Die Einladung und Moskaus Veto

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Transkript:

Vor 25 Jahren: Roter Teppich für Honecker in Bonn Die Einladung und Moskaus Veto Manfred Wilke Der Besuch Honeckers in Bonn wurde bis 1986 von Moskau blockiert. Die Einsprüche gegen seine Reisepläne hingen sowohl mit der sowjetischen Interessenlage in der Blockkonfrontation als auch mit der Politik der Regierungen Schmidt und Kohl in der Raketenkrise zusammen. Eingeladen hatte den SED-Generalsekretär Erich Honecker Bundeskanzler Helmut Schmidt am Ende seines deutsch-deutschen Gipfeltreffens in der DDR. Es war der 13. Dezember 1981, ein symbolträchtiger Tag: In Polen wurde das Kriegsrecht verhängt, Solidarność unterdrückt, und die SED verwandelte Güstrow in eine belagerte Stadt, als dort Schmidt den Dom besuchte. Ein kurzer Blick auf die Chronik dieser aufhaltsamen Reise vermittelt einen Eindruck von den komplexen Realitäten der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, ihrer jeweiligen Blockloyalität in der Raketenkrise, die bis 1985 die Beziehungen des Westens zur Sowjetunion beherrschte, und der sowjetischen Deutschlandpolitik. Bundeskanzler Schmidt hatte in der NATO darauf gedrängt, auf die sowjetische Vorrüstung mit Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20, die seit 1977 installiert wurden, zu reagieren. Das tat das Bündnis 1979 mit einem Doppelbeschluss: Der Sowjetunion wurden Verhandlungen über den Abbau ihrer Systeme angeboten, erst wenn diese Verhandlungen scheiterten, sollten amerikanische Pershing-Raketen auch in der Bundesrepublik stationiert werden. Nach dem Scheitern der amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen setzte die Regierung Kohl im Oktober 1983 den Beschluss zur Stationierung dieser Mittelstreckenraketen im Bundestag gegen den erbitterten Widerstand von SPD und Grünen durch. Nach dieser Entscheidung schrieb Bundeskanzler Helmut Kohl an Honecker und bot die Fortsetzung des innerdeutschen Dialogs an: Die beiden Staaten in Deutschland stehen in ihren Beziehungen zwischen West und Ost zueinander in einer Verantwortungsgemeinschaft vor Europa und vor dem deutschen Volk. Beide können gerade in schwierigen Zeiten des West-Ost-Verhältnisses einen wichtigen Beitrag für Stabilität und Frieden in Europa leisten, wenn sie aufeinander zugehen und das jetzt Machbare an Zusammenarbeit voranbringen. Honecker nahm das Schlüsselwort Verantwortungsgemeinschaft in seiner Antwort positiv auf und ergänzte es durch Sicherheitspartnerschaft. 1984 wünsche die Bundesregierung den Besuch von Honecker und lud ihn ein. Bevor Honecker diese Einladung annehmen konnte, traf er sich mit der sowjetischen Führung in Moskau. Das Gipfeltreffen wurde zu einem Debakel für Honeckers Reisepläne. Nicht Kooperation, sondern Abgrenzung forderte KPdSU- Generalsekretär Konstantin Tschernenko von seinem Gast: Die Lage selbst, die Positionen Bonns diktieren die Notwendigkeit der Linie der Abgrenzung. Besorgt war man in Moskau über die mittlerweile eingetretene finanzielle Abhän- Seite 66 Nr. 514 September 2012

Die Einladung und Moskaus Veto gigkeit der DDR von der Bundesrepublik. Tschernenko sagte, man müsse der Wahrheit ins Auge schauen. Die Position der Bundesrepublik sei gestärkt worden, während die DDR in keiner der großen Fragen, die uns wichtig sind, vorangekommen ist. Ist denn Bonn zum Beispiel nachgiebiger geworden in der Frage der Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR? [ ] Im Gegenteil, durch die Gewährung der Kredite zementiert die BRD ihre negative Position in diesen und anderen Fragen. Was den geplanten Besuch in Bonn anging, zählte der sowjetische Parteichef all die Gründe auf, die gegen ihn sprachen. Honecker verstand, er durfte nicht fahren. Nach der gewonnenen Bundestagswahl 1987 wurde Bundeskanzler Kohl in der Deutschlandpolitik initiativ und wiederholte seine Einladung zum Gipfeltreffen in Bonn. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) überbrachte die Einladung zum Arbeitsbesuch in Ost-Berlin Honecker persönlich. Diesmal gab es kein Veto aus Moskau. Dort stand ein Neues Denken über die Bundesrepublik auf der politischen Agenda. Michail Gorbatschow stellte im Februar 1987 im Politbüro der KPdSU fest: BRD nicht Honecker überlassen![ ] Es ist Zeit, die BRD aktiver anzugehen. Damit begann ein neues Kapitel in den Beziehungen der Sowjetunion zur Bundesrepublik. Für den Bundeskanzler war noch offen, ob Gorbatschows Reformen und sein Neues Denken von Dauer sein würden. Beides hatte er im März 1987 in seiner Regierungserklärung begrüßt und Moskau angeboten, nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen seitens der Bundesrepublik weiterzuentwickeln. In der Deutschlandpolitik sah er unabhängig vom Schicksal der sowjetischen Reformpolitik ein Zeitfenster, um innerdeutsche Verkehrsprojekte und Verbesserungen im Reiseverkehr mit der DDR zu vereinbaren. Dazu sollte der Arbeitsbesuch Honeckers dienen. Helmut Kohl schrieb in seinen Memoiren: Für mich war die Entwicklung des Reiseverkehrs von zentraler Bedeutung für die Beziehungen zur DDR. Ein freier und reibungsloser Reiseverkehr war ein elementares Anliegen der Menschen in beiden Teilen Deutschlands und stärkte die Zusammengehörigkeit und das Bewusstsein für die Einheit der Nation. Insofern ist Reisefreiheit weniger im touristischen Sinn, sondern im Sinne des Zusammenhalts der Nation gemeint. Im Reiseverkehr hatten wir in den letzten Jahren die größten Fortschritte erzielt: Zusätzlich zu den eine Million Besuchern im Rentenalter kamen 1987 rund eine Million der jungen Generation in die Bundesrepublik fast alles Menschen, die noch nie im ihrem Leben in der Bundesrepublik waren. Was damit bewegt wurde, war mittel- und langfristig überhaupt nicht abzusehen. Für ihn war diese innerdeutsche Kommunikation durch nichts zu ersetzen. Die SED wusste um die Gefahren der Löcher in der Mauer für die Stabilität ihrer Herrschaft. Die Verantwortung für die Abwicklung des Reiseverkehrs wurde vom SED-Politbüro dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, übertragen. Der Status quo der Zweistaatlichkeit wird zelebriert Das deutsch-deutsche Gipfeltreffen in Bonn vom 7. bis 11. September fand eine weltweite Aufmerksamkeit, über 2000 Journalisten berichteten darüber aus Bonn. Der erste Gesprächspartner des SED-Generalsekretärs war Bundespräsident Richard von Weizsäcker, er begrüßte Honecker auch als Deutscher unter Deutschen im Sinne einer Geschichte, unter der Erich Honecker als Deutscher gelitten habe. Die diplomatisch formulierte Verneigung vor seinem Leiden als kommunistischer Widerstandskämpfer Nr. 514 September 2012 Seite 67

Manfred Wilke gegen Hitler im Zuchthaus Brandenburg war für den Gast eine doppelte Genugtuung: Erstens: kam sie aus dem Munde eines ehemaligen Offiziers der Deutschen Wehrmacht, und zweitens ersparte ihm der Präsident einer demokratischen Republik auch jedes Wort unter Deutschen über die zweite Diktatur in Deutschland nach Hitler, die der Staatsgast führte. Der Arbeitsbesuch in Bonn war nach Ansicht von Beobachtern für Honecker ein Höhepunkt seines politischen Lebens. Das Ziel, die Akzeptanz der DDR als zweiten deutschen Staats, in der Bundesrepublik dauerhaft durchzusetzen, schien nun zum Greifen nahe. Politisch wollte der Kanzler aber den Besuch, um für die Bevölkerung in der DDR Reiseerleichterungen durchzusetzen was auch gelang. Um der zu erwartenden Anerkennungspropaganda der SED entgegenzuwirken, bestand der Kanzler darauf, dass in beiden deutschen Fernsehsystemen die Tischreden von ihm und seinem Gast beim gemeinsamen Abendessen live übertragen würden. Wenn wir diese Zusage nicht bekamen, hätte das den Verzicht auf den Honecker-Besuch zur Konsequenz. Die Tischreden waren die Stunde der grundsätzlichen Gegensätze in der Deutschlandpolitik zwischen dem Bundeskanzler und dem SED-Generalsekretär. Das Bewusstsein für die Einheit der Nation, hob Kohl hervor, sei ungebrochen, ebenso wie der Wille, sie