Störung des Sozialverhaltens. Dr. Henrik Uebel Universität Göttingen Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie

Ähnliche Dokumente
Störung des Sozialverhaltens

Kindes und Jugendalters. Störung des.

Kinder- und jugendpsychiatrische Aspekte aggressiven Verhaltens

Prügelknabe oder Angstbeißer Zu- Mutungen!?

Aggressive Sozialverhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Depressive Kinder und Jugendliche

Angststörungen im Kindes- und Jugendalter. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Universität Göttingen

Depressive Kinder und Jugendliche

Die seelische Gesundheit unserer Kinder

Kinder und Jugendliche im Gefühlschaos

Aggression bei Kindern und Jugendlichen

Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen im Vorschulalter

Psychische Storungen bei Kindern und Jugendlichen

KONZENTRIER DICH DOCH MAL- KONZENTRATIONS- & AUFMERKSAMKEITS-

Verunsichert, ängstlich, aggressiv

Dissoziale Jugendliche

Fachtagung Suchterkrankung in der Adoleszenz

Prädikative Faktoren und klinische Hinweise auf vermehrte Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen. Erkennen und Intervenieren im Schulalltag

Einführung Alexander von Gontard

Psychosen bei Jugendlichen

Zur Kooperation von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe

Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin

ADHS. Dr. Tanja Wolff Metternich. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters am Klinikum der Universität zu Köln

Inhaltsverzeichnis. Zusammenfassung... 1

Inhalt. Vorwort 13. Teil I Grundlagen Entwicklungspsychopathologie: Definition 16

Psychische Störungen bei straffällig gewordenen jungen Menschen- Risikofaktoren und Therapieansätze

Aggression bei Kindern und Jugendlichen

Epilepsie und Psyche

Allgemeine und Spezielle Krankheitslehre

Selbstverletzendes Verhalten

Herausforderungen und Chancen aus Sicht des Kinder- und Jugendpsychiaters

Angst, Depression und körperliche Komorbiditäten bei Kindern

Inhaltsverzeichnis. Allgemeine Einführung in die Ursachen psychischer Erkrankungen sowie deren Bedeutung

Fragenkatalog Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Fragen zu Kapitel 1: Klassifikation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter

Elektiver Mutismus (F94.0) Vorlesung Systematik der Kinder- und Jugendpsychiatrie

ADHS und Persönlichkeitsentwicklung

Störungen des Sozialverhaltens

Verlauf psychischer Störungen. Prof. Dr. Günter Esser, Uni Potsdam. Die meisten psychischen Störungen beginnen im Kindes- und Jugendalter Tabelle

Persönlichkeitsstörung (ICD 10, DSM IV)

Klinische Psychologie II

Vorwort (Paulitsch, Karwautz) Geleitwort (Lenz) I Einführung (Paulitsch) Begriffsbestimmung Historische Aspekte...

Teil I Grundlagen der Klinischen Psychologie

Modul 1 Klassifikationssysteme. Übersicht über Gruppen und Kategorien der ICD-10. Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00- F99)

Schizophrenie. Symptomatik

Kooperationstreffen Jugendhilfe - Schule

Borderlinepersönlichkeitsstörung

Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie. Persönlichkeitsstörungen

Herausforderung Alltag

Inhaltsverzeichnis. Vonvort zur deutschen Ausgabe Geleitwort. Einleitung 1 Warum dieses Buch? 1 Integrativer Ansatz 2 Zum Inhalt des Buches 5

DEPRESSIVER STÖRUNGEN BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN

AD(H)S, Verhaltensauffälligkeiten, Lern- und Leistungsprobleme im Grundschulalter

Dissoziative Störungen, Konversionsstörungen

DEPRESSIONEN. Referat von Sophia Seitz und Ester Linz

ADHS und soziales Umfeld - Eine Exploration

Essstörungen im Kleinkindalter Essstörungen im Jugendalter gibt es Zusammenhänge? N. v. Hofacker Forum Suchtprävention, München,

(Früher: Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters )

Vernetzte Versorgung in der psychosomatischen Rehabilitation

ADHS Aktuelle Übersicht der Behandlung

Klinische Psychiatrie

Prüfungsfragenkatalog zur Vorbereitung für mündliche und schriftliche Prüfungen am Lehrstuhl für Psychologie und Psychotherapie in der Heilpädagogik

Kinderverhaltenstherapie

ADHS- Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivität. Dr. Thomas Trabi Kinder- und Jugendpsychiatrie, LSF Graz. Dr. Thomas Trabi

Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO

Wege aus der Abhängigkeit

Auswirkung chronischer Störungen auf die Schule Am Beispiel ADHS

Ausprobieren Konsumieren Abhängig werden. Risiken zur Suchtentwicklung im Jugendalter.

Untersuchungsmethoden und Therapien in der Psychiatrie. Einleitung in die Psychiatrie am September 2008.

Schulpsychologisches Lernzentrum in Hamm

Diagnostik von Traumafolgestörungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Lehrbuch Klinische Paar- und Familienpsychologie

Intel igenzminderung

Anorexia nervosa und andere Essstörungen

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs Vorwort... 13

Depression bei Kindern und Jugendlichen

Workshop C: psychiatrische und somatische Begleiterkrankungen von Suchtkranken und deren Therapie

Aggressiv-dissoziale Störungen

Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung - ein Einblick

Peter Fiedler. Persönlichkeitsstörungen. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Christoph Mundt. 5., völlig neu bearbeitete Auflage EEUZPVU

Zwischen Talent und Chaos: Kinder mit AD(H)S

Franz Petermann, Manfred Döpfner, Martin H. Schmidt: Ratgeber Agressives Verhalten, 2., aktualisierte Auflage, Hogrefe-Verlag, Göttingen

Von der sozialen Interaktionsstörung bis zu aggressiven Verhaltensmustern: Möglichkeiten und Grenzen

Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie Landesnervenklinik Sigmund Freud

Klinische Psychologie: Körperliche Erkrankungen kompakt

Pädagogischer Umgang mit aggressivem Verhalten. SCHILF Chemnitz 2012

Lernstörungen. Lernstörungen. Lese- Rechtschreibstörung Definition. Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

1. Da muss ich allein durch - wer braucht die Psychiatrie und Psychotherapie und was versteht man darunter? 21

Seminar Diagnostik Master of Science Freiburg SS 2011 Seminarleiter: Prof. Dr. J. Bengel Referenten: Marie Drücker, Julie Kraft und David Slama

Psychische Störungen Einführung. PD Dr. Peter Schönknecht Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Leipzig

Das Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) aus Sicht der Erziehungsberatungsstelle

Das Alter hat nichts Schönes oder doch. Depressionen im Alter Ende oder Anfang?

Inhaltsverzeichnis. Erster Teil: Einführung

Inhaltsverzeichnis. Inhaltsverzeichnis

ADHS frühzeitig erkennen

Psychiatrisch- Versicherungsmedizinisches für die Hausarztpraxis

Vorwort zur 1. Auflage... Vorwort zