Tagung Sinus-Grundschule, Rodgau Was ist guter Unterricht? Kognitive Aktivierung und Strukturierung im Unterricht Thilo Kleickmann IPN - Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik 1
Übersicht zum Vortrag 1. Rahmenmodell zur Wirkungsweise von Unterricht 2. Was sollte und kann Unterricht bei Schüler/innen bewirken? 3. Ansätze und Ergebnisse der Unterrichtsforschung Schwerpunkt Mathematik in der Sek I, Projekt COACTIV a) Ansätze zur Beschreibung des Unterrichtsgeschehens b) Ein Blick in die Unterrichtsrealität c) Wirkungen bei Schüler/innen 4. Zusammenfassung 2
Was ist guter Unterricht? Zwei Sichtweisen von gutem Unterricht 1. Guter Unterricht an sich (normativer Zugang) z.b.: Mitbestimmungsmöglichkeiten bieten, Projektunterricht Interessen der Schüler aufgreifen 2. Guten Unterricht an seinen Wirkungen bei Schüler/innen bestimmen (empirischer Zugang) Seit der sog. empirischen Wende wieder stärker im Blick Ditton, 2006; Helmke, 2003 3
Ein Angebot-Nutzungs-Modell zur Wirkungsweise von Unterricht Individuelle Voraussetzungen Vorwissen, Intelligenz, Interessen, sozialer Hintergrund Lehrkräfte Professionelles Wissen, Motivation, Unterricht ( Angebot ) Nutzung Wahrnehmung des Unterrichts individuelle Lernprozesse Wirkungen bei Schüler/innen Kontext Schule, Klasse außerschulische Lernangebote vgl. Helmke 2003, Lipowsky 2007 4
Was sollte Unterricht bei Schüler/innen bewirken? Die Frage nach dem Erfolgskriterium 5
Was sollte Unterricht bei Schüler/innen bewirken? Individuelle Voraussetzungen Vorwissen, Intelligenz, Interessen, sozialer Hintergrund Lehrkräfte Unterricht ( Angebot ) Nutzung Wahrnehmung des Unterrichts individuelle Lernprozesse Wirkungen bei Schüler/innen Kontext Schule, Klasse außerschulische Lernangebote vgl. Helmke 2003, Lipowsky 2007 6
Was sollte Unterricht bei Schüler/innen bewirken? Fachbezogene Lernfortschritte kognitive und soziokonstruktivistische Theorien: Lernen als ein aktiver, kumulativer und sozialer Prozess verstanden neues Wissen wird aufbauend auf eigenem Vorwissen in Eigenaktivität konstruiert; dabei wird das bestehende Begriffsnetz erweitert oder verändert (Baumert & Köller, 2000) Nicht nur Erwerb von Fakten, sondern von Verständnis Cobb & Bowers, 1999; Greeno, Collins, & Resnick, 1996; Köller, Baumert, & Neubrand, 2000; Weinert & Schrader, 1997 7
Was sollte Unterricht bei Schüler/innen bewirken? Nicht nur Lernleistungen! Sondern auch: Motivation (z.b. Interessen) Emotionen (z.b. Freude, Leistungsängstlichkeit) auch: Einstellungen, Ausgleich von Leistungsdifferenzen Multikriteriale Zielerreichung 8
Was sollte Unterricht bei Schüler/innen bewirken? Folgerung: Unterricht sollte Gelegenheiten bieten für verständnisvolle Lernprozesse Entwicklung von günstigen motivationalen und emotionalen Voraussetzungen Wie sollte Unterricht aussehen, der diese Gelegenheiten bietet? 9
Untersuchung der Lerngelegenheiten im Unterricht Individuelle Voraussetzungen Vorwissen, Intelligenz, Interessen, sozialer Hintergrund Lehrkräfte Unterricht ( Angebot ) Nutzung Wahrnehmung des Unterrichts individuelle Lernprozesse Wirkungen bei Schüler/innen Kontext Schule, Klasse außerschulische Lernangebote vgl. Helmke 2003, Lipowsky 2007 10
