Fremde Richter Mythen und Realitäten im Verhältnis Schweiz-EU Andreas Müller 6. März 2013, Seniorenakademie Berlingen
Übersicht Die Schweiz in der Mitte Europas Robuste Schweiz versus EU in der Krise? Entwicklung der bilateralen Abkommen Rechtliche Aspekte der bilateralen Abkommen Personenfreizügigkeit: Autonomie versus Nachvollzug Europapolitische Position des Bundesrates Wie weiter? Fragen und Thesen zur Diskussion 2
Die Schweiz und die EU EU-27 EWR EU-Beitrittsland EU-Beitrittskandidaten Quelle : Direktion für europäische Angelegenheiten DEA (2013) 3
Ausländer in der Schweiz (2011) Übrige Länder (weltweit): 13% (0.23 Mio.) Wohnbevölkerung: 7.86 Mio Übriges Europa: 22% (0.39 Mio.) Ausländer: 1.77 Mio (= 22.5 %) EU/EFTA: 65% (1.15 Mio.) Grenzgänger: 260 000 (ca. 25% in Europa) Quelle : Bundesamt für Migration BFM 4
Schweizer im Ausland (2011) USA/Kanada: 16% (115 000) Übrige Länder: 23% (163 000) EU/EFTA: 61% (427 000) Auslandschweizer total: 704 000 Quelle: EDA Auslandschweizerstatistik (2011) 5
Aussenhandel der Schweiz (2011) Perspektive Schweiz Perspektive EU Einfuhr: China Übrige Länder 5.4% 3.6% 12.0% USA 4.5% 79.9% 94.6% Schweiz EU-27 7.9% Übrige Länder Ausfuhr: 4.3% 28.7% 56.9% 82.1% 10.1% Quelle: SNB. Eurostat 6
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Robuste Schweiz versus EU in der Krise? Sanierung des Staatshaushaltes 120 100 80 Staatsschulden in % des BIP Österreich Eurozone 60 40 20 Deutschland Schweiz 0 1991 1994 1997 2000 2003 2006 2009 2012 Quelle: OECD 8
Robuste Schweiz versus EU in der Krise? 12% Arbeitslosenquote (saisonbereinigt) 6% BIP-Wachstum (nominal in % des BIP, kaufkraftbereinigt) 10% 4% 8% 2% 0% 6% -2% 4% -4% 2% -6% 2007 2008 2009 2010 2011 2012 0% 2007 2011 Schweiz Deutschland USA Frankreich Eurozone Quelle: BFS, OECD, Avenir Suisse 22.11.2012 9
Robuste Schweiz versus EU in der Krise? 160 150 140 Entwicklung der Lohnstückkosten im internationalen Vergleich umgerechnet in Euros Schweiz (CHF) Deutschland Österreich EU27 Schweiz (Euro) Griechenland 130 120 110 100 90 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Quelle: Brunetti, Avenir Suisse (2012) 10
Robuste Schweiz versus EU in der Krise? Nettozuwanderung aus Europa in die Schweiz 100'000 Wanderungssaldo 80'000 Total 60'000 40'000 20'000 Europa 0 Deutschland -20'000 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 Quelle: Avenir Suisse, BfS (2012) 11
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Entwicklung der bilateralen Abkommen 1972 Freihandel Abschaffung von tarifären Handelshemmnissen (Zölle, Kontingente) für Industrieprodukte 1989 Versicherungen Gleiche Niederlassungsrechte für Versicherungsgesellschaften (Lebensversicherungen ausgenommen) 1990 Zollerleichterungen und Zollsicherheit (vollständig revidiert 2009) Regelung der Kontrollen und Formalitäten im Güterverkehr (24-Stunden-Regel) Bedeutung: Gegenseitiger Marktzugang 13
