Lehrstuhl Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht Univ.-Prof. Dr. M. Andrae Europäisches und Internationales Zivilverfahrensrecht Stand: 04/2010 Nr. 1: Einführung zum Internationalen Zivilverfahrensrecht Fall 1: A, mit Niederlassung in Paris (Bern und Moskau), hat gegen D, mit Wohnsitz in Deutschland, ein Urteil in Frankreich (Schweiz und Russland) erwirkt und will es nun in Deutschland vollstrecken lassen. Fall 2: D, mit Wohnsitz in Deutschland, verursacht während eines Ferienaufenthalts in den USA, in Texas, gegenüber dem dort lebenden US-Bürger A einen Verkehrsunfall. Er wird 5 Jahre danach von A vor dem Landgericht in Potsdam auf Schadensersatz verklagt. Wonach richtet sich die Verjährung? Hinweis: Nach dem Recht des Bundesstaates Texas ist die Verjährung als Klagbarkeitsverjährung prozessrechtlich eingeordnet. A. Gegenstand des IZVR Gesamtheit aller Normen, die sich auf Prozessrechtsverhältnisse mit ausländischem Element beziehen. IZPR - betrifft das streitige Verfahren IZVR - dazukommend - FamFG-Verfahren, z. B. Nachlassverfahren oder bestimmte familienrechtliche Verfahren - Insolvenzverfahren mit Auslandsberührung - internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit B. Europäisches Zivilverfahrensrecht Zielstellung: Verstärkung des Rechtsschutzes der innerhalb der Gemeinschaft ansässigen Personen als Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes. 1. Phase Rechtsquellen: Art. 293 EGV, Verpflichtung der Mitgliedstaaten durch völkerrechtliche Verträge die Vereinfachung der Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung richterlicher Entscheidungen und Schiedssprüche sicherzustellen. Ergebnis: EuGVÜ vom 27.09.1968, 4. Neufassung vom 29.11.1996. Andere Projekte sind letztlich nicht zum Abschluss geführt worden. 2. Phase
2 Kompetenz der Gemeinschaft für Rechtsakte seit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam zum 01.05.1999 (Art. 293 EGV). Art. 61 c, 65 EGV (heute Art. 67, 80 AEUV), Zuständigkeit des Rates für den Erlass von Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit, bezogen auf: - Internationale Zuständigkeit EuGVVO (J/H Nr. 160), EheVO (J/H Nr. 162) - Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen EuGVVO (J/H Nr. 160), EheVO (J/H Nr. 162), EuVTVO (J/H Nr. 183) - grenzüberschreitende Zustellung EuZVO (J/H Nr. 224) - Zusammenarbeit bei der Beweiserhebung EuBVO (J/H Nr. 225) - Beseitigung der Hindernisse für eine reibungslose Abwicklung von Zivilverfahren, erforderlichenfalls durch die Forderung der Vereinbarkeit der zivilrechtlichen Verfahrensvorschriften in den Mitgliedstaaten Beispiel: EuVTVO sieht Mindestanforderungen für den Erlass eines Europäischen Vollstreckungstitels (hierzu AP Nr. 6). C. Quellen des IZVR, EuZVR 1. Sekundäres Gemeinschaftsrecht a) Eu-VO Beispiele: EuGVVO (J/H Nr. 160); EheVO (J/H Nr. 162) Ausfüllung durch innerstaatliche Spezialregelung Beispiele: EuGVVO - AVAG (J/H Nr. 160a); EheVO IntFamRG (J/H Nr. 162a) b) EU-Richtlinien Beispiel: Prozesskostenhilferichtlinie (J/H Nr. 226), anzuwenden sind die umsetzenden einzelstaatlichen Bestimmungen wie als Beispiel: Buch 11 Abschn. 3 ZPO (J/H Nr. 226a). 2. Unmittelbar anwendbare völkerrechtliche Verträge a) Multilaterale völkerrechtliche Verträge - Übereinkommen der Haager Konferenz (völkerrechtliche Organisation mit dem Ziel der Vereinheitlichung des internationalen Privat- und Verfahrensrechts; Deutschland Mitgliedstaat Beispiel: HKiEntfÜ (J/H Nr. 222) - Geschlossene multilaterale Verträge Beispiel: LugÜ (J/H Nr. 152)
3 b) Bilaterale Abkommen Beispiel: Deutsch-israelischer Vertrag über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (J/H Nr. 186). Auch völkerrechtliche Verträge werden durch innerstaatliche Ausführungsbestimmungen untersetzt. Beispiele: HKiEntfÜ - 37 ff. IntFamRG (J/H Nr. 162a) Deutsch-israelischer Vertrag - 1 Abs. 1 e, 45 ff. AVAG (J/H Nr. 160a, 186a) 3. Autonomes IZPR Z. B. 328, 722, 723 ZPO, 98 ff. FamFG 4. Verhältnis der Quellen zueinander Vorrang der Eu-VO in ihrem sachlich, räumlich-personellen und zeitlichen Anwendungsbereich Das Verhältnis zu völkerrechtlichen Verträgen, denen die Mitgliedstaaten angehören, ist aus der betreffenden Verordnung zu erschließen. Beispiele: Art. 69-71 EuGVVO; Art. 69 62 EheVO Die Bestimmungen des autonomen Rechts finden im Anwendungsbereich der betreffenden VO nur Anwendung, wenn diese hierfür Raum gibt. Beispiele: Die Zuständigkeitsvorschriften der EuGVVO haben abschließenden Charakter keine Anwendung nationaler Vorschriften, aber eingeschränkter räumlich-personeller Anwendungsbereich. Dagegen lässt die EheVO Restzuständigkeit nach nationalem Recht zu (Art. 7 EheVO). Zudem gilt das Günstigkeitsprinzip im Verhältnis völkerrechtlicher Verträge (Ausnahme LugÜ) und autonomen Recht in Bezug auf Anerkennung und Vollstreckung sowie internationale Rechtshilfe. Ursache: Völkerrechtliche Verträge sollen den internationalen Rechtsverkehr erleichtern.