Untersuchung der Lerngelegenheiten im Unterricht Oberflächen- bzw. Sichtstrukturen Können direkt durch Betrachten der Unterrichtssituation erkannt werden z.b.: Sozialformen: Gruppenarbeit, Einzelarbeit oder Frontalunterricht? Methoden Tiefenstrukturen Stärkere Interpretation des Unterrichtsgeschehens erforderlich z.b.: Wie kognitiv anregend ist der Unterricht? z.b.: Fehlervermeidungskultur Zwei zentrale Befunde: Sichtstrukturen und Tiefenstrukturen variieren weitgehend unabhängig voneinander! Beispiel Gruppenunterricht (Lipowsky, 2002) Oser & Baeriswyl, 2001 Ob Unterricht erfolgreich ist, hängt weniger von Sicht- als von Tiefenstrukturen ab! (Hattie, 2009, Seidel & Shavelson, 2007) Was sind dann Tiefenstrukturen, die erfolgreichen Unterricht ausmachen? 11
Untersuchung der Lerngelegenheiten im Unterricht Basisdimensionen von Unterrichtsqualität (im Mathematikunterricht) 1. Effizienz der Klassenführung 2. Kognitiven Aktivierung 3. Konstruktive Unterstützung de Corte et al., 1996; Klieme et al., 2001; Kunter et al., 2006 12
Basisdimensionen von Unterrichtsqualität Effizienz der Klassenführung Unterricht als komplexe soziale Situation (Simultanität, Unvorhersagbarkeit, ) Klassenführung = Koordination und Steuerung dieses komplexen Geschehens mit dem Ziel, die zur Verfügung stehende Lernzeit optimal für Lernaktivitäten zu nutzen (Evertson & Weinstein, 2006) Aktuelle Ansätze: Präventive Steuerung des Klassengeschehens, nicht reaktiver Umgang mit Störungen (bereits bei Kounin, 1970) with-it-ness - Allgegenwärtigkeit der Lehrkraft, aufkeimenden Störungen präventiv einzugreifen und den tatsächlichen Urheber frühzeitig zu erkennen Flüssige Übergänge und gute Vorbereitung; Etablierung von Regelsystemen 13
Basisdimensionen von Unterrichtsqualität Kognitive Aktivierung Anregungspotenzial zum vertieften Nachdenken und zur aktiven mentalen Auseinandersetzung mit den Unterrichtsgegenständen Herausfordernde Aufgabenstellungen, zum Nachdenken anregende Gesprächsführung, Konfrontation mit anderen Standpunkten und Sichtweisen (siehe Conceptual-Change-Literatur: z.b. Posner et al., 1982) Dadurch aktive Erweiterung und Veränderung von Wissensstrukturen anregen Nicht gemeint: hohe allgemeine Aktivität der Lernenden z.b. Wahlfreiheit bei der Sitzordnung, Möglichkeit zur aktiven Umgang mit Unterrichtsmaterialen Konstruktivistischer Fehlschluss (Mayer, 2004) 14
Basisdimensionen von Unterrichtsqualität Konstruktive Unterstützung Veränderung des eigenen Wissens erfordert unterstützende Lernumgebung Strukturierung Ziel: Anforderungen an Lernende anpassen, so dass sie bewältigbar werden Scaffolding Gliederung komplexer Sachverhalte Strukturierende adaptive, individuelle Hilfestellungen Qualität der Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden Sensibilität für Verständnisprobleme Geduld bei individuellen Schwierigkeiten; konstruktiver Umgang mit Fehlern Ansprechbarkeit bei sozialen Schwierigkeiten Reiser, 2004; Pintrich, Marx & Boyle, 1993 15
Basisdimensionen der Unterrichtsqualität Optimalform wäre ein Unterricht, der alle Merkmale gleichzeitig in sich vereint: Effiziente Klassenführung Kognitive Aktivierung Konstruktive Unterstützung Aber: Unterricht als Lerngelegenheit kann Lernen auch dann nicht sicherstellen Wie kann man feststellen, ob Unterricht die drei Merkmale berücksichtigt? Erfassung der Merkmale in COACTIV 16