Entwicklung der bilateralen Abkommen FHA (1972) Bilaterale 0 Bilaterale 1 Bilaterale 2 Neue (1989/1990 1989/1990) (1999 1999) (2004 2004) Dossiers Versicherungen Personenfreizügigkeit Schengen / Dublin REACH Zoll Technische Handelshemmnisse Landwirtschaft (Zollabbau Käse und Milch) Zinsbesteuerung Landwirtschaft (weiterer Zoll- und Subventionsabbau) Strom / Energie Landwirtschaft (Freihandel) Öffentliches Betrugsbekämpfung Emissionshandel Beschaffungswesen Forschung Medien Lebensmittel- & Produktesicherheit, öffentliche Gesundheit Luftverkehr Umwelt Kooperation Arzneimittel, Wettbewerbsbehörden, Rüstung Landverkehr Statistik Satellitennavigation Ruhegehälter Bildung, Berufsbildung, Jugend Steuerdossiers? Quelle: Avenir Suisse (2012) 14
Entwicklung der bilateralen Abkommen 1992 Nein (50,3 %) zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1997 Nein (74,1 %) zur Initiative «EU-Beitrittsverhandlungen vors Volk!» 2000 Ja (67,2 %) zu den Bilateralen I 2001 Nein (76,8 %) zu «Ja zu Europa» 2005 Ja (54,6 %) zu Schengen/Dublin 2005 Ja (56,0 %) zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit 2006 Ja (53,4 %) zur Ostzusammenarbeit 2009 Ja (59,6 %) zur Weiterführung und Ausdehnung der Personenfreizügigkeit 15
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Bilaterales Recht: Kennzeichen Inhalt: selektiv bzw. sektoriell Auslegung: grundsätzlich statisch Entwicklung: grundsätzlich statisch (Ausnahme: Schengen) Einfluss auf das relevante EU-Recht: keinen (Ausn.: Schengen) Rechtsdurchsetzung: kein abgestimmtes System Verwaltung: gemischte Ausschüsse In Anlehnung an Tobler (2011) 17
Institutionelle Fragen Überwachung Streitbeilegung Rechtsübernahme Auslegung Quelle: DEA (2013) 18
Institutionelle Grundsätze Homogenität Dynamische Rechts- übernahme Ausgleichsmassnahmen Nationale Überwachungsbehörde Vertragsverletzungsklagen Quelle: DEA (2013) 19
Einfluss des EU-Rechts auf die Schweiz (I) Unmittelbarer rechtlicher Einfluss: EU-Recht gilt auch ausserhalb der EU (EU-Wettbewerbsrecht, Kapitalverkehrsrecht) Indirekter rechtlicher Einfluss: EU-Recht beeinflusst den Inhalt von (bilateralen) Verträgen Faktischer Einfluss: EU-Recht beeinflusst nationales Recht ( autonomer Nachvollzug ) In Anlehnung an Tobler (2011) 20
Einfluss des EU-Rechts auf die Schweiz (II) 21
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Personenfreizügigkeit: Grundzüge Gegenseitige Öffnung der Arbeitsmärkte Gleichbehandlung: Wohnsitz, Arbeit, Berufsdiplome etc. Flankierende Massnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer Sicherung der Schweizer Lohn- und Arbeitsstandards Seit 2002 in Kraft Wirtschaft ist auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen Bessere Chancen für Schweizer in der EU Quelle: DEA (2013) 23
Personenfreizügigkeit: Übergangsregelungen 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 BG/RO EU-8 EU-17 Personenfreizügigkeit mit Beschränkungen volle Personenfreizügigkeit, aber Schutzklausel volle Personenfreizügigkeit Quelle: DEA (2013) 24
Personenfreizügigkeit: Ventilklausel EU-17/EFTA EU-8 (Ventilklausel bis Juni 2013) Bulgarien, Rumänien Quelle: DEA (2013) 25
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Einschätzungen zum bilateralen Weg Errungenschaften: Gegenseitiger Markzugang Politik der Offenheit und engen Zusammenarbeit Bilateraler Weg als Erfolgsmodell. Die Beziehung der EU soll weiterhin auf diesem Weg fortgesetzt werden. Quelle: DEA (2013) 27
Hat der bilaterale Weg Zukunft? Gemäss Bundesrat: Ja. Voraussetzungen für eine erfolgreiche bilaterale Europapolitik sind: ausreichender politischer Entscheidungsspielraum der Schweiz Bereitschaft der EU, zusammen mit der Schweiz Lösungen für den bilateralen Weg zu finden Wirtschaftliche Rahmenbedingungen verändern sich nicht zum Nachteil der Schweiz Quelle : Markwalderbericht (2010) 28
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Die Herausforderungen EU ist weniger flexibel in Bezug auf ad-hoc-lösungen. Das EU-Recht entwickelt sind ständig weiter. Für die Schweiz besteht das Risiko von Hindernissen beim Marktzutritt. EU pocht auf einheitliche und gleichzeitige Anwendung und Auslegung des Binnenmarktrechts. Parallelismus: auch die EU hat Anliegen (z. B. im Steuerbereich). Quelle: DEA (2013) 30
Weiterentwicklung der bilateralen Abkommen? Eckwerte: Respektierung der Souveränität beider Parteien; kein Automatismus bei der Übernahme von EU-Rechtsentwicklungen; institutionelle Mechanismen müssen die Umsetzung der Abkommen erleichtern; gleichwertige Rahmenbedingungen für beide Partner; die Schweiz führt ihre solidarische Politik weiter. Quelle: DEA (2013) 31
Gesamtheitlich und koordinierter Ansatz Institutionelle Fragen: Anpassung, Umsetzung, Auslegung und Streitbeilegung; Marktzugangsdossiers: Strom; Agrarfreihandel, öffentliche Gesundheit, Lebensmittel- bzw. Produktsicherheit; REACH; Kooperationsdossiers: Galileo, Emissionshandel (ETS), Kooperation von Wettbewerbsbehörden, Friedensförderung, EASO, IT-Agentur; Fiskaldossiers: Revision Zinsbesteuerungsabkommen, Dialog über die Unternehmensbesteuerung; Erweiterungsbeitrag. 32
Mögliche Varianten Bilateralismus als Folge des EWR-Neins Status quo: Bil. I und Bil. II Weiterentwicklung Bilateralismus Unilaterale Integrationspolitik (wie z.b. Cassis de Dijon, Kohäsionsmilliarde)? EWR-Beitritt? EU-Beitritt? 33
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Wichtige Fragestellungen Regelungen: gemeinsamer Binnenmarkt ja oder nein? Kosten/wirtschaftl. Vorteile: weniger Kosten weniger Vorteile? System für Rechtsdurchsetzung: Ein-Säulen-System? Zwei-Säulen-System? Gar keines? Einfluss auf das EU-Recht: Decision making? Decision shaping? Kein Einfluss? Souveränität: Gemeinsame Ausübung? Rechtliche Handlungsfreiheit (aber mit faktischen Zwängen)? In Anlehnung an Tobler (2011) 35
Thesen Avenir Suisse (I) Schweiz kann sich als Kleinstaat im globalen wohlfahrtsökonomischen Wettbewerb nur durch makroökonomische Outperformance behaupten und Gehör verschaffen. Schweiz braucht in einer globalisierten und unberechenbar gewordenen Welt eine glaubwürdige Aussenpolitik, die sich an den zentralen nationalen Interessen orientiert (u. a. Wohlfahrt). 36
Thesen Avenir Suisse (II) Neutralität darf nicht als starre Fessel angesehen werden, sondern ist mit aktiver Einflussnahme für Frieden und Stabilität in der Welt situativ zu nutzen. Europa bleibt wirtschaftlich, politisch und kulturell auch in Zukunft zentral. Eine überhastete Änderung der schweizerischen EU-Politik drängt sich heute nicht auf. Warten bzw. Optionen aufrecht erhalten, hat einen strategischen Wert und ist sinnvoll. 37