zu bewahren. Diese Einheit findet Ausdruck in gemeinsamer Sprache, im gemeinsamen kulturellen Erbe, in einer langen, fortdauernden gemeinsamen Geschichte. Der Besuch diene dem Bemühen um ein geregeltes Miteinander der beiden Staaten. An den unterschiedlichen Auffassungen der beiden Staaten zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage, kann und wird dieser Besuch nichts ändern. Für die Bundesregierung wiederhole ich: Die Präambel unseres Grundgesetzes steht nicht zur Disposition, weil sie unserer Überzeugung entspricht. Sie will das vereinte Europa, und sie fordert das gesamte deutsche Volk auf, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Das ist unser Ziel. Der Generalsekretär erwiderte nicht direkt, er sprach von der Verantwortung beider Staaten für den Frieden und davon, dass im Zeitalter der nuklearen Massenvernichtungswaffen niemand mit dem Gedanken spielen [ ] dürfe, die Weltprobleme, auch die der Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus, mit militärischen Mitteln lösen zu wollen. Für ihn war die friedliche Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten das Gebot der Stunde. Das Neue Deutschland wiederholte nachlesbar für die DDR-Bevölkerung seine spontan formulierte Absage an die nationale Einheit. Die klaren Worte Erich Honeckers über solche Träumereien, für die es keinerlei reale Grundlage gibt, und über die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Kapitalismus wie von Feuer und Wasser sind daher in der Welt mit Zustimmung zur Kenntnis genommen worden. Die Symbolik der Anerkennung deutscher Zweistaatlichkeit Der Arbeitsbesuch Honeckers fand nach dem weltpolitischen Wendepunkt des Ost-West-Konfliktes statt. Auf dem Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow im Oktober 1986 in Reykjavík vereinbarten sie, die strategischen Atomwaffen auf beiden Seiten zu halbieren und über den Abbau der sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa zu verhandeln. Diese Verhandlungen standen im Sommer 1987 vor dem erfolgreichen Abschluss. Die beiden deutschen Staaten dagegen zelebrierten die Normalität der Teilung. Der Dissens zwischen Kohl und Honecker in den Fragen der nationalen Seite 68 Nr. 514 September 2012

Die Einladung und Moskaus Veto Bundeskanzler Helmut Kohl begrüßt den Partei- und Staatschef der DDR, Erich Honecker, in Bonn während dessen Staatsbesuch in der BRD am 10. September 1987. picture-alliance/dpa, Foto: ddrbildarchiv.de Einheit und der politischen Ordnung in Deutschland, der in den Tischreden formuliert wurde, galt vielen Beobachtern als innenpolitische Rhetorik. Nicht nur Honecker interpretierte den roten Teppich, die Ehrenkompanie, die Hymne der DDR und das Defilee der Bonner Prominenz als den Höhepunkt der internationalen Anerkennung der DDR. Typisch für die Atmosphäre des Besuchs war der Satz des SPD-Vorsitzenden Hans-Joachim Vogel in seinem Gespräch mit Honecker, mit dem gestrigen Tag [werde] der Grundlagenvertrag mit all seinen Elementen Wirklichkeit. Im Selbstverständnis von Honecker bestätigte ihm der SPD-Vorsitzende damit seine Interpretation des Grundlagenvertrages als Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Für ihn war die deutsche Zweistaatlichkeit ein irreversibler Pfeiler der europäischen Nachkriegsordnung. Gorbatschow war sich über die Stabilität dieser Ordnung schon im Herbst 1986 nicht mehr so sicher. In der engsten Führung äußerte er seine Sorgen: Alle sozialistischen Länder sind verwundbar wir können sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen, das heißt auf Kosten des Sozialismus. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jürgen Schmude, damals Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, konzentrierte sich im Bundestag ebenfalls auf seine Symbolik. Wichtig war vor allem der symbolische Gehalt der Begegnung, der in dem Spielen der Hymnen und in der Präsentation der Flaggen beider deutscher Staaten besonders augenfällig wurde. Diese Szenen werden im Gedächtnis aller Beteiligten haften bleiben. Wir Sozialdemokraten haben sie uns nicht gewünscht; der Kampf der SPD gegen den außenpolitischen Kurs Konrad Adenauers in den fünfziger Jahren war ausdrücklich von dem Bestreben geleitet, eine verfestigte Teilung Deutschlands zu vermeiden. Das Bemühen ist gescheitert. Die tagespolitisch motivierte Geschichtsklitterung wäre nicht der Erwähnung wert, wenn sie nicht eine Wahrnehmung der Geschichte der deutschen Teilung enthielte, die sie aus ihrem internationalen Kontext löste und sie zu einem innenpolitischen Streit zwischen Union und SPD bagatellisierte. Weder Adenauer noch Schumacher entschieden über die Entstehung der beiden deutschen Nr. 514 September 2012 Seite 69

Manfred Wilke Staaten, das taten die vier Siegermächte. Sie hielten auch noch 1987 an ihren Vorbehaltsrechten für Deutschland als Ganzes fest. Die Symbolik des Treffens nutzte der Redner dann, um all diejenigen als Illusionisten abzuqualifizieren, die für die deutsche Einheit und den Sturz der SED- Diktatur stritten: Für alle, die diese Realitäten nicht wahrhaben wollen, die an ihnen vorbei politische Wege suchen, waren die protokollarischen Äußerlichkeiten der Begegnung notwendiges Erlebnis. In der DDR hatte die Suche nach politischen Wegen der Opposition jenseits der SED gerade begonnen Die Debatte um die Symbolik des Besuchs war auch eine über die Perspektiven der Deutschlandpolitik von SPD und Bundesregierung. Die Schlüsselworte der Sozialdemokraten hießen Koexistenz und Kooperation beider Staaten. Kurz vor Honeckers Besuch hatten sich SED und SPD auf ein gemeinsames Papier Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit geeinigt. Die zentrale deutschlandpolitische Aussage des Papiers lautet: Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Bundeskanzler Kohl wiederholte in seinem Bericht zur Lage der Nation dagegen, seine Regierung halte am Ziel der Einheit und der Freiheit der Deutschen und ihrer Selbstbestimmung fest. Im Unterschied zu der deutsch-deutschen Perspektive der SPD unterstrich er nachdrücklich den Zusammenhang der Deutschlandpolitik mit der Entwicklung des Ost-West-Konflikts. Den Arbeitsbesuch Honeckers setzte er in Beziehung zu dem Gipfeltreffen des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan mit Gorbatschow in Reykjavík im Oktober 1986: In ihnen kommt der gegenwärtige Stand der West-Ost-Beziehungen, die gerade für uns Deutsche so wichtig sind, ganz besonders deutlich zum Ausdruck. 1 Da die deutsche Frage ein weltpolitisches Problem war, konnte sie nur gelöst werden, wenn es zu einer grundlegenden Wende in den Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion kam noch immer galt der Satz: Der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage liegt in Moskau. Honeckers Feststellung über die Unmöglichkeit einer Vereinigung von Sozialismus und Kapitalismus griff der Bundeskanzler im Bundestag auf und stimmte ihm zu: Freiheitliche Demokratie und kommunistische Diktatur sind in der Tat unvereinbar. Die Frage der nationalen Einheit und der politischen Ordnung in Deutschland blieb nach diesem von vielen Zeitgenossen als Zäsur bewerteten Ereignis weiterhin offen. 1987 schien es, als ob die SPD den richtigen Weg in der Deutschlandpolitik kannte: durch friedliche Koexistenz zwischen beiden Staaten, durch Verhandlungen mit der SED die Lebensbedingungen der Menschen in der DDR zu verbessern. Der Bundeskanzler hielt am Ziel der staatlichen Einheit der Nation in Freiheit fest, ohne auf Verhandlungen zu verzichten. Einheit und Freiheit Deutschlands implizierte das Ende der SED-Diktatur, er kannte nur (noch) nicht den Weg, wie dieses Ziel in Deutschland und weltpolitisch durchsetzbar war. Für beide grundsätzlichen Optionen der Bonner Deutschlandpolitik galt: Die Deutschen in der DDR hatten ihr Urteil über den SED-Staat noch nicht gesprochen. 1 Bundeskanzler Kohl, Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, in: Der Staatsbesuch, ebenda, S. CXXIX. Seite 70 Nr. 514 September 2012