Ansätze zur Erfassung des Unterrichtsgeschehens Verschiedene Perspektiven z.b. gut geeignet zur Erfassung Lehrkräfte Schüler/innen Externe Beurteiler des intendierten Unterrichtsverlaufs der Diagnose von Verständnisschwierigkeiten des Potenzials zur kognitiven Aktivierung Perspektiven sind nicht identisch unterschiedliche Grenzen und Möglichkeiten (Clausen, 2002) COACTIV: Verschiedene Perspektiven zur Erfassung des Unterrichts 17
Erfassung des Unterrichts: Basisdimensionen der Unterrichtsqualität 1. Klassenführung (Schüler- und Lehrerbeurteilung) Störungspräventive Unterrichtsführung Effektive Zeitnutzung Monitoring 2. Kognitive Aktivierung (Externe Beurteiler) Auswahl kognitiv herausfordernder Aufgaben Niveau des mathematischen Begründens, Rechnen vs. Modellieren Curriculares Niveau eingesetzter Aufgaben Passung zum curricularen Niveau 3. Konstruktive Unterstützung (Schülerbeurteilung) Strukturierung (Anforderungen einer Lernsituation so anpassen, dass sie für die Lernenden bewältigbar wird) Qualität der Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden (Respekt- und verantwortungsvoller Umgang mit den Schüler/innen) 18
Ergebnisse aus dem Projekt COACTIV Individuelle Voraussetzungen Vorwissen, Intelligenz, Interessen, sozialer Hintergrund Lehrkräfte Unterricht ( Angebot ) Nutzung Wahrnehmung des Unterrichts individuelle Lernprozesse Wirkungen bei Schüler/innen Kontext Schule, Klasse außerschulische Lernangebote vgl. Helmke 2003, Lipowsky 2007 19
Anlage von COACTIV 9. Klasse (2003) 10. Klasse (2004) Schüler/innen in Mathematikklassen PISA PISA Lehrkräfte COACTIV COACTIV Stichprobe im Längsschnitt 194 Klassen mit ca. 4300 Schüler/innen 20
Unterrichtsgespräch Gruppenarbeit Partnerarbeit Stillarbeit/Einzelarbeit Individueller Arbeitsplan Genetisch-beziehungshaltiger Unterricht (Freudenthal) Entdeckendes Lernen (Wittmann) Genetisch-exemplarischer Unterricht (Wagenschein) Unterrichtsrealität im Mathematikunterricht - Sichtstrukturen 4,00 Recht geringe Unterschiede zwischen Schulformen 3,50 3,00 2,50 2,00 1,50 1,00 0,50 0,00 Unterrichtsgespräch Gruppenteiliges Arbeiten Partnerarbeit Angaben der Lehrkräfte 1 = unbekannt bzw. nie genutzt 4 = (fast) immer oder regelmäßige Anwendung Stillarbeit Individueller Arbeitplan Genetisch-beziehungshaltiger Unterricht Operatives und aktiv entdeckendes Lernen Genetisch-exemplarischer Mathematikunterricht 21
Unterrichtsrealität im Mathematikunterricht - Tiefenstrukturen 0.70 0.50 0.30 n.s. 0.10-0.10-0.30-0.50-0.70 Klassenführung Potenzial zur kognitiven Aktivierung Konstruktive Unterstützung Hauptschule Sekundarschule Realschule Gesamtschule Gymnasium 22
Unterrichtsrealität im Mathematikunterricht - Tiefenstrukturen Kognitives Potential der in der 10. Klasse eingesetzten Aufgaben in Klassenarbeiten 8% Aufgabenart Technische Aufgabe Rechnerische Modellierungsaufgabe Beispiel Geteilt Aufgabenklassen Berechne: 18 : 2 =.. Teppichboden Jan will einen Teppichboden für sein Zimmer kaufen. 5m 3m 43% 49% Begriffliche Modellierungsaufgabe Wie viel m² Teppichboden benötigt er? Schreibe auf, wie du rechnest. 31 Cent Wie kannst du einen Geldbetrag von genau 31 Cent hinlegen, wenn du nur 10-Cent-, 5-Cent- und 2-Cent-Münzen zur Verfügung hast? Gib alle Möglichkeiten an und erläutere dein Vorgehen. Technische Aufgaben Rechnerische Modellierungsaufgaben Begriffliche Modellierungsaufgaben 23
Unterrichtsrealität im Mathematikunterricht - Tiefenstrukturen Kognitives Potential der in der 10. Klasse eingesetzten Aufgaben in Klassenarbeiten 0% 1% 3% Mathematisches Argumentieren Mathematisches Argumentieren 96% nicht erforderlich niedrig mittel hoch 24
Welche Wirkungen haben die Basisdimensionen? Individuelle Voraussetzungen Vorwissen, Intelligenz, Interessen, sozialer Hintergrund Lehrkräfte Unterricht ( Angebot ) Nutzung Wahrnehmung des Unterrichts individuelle Lernprozesse Wirkungen bei Schüler/innen Kontext Schule, Klasse außerschulische Lernangebote vgl. Helmke 2003, Lipowsky 2007
Unterrichtsqualität und Unterrichtseffekte Unterricht Schüler Klassenführung (Schüler-, Lehrer-FB) Kognitive Aktivierung (Schüler-FB, Aufgaben) + + + - Leistung Mathematik Leistungsängstlichkeit Konstruktive Unterstützung (Schüler-FB) + Freude an Mathematik Kunter & Voss, in press 26
Zusammenfassung: Ergebnisse aus COACTIV Unterrichtserfolg kann nicht einfach über bestimmte Methoden oder Strategien erzielt werden Maßgeblich sind vielmehr Tiefenstrukturen des Unterrichts: Kognitive Aktivierung und Klassenführung entscheidend für Lernfortschritte Konstruktive Unterstützung, aber auch Klassenführung, entscheidend für Entwicklung von Freude an Mathematik und Verringerung von Leistungsängstlichkeit Kognitive Aktivierung geht nicht auf Kosten der Lernfreude (siehe auch Wang, Haertel, & Walberg, 1993; Seidel & Shavelson, 2007, Hattie, 2009) Beim multikriterialen Ansatz zeigt sich ein anderes Bild vom guten Unterricht, als wenn nur Lernleistungen zugrunde gelegt werden Potenzial zur kogn. Aktivierung im Mathematikunterricht der Sek I oft eher gering (Ergebnisse aus 2004) 27
Konstruktive Unterstützung (Strukturierung) im Sachunterricht Studie im Bereich des naturwissenschaftlichen SU ( Schwimmen und Sinken ): Konstruktive Unterstützung hier nicht nur für Motivation wichtig, sondern auch für den Lernerfolg (Hardy, Jonen, Möller & Stern, 2006)! Konstruktive Unterstützung bedeutet in der Studie Sequenzierung/Gliederung des Unterrichtsthemas in verstehbare Einheiten Strukturierende Gesprächsführung 28
Workshop Konsequenzen der Befunde aus dem Bereich Mathematik für den Bereich des naturwissenschaftlichen Sachunterrichts? Was könnten Kognitive Aktivierung und Konstruktive Unterstützung (Strukturierung) im naturwissenschaftlichen Sachunterricht bedeuten? a) Konkretisieren Sie dies an einem Unterrichtsbeispiel. b) Gibt es Beispiele aus der gängigen Praxis des SU bei diesem Thema, die für geringe kognitive Aktivierung und schlechte Strukturierung stehen? Unterlagen, die Ihnen Anregungen bieten können: Kognitive Aktivierung COACTIV: Aufgabenklassen COACTIV: Mathematisches Argumentieren Strukturierung Def. bei COACTIV Auszug aus v. d. Pol et al., 2010 (Scaffolding) 29
Literaturempfehlungen Helmke, 2008 30
Literaturempfehlungen Friedrich Jahresheft 2007 31
Literaturempfehlungen Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss S. & Neubrand, M. (Hrsg.) (in Vorb., Herbst 2010). Professionelle Kompetenz von Lehrkräften Befunde aus dem COACTIV-Projekt. Münster: Waxmann. Lipowsky, F. (2009). Unterricht. In E. Wild & J. Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 73-102). Berlin: Springer. 32
Literaturempfehlungen und wer wirklich den Heiligen Gral finden will: Hattie, 2009 33