(4): 591 3. 44. Tashima K et al. Susac's syndrome: beneficial effects of corticosteroid therapy in a Japanese case. Intern Med 2001; 40(2): 135 9. 45. Magro C. Susac's syndrome: an autoimmune endotheliopathy. Abstract presented at 1st Susac's Syndrome Symposium, held at Ohio State University, Columbus 2005. 46. Susac JO, Egan RA, Rennebohm RM, Lubow M. Susac's syndrome: 1975 2005 microangiopathy/ autoimmune endotheliopathy. J Neurol Sci 2007; 257(1 2): 270 2. 47. Waldman J, Knight D. Antiendothelial cell antibodies in Susac's syndrome. Abstract presented at the 1st Susac's Syndrome Symposium, held at Ohio State University, Columbus 2005. 48. Jarius S et al. Anti-endothelial serum antibodies in a patient with Susac's syndrome. J Neurol Sci 2009; 285(1 2): 259 61. 49. Aubart-Cohen F et al. Long-term outcome in Susac syndrome. Medicine (Baltimore) 2007; 86(2): 93 102. 50. Petty GW et al. Recurrence of Susac syndrome (retinocochleocerebral vasculopathy) after remission of 18 years. Mayo Clin Proc 2001; 76(9): 958 60. 51. Dörr J et al. Encephalopathy, visual disturbance and hearing loss-recognizing the symptoms of Susac syndrome. Nat Rev Neurol 2009; 5(12): 683 8. 52. Susac JO et al. MRI findings in Susac's syndrome. Neurology 2003; 61(12): 1783 7. 53. White ML, Zhang Y, Smoker WR. Evolution of lesions in Susac syndrome at serial MR imaging with diffusion-weighted imaging and apparent diffusion coefficient values. AJNR Am J Neuroradiol 2004; 25(5): 706 13. 54. Kleffner I et al. Diffusion tensor imaging demonstrates fiber impairment in Susac syndrome. Neurology 2008; 70(19 Pt 2): 1867 9. 55. Egan RA, Hills WL, Susac JO. Gass plaques and fluorescein leakage in Susac Syndrome. J Neurol Sci 2010; 299(1 2): 97 100. 56. Hilgert E, Harrèus U, Kramer MF, Matthias C. [Susac's syndrome. A rare microangiopathy of cochlea, retina, and brain]. HNO 2006; 54(4): 303 6. 57. Papo T et al. Susac syndrome. Medicine (Baltimore) 1998; 77(1): 3 11. 58. Pawate S, Agarwal A, Moses H, Sriram S. The spectrum of Susac's syndrome. Neurol Sci 2009; 30(1): 59 64. 59. Mallam B, Damato EM, Scolding NJ, Bailey C. Serial retinal fluorescein angiography and immune therapy in Susac's syndrome. J Neurol Sci 2009; 285(1 2): 230 4. 60. Rennebohm RM, Egan RA, Susac JO. Treatment of Susac's Syndrome. Curr Treat Options Neurol 2008; 10(1): 67 74. 61. Fox RJ et al. Treatment of Susac syndrome with gamma globulin and corticosteroids. J Neurol Sci 2006; 251(1 2): 17 22. 62. Gean-Marton AD et al. Abnormal corpus callosum: a sensitive and specific indicator of multiple sclerosis. Radiology 1991; 180(1): 215 21. 63. Paty DW et al. MRI in the diagnosis of MS: a prospective study with comparison of clinical evaluation, evoked potentials, oligoclonal banding, and CT. Neurology 1988; 38(2): 180 5. Nervenheilkunde 7/2011 Schattauer 2011