4 D. Grundprinzipien und Regelungsziele des IZPR 1. Territorialitätsprinzip Inhalt: Beschränkung gerichtshoheitlicher Tätigkeit und der Geltungskraft von durch Gerichte erlassene Hoheitsakte auf das Inland Folge: - Unzulässigkeit von gerichtlichen Prozesshandlungen ausländischer Gerichte im Inland. - Unzulässigkeit von gerichtlichen Prozesshandlungen inländischer Gerichte im Ausland. Ausnahme: Duldung EU: Perspektivisch gemeinschaftsbezogenes Territorialitätsprinzip im Verhältnis zu Drittstaaten, z.b. Europäischer Vollstreckungstitel (siehe AP Nr. 6) bzw. Mahnbescheid. 2. Gegenseitigkeitsprinzip Zielstellung: Dem internationalen Rechtsverkehr entsprechende Gestaltung des IZPR durch andere Staaten zu fördern. Nachteil: Leidtragende sind nicht Staaten, sondern Privatpersonen, die auf die Gestaltung des IZPR im betreffenden Staat keinen Einfluss haben. Sicherung: Völkerrechtliche Verträge 3. Internationale Entscheidungsharmonie Ziel: Verhinderung, divergierende Entscheidungen in verschiedenen Staaten. Durch: Z. B. Beachtung der ausländischen Rechtshängigkeit oder Anerkennung ausländischer Entscheidungen mit der Folge der Wirkungserstreckung auf das Inland. 4. Erleichterung des Rechtsverkehrs über die Grenzen 5. Grundsatz der lex fori Deutsche Gerichte wenden in den von ihnen anhängigen Verfahren nur deutsches Verfahrensrecht an (eingeschlossen EU-VO und Bestimmungen in unmittelbar anwendbaren Staatsverträgen). Typisch für das IZVR sind nicht Kollisionsnormen, sondern auslandsbezogene Sachnormen. Ursache: - historisch: Prozessrecht Teil des öffentlichen Rechts - heute: Praktikabilitätserwägungen
5 Erforderlich: Anpassung des inländischen Prozessrechts an die Anforderungen des ausländischen materiellen Rechts, soweit das deutsche Recht entsprechende Rechtsinstitute nicht kennt. Beispiele: Trennung von Ehegatten von Tisch und Bett, Schuldspruch bei Scheidung Problem: Wenn Anpassung des deutschen Verfahrensrechts nicht möglich ist. Lösung: Rechtsinstitut der wesenseigenen Zuständigkeit zur Lösung des Widerspruchs zwischen der kollisionsrechtlichen Verweisung auf ausländisches Recht und der ausschließlichen Anwendung der lex fori im Verfahrensrecht. Es ermöglicht es, die Zulässigkeit eines Antrags trotz vorhandener internationaler Zuständigkeit wegen Nichtanpassungsfähigkeit des Antragsgegenstandes in das deutsche Verfahrensrecht abzulehnen. Die Grenze ist weit zu ziehen, Vorrang hat die Anpassung. Die Anwendung des ausländischen Rechts muss den Gerichten eine Tätigkeit abverlangen, die selbst bei Anpassung mit Mitteln des deutschen Verfahrensrechts nicht zu realisieren sind (hierzu BGH 47, 324, 333 ff.). E. Qualifikationsprobleme 1. Abgrenzung Prozessrecht materielles Recht a) Einheitsrecht - möglichst autonome Qualifikation b) Funktionelle Qualifikation nach der lex fori Es kommt nicht in erster Linie auf die Stellung der fraglichen Vorschrift im Gesetz an, sondern auf ihre Funktion an. Vorschriften, die den Ablauf des Verfahrens betreffen = prozessrechtliche Qualifikation. Vorschriften, die Einfluss auf die Sachentscheidung nehmen = materiellrechtliche Qualifikation. c) Inhaltsbestimmung von Rechtsbegriffen Bei Antragsbegehren nach ausländischem Recht ist die Frage ob das Verfahren der streitigen oder nichtstreitigen Gerichtsbarkeit unterliegt, nach der lex fori zu bestimmen (Vergleich mit Antragsbegehren nach deutschem Recht). Die Frage der Art der Streitigkeit (z.b. aus Vertrag oder Delikt, Unterhalt oder Güterrecht) ist bei Einheitsrecht möglichst autonom zu qualifizieren, ansonsten ist die für das IPR maßgebende funktionelle Qualifikationsmethode zu nutzen.