Dies ist eine Ausarbeitung für einen Seminarvortrag, den ich im Sommersemester 2013/14 an der Humboldt-Universität im Proseminar Differentialgeometrie von Kurven und Flächen bei Christoph Stadtmüller gehalten habe. Für Hinweise auf Fehler bin ich immer dankbar: plattd@math.hu-berlin.de. 27.07.2013, Daniel Platt Seminarvortrag über die Euler-Charakteristik einer Fläche Definition 1. Seien x 0, x 1,..., x k R n Punkte in allgemeiner Lage, also (x 0 x 1 ), (x 0 x 2 ),..., (x 0 x k ) linear unabhängig. Dann heißt { } k k σ(x 0,...,x k ) := conv(x 0,...,x k ) := x = λ i x i λ i = 1 und λ i > 0 das Simplex mit den Ecken x 0, x 1,..., x k. dim(σ(x 0,...,x k )) := k heißt Dimension von σ(x 0,...,x k ). Fürk = 2heißt σ(x 0,...,x k ) Dreieck. i=0 i=0 Zum Beispiel: k = 0 k = 1 k = 2 x 0 x 0 x 2 x 0 x 1 x 1 Diese Simplexe werden in der Literatur auch oft offene Simplexe genannt. (Im Gegensatz zu den abgeschlossenen Simplexen, bei denen dann noch der Rand dazugehört) Definition 2. Seien σ, τ Simplexe. τ heißt Seite von σ, wenn die Ecken von τ auch Ecken von σ sind. Wir schreiben dafür: τ σ. Gilt zusätzlich noch τ σ, so heißt τ eigentliche Seite von σ und wir schreiben τ < σ. Definition 3. Sei K = {σ 1,σ 2,...,σ N } eine endliche Menge von Simplexen im R n. Dann heißt K Simplizialkomplex, wenn: (i) Für σ K und τ σ gilt τ K. (ii) Für σ, τ K und σ τ gilt: σ τ = 1
N K := i=1 σ i heißt geometrischerealisierung von K. DieZahl dim(k) := max 1 i N (dim(σ i)) heißt Dimension von K. x 2 x 3 x 1 x 0 Oben abgebildet ist der Simplizialkomplex K 1 :={σ(x 0,x 1,x 3 ),σ(x 1,x 2,x 3 ), σ(x 0,x 1 ),σ(x 1,x 2 ),σ(x 2,x 3 ),σ(x 3,x 0 ),σ(x 1,x 3 ), σ(x 0 ) = x 0,x 1,x 2,x 3 } (zweidim. Simplexe) (eindim. Simplexe) (nulldim. Simplexe) Ein anderes Beispiel für einen Simplizialkomplex ist: K 2 = {σ(x 0,x 1 ),σ(x 1,x 3 ),σ(x 0,x 3 ),x 0,x 1,x 3 } Das Beispiel K 2 zeigt: In einem Simplizialkomplex müssen zwar Simplexe mit immer kleinerer Dimension enthalten sein. Es ist aber nicht schlimm, wenn nur der Rand eines höherdimensionalen Simplexes enthalten ist, nicht aber der höherdimensionale Simplex selbst. K 2 enthält zwar den Rand von σ(x 0,x 1,x 3 ), nicht aber σ(x 0,x 1,x 3 ) selbst. Definition 4. Es sei (X,d) ein metrischer Raum. Es sei K ein Simplizialkomplex und φ : X K ein Homöomorphismus. Dann heißt das Paar (K,φ) eine Triangulierung von X und X heißt triangulierbar. Beispiele: (i) Die Sphäre S 2 R 3 ist triangulierbar: Sei nämlich K ein Simplizialkomplex mit K = ([ 1,1] [ 1,1] [ 1,1]). Sei φ : S 2 K die Gnomonische Projektion, d. h. ( x φ(x,y,z) := max( x, y, z ), y max( x, y, z ), ) z max( x, y, z ) 2
Im folgenden Bild ist der Querschnitt von S 2 und K gezeigt, wobei eine Koordinate 0 ist. Für einen Punkt P S 2 erhält man dann den Projektionspunkt φ(p), indem man einen einen Strahl vom Mittelpunkt der Sphäre durch P legt und den Schnittpunkt mit K betrachtet. φ(p) P 0.5 1.0 0.5 0.5 0.5 1.0 1.5 1.0 Dann ist (K,φ) eine Triangulierung von S 2. (ii) Man kann noch weitere Triangulierungen für S 2 finden. Betrachte zum Beispiel als K einen Tetraeder. Auch in diesem Fall kann man einen Homöomorphismus φ : S 2 K finden. Wir betrachten nun die beiden Triangulierungen. Diese haben zwar offensichtlich unterschiedliche Anzahlen von Ecken, Kanten und Dreiecken. Eine Gemeinsamkeit haben sie allerdings: Für beide Simplizialkomplexe berechnen wir #Ecken #Kanten +#Flächen: 3
#Ecken #Kanten+#Flächen = 8 18+12 = 2 #Ecken #Kanten+#Flächen = 4 6+4 = 2 Die Idee ist nun, dass diese Zahl eine Invariante für alle Triangulierungen von S 2 ist. Tatsächlich ist dies der Fall, und zwar nicht nur für S 2, sondern auch für andere Flächen. Das motiviert die folgenden Defitionen zur Euler-Charakteristik: Definition 5. Sei K ein n-dimensionaler Simplizialkomplex und für i = 0,1,...,n sei α i die Zahl der i-dimensionalen Simplexe von K. Dann heißt χ(k) := α 0 α 1 + α 2 + ( 1) n α n die Euler-Charakteristik von K. Insbesondere ist für zweidimensionale Simplizialkomplexe K: χ(k) = #Ecken #Kanten+#Flächen Mit Hilfe von Triangulierungen können wir nun die Euler-Charakteristik auch sinnvoll für Flächen definieren: Definition 6. Sei M 2 R 3 kompakte, zweidim. UMF des R 3. Sei (K,φ) Triangulierung von M. Dann heißt χ(m) := χ(k) Euler-Charakteristik von M. Frage: Ist diese Definition sinnvoll? Es ist zu klären: (1) Sind (K 1,φ 1 ) und (K 2,φ 2 ) zwei Triangulierungen von M, gilt dann auch χ(k 1 ) = χ(k 2 )? (2) Hat jede kompakte Fläche eine Triangulierung? Satz 1. Sei M 2 R 3 kompakte Fläche und seien (K 1,φ 1 ), (K 2,φ 2 ) Triangulierungen von M. Dann gilt: χ(k 1 ) = χ(k 2 ). Beweis. Dies ist nur eine Beweisidee. Den Beweis mit dieser Idee zu führen ist sehr langwierig und umständlich. Beweise mit anderen Beweisideen findet man in Christian 4
Bär: Elementare Differentialgeometrie (nur elementare Hilfsmittel) oder Oliver Labs, Frank-Olaf Schreyer: Algebraische Topologie (mit Homologietheorie). Wir bemerken: Bei den folgenden Verfeinerungen ändert sich die Euler-Charakteristik nicht: Einfügen einer Ecke im Inneren eines Dreiecks: Ecken +1 Kanten +3 Flächen +2 Einfügen einer Ecke auf einer Kante: Ecken +1 Kanten +2 Flächen +1 Bilden mit diesen Verfeinerungen K 1 aus K 1 und K 2 aus K 2, sodass χ( K 1 ) = χ( K 2 ). Dann ist: χ(k 1 ) = χ( K 1 ) (weil die Verfeinerungen χ nicht ändern) = χ( K 2 ) (nach Konstruktion von K 1, K2 ) = χ(k 2 ) Satz 2. (Satz von Rado, 1925) Sei M 2 R 3 kompakte Fläche, dann ist M triangulierbar. Wir geben hier nur die Beweisidee an. Man findet den Originalbeweis zum Beispiel in Tibor Radó: Über den Begriff der Riemannschen Fläche. Einen schön aufgearbeiteten Beweis mit elementaren Mitteln findet man in Jean Gallier, Dianna Xu: A Guide to the Classification Theorem for Compact Surfaces. 5
Als Hilfe benutzen wir den folgenden Satz: Definition 7. Sei M R n kompakt und sei q R n. Dann heißt die Zahl dist(q,m) := min{ q p p M} Abstand von q zu M. Weiter heißt die Menge die ρ-umgebung von M. U ρ (M) := {q R 3 dist(q,m) < ρ} Satz 3. Sei M 2 R 3 eine kompakte, orientierbare Fläche ohne Rand mit Einheitsnormalenfeld N : M S 2. Dann existiert ein ρ > 0, sodass die Abbildung ein Diffeomorphismus ist. E : M ( ρ,ρ) U ρ (M) (p,t) p+t N(p) Beweis. E ist lokaler Diffeomorphismus: Wir verwenden hier den Satz über den lokalen Diffeomorphismus für Mannigfaltigkeiten. Dieser Satz wurde in Analysis III zwar nicht bewiesen, man kann ihn aber aus dem bekannten Satz über den lokalen Diffeomorphismus im R n erhalten. Wollen also zeigen, dass für alle (p,t) M (ρ,ρ) die Abbildung de (p,t) ein Isomorphismus ist. Sei also φ : Ũ R2 M eine lokale Parametrisierung von M um p. Dann ist die Abbildung φ gegeben durch φ : Ũ ( ρ,ρ) R3 M ( ρ,ρ) (u,s) ( φ(u),s) eine lokale Parametrisierung von M ( ρ,ρ) um den Punkt (p,t). ( ( )) Wir zeigen nun, dass de φ (p,t) x i (φ 1 (p,t) linear unabhängigsind. Damit i=1,2,3 wäre dann gezeigt, dass de (p,t) mindestens Rang 3 hat, also ein Isomorphismus ist. Wir verwenden im Folgenden die Kurve γ : ( ǫ,ǫ) M ( ρ,ρ) s φ(φ 1 (p,t)+s e 1 ) ( φ( φ 1 ) = (p)+s e 1 ),t 6
( ) φ de (p,t) (φ 1 (p,t)) = de x (p,t) (γ (0)) 1 = (E γ) (0) = d ( φ( φ 1 ) (p)+s e 1 )+t N( φ( φ 1 (p)+s e 1 )) ds = (p)+t d ( ) N( φ( φ 1 (p)+s e 1 )) s=0 u 1 } ds {{} = ( (p) t W (p) u 1 u 1 ( ) =dn p (p) u 1 ) s=0 Analog erhalten wir: de (p,t) ( φ ) (φ 1 (p,t) x 2 ) de (p,t) ( φ x 3 (φ 1 (p,t) = ( ) (p) t W (p) u 2 u 2 = N(p) M ist nach Voraussetzung kompakt, also( ist W beschränkt. ) Für ( ρ klein genug ) sind (weil t < ρ) daher die Vektoren de φ (p,t) x 1 (φ 1 (u) und de φ (p,t) x 2 (φ 1 (u) linear unabhängig. ( ) Beides sind Vektoren in T p M unddarum linear unabhängigvon de φ (p,t) x 3 (φ 1 (u) N p M. Also ist de (p,t) ein Isomorphismus. Nach dem Satz über den lokalen Differeomorphismus ist also E ein lokaler Diffeomorphismus. Surjektivität von E: Die Abbildung ist für jedes ρ > 0 surjektiv. Sei nämlich q U ρ (M) beliebig und sei p M ein Proximum von q, so steht nach einer Verallgemeinerung des Charakterisierungssatzes (aus Numerik) der Vektor p q senkrecht auf T p M. (An dieser Stelle geht ein, dass M keinen Rand hat) Somit ist q = E(p,± p q ) für ein geeignetes Vorzeichen + oder. Injektivität von E: Wir beweisen indirekt: Angenommen, für alle ρ > 0 ist E nicht injektiv. Dann existieren zwei Folgen (p i,t i ) und (p i,t i ) mit E(p i,t i ) = E(p i,t i ) und t i, t i 0 und p i p i. Wegen Kompaktheit (und damit auch Folgenkompaktheit) von M können 7
wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit annehmen, dass p i p und p i p. Wegen p i p i p i E(p i,t i ) + p i E(p i,t i) = t i + t i 0 gilt p = p. Weil aber E in einer Umgebung von (p,0) ein Diffeomorphismus und damitinsbesondereinjektivist,folgtause(p i,t i ) = E(p i,t i )fürgroßeidiegleicheit p i = p i. Das ist ein Widerspruch zur Annahme. Folglich muss E injektiv sein. Nun legt man einen Simplizialkomplex in einer kleinen ρ-umgebung der Mannigfaltigkeit fest und erhält den Homöomorphismus als Einschränkung der oben definierten Abbildung E. Dies zeigt, das jede Fläche triangulierbar ist. Warum ist es nun also interessant, die Euler-Charakteristik einer Fläche zu betrachten? Sie ist ein gutes Hilfsmittel, um zu überprüfen, ob zwei gegebene Flächen homöomorph sind. Das zeigen die nächsten beiden Sätze. Satz 4. Die Euler-Charakteristik ist eine topologische Invariante. Das heißt: Sind M 1 R n und M 2 R m homöomorphe Untermannigfaltigkeiten, so ist χ(m 1 ) = χ(m 2 ). Beweis. Seialsoφ : M 1 M 2 Homöomorphismus.Seien(T 1,ψ 1 ),(T 2,ψ 2 )Triangulierungen von M 1 bzw. M 2, also ψ 1 : M 1 T 1 und ψ 2 : M 2 T 2. Dann ist auch (T 2,ψ 2 φ) eine Triangulierung von M 1. Folglich ist χ(m 1 ) = χ(t 2 ) = χ(m 2 ). Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht. Zum Beispiel sind Zylinder und Möbiusband nicht homöomorph, haben aber die gleiche Euler-Charakteristik. Mit einem kleinen Zusatz gilt die Umkehrung aber: Satz 5. Zwei kompakte Flächen sind genau dann homöomorph, wenn sie dieselbe Euler- Charakteristik besitzen und beide orientierbar oder beide nicht orientierbar sind. Ausblick: Alle Aussagen gelten auch für Mannigfaltigkeiten, nicht nur für UMF. Die Euler-Charakteristik hängt mit vielen anderen Eigenschaften von (Unter-) Mannigfaltigkeiten zusammen. Zum Beispiel: Auf einer kompakten Mannigfaltigkeit M n existiert genau dann ein globales Vektorfeld ohne Nullstellen, wenn χ(m) = 0. Bekannt: Alle Mannigfaltigkeiten der Dimensionen 1, 2 und 3 (Moise, Bing, 1950) sind triangulierbar. Es gibt vierdimensionale kompakte Mannigfaltigkeiten, die nicht triangulierbar sind. 8
Literatur Literatur Literatur [1] Christian Bär: Elementare Differentialgeometrie, Gruyter Verlag, 2000 [2] Oliver Labs, Frank-Olaf Schreyer: Algebraische Topologie Eine kurze Einführung, (Vorlesungsskript online verfügbar) [3] Jean Gallier, Dianna Xu: A Guide to the Classification Theorem for Compact Surfaces, Springer Verlag, 2013 (Buch online verfügbar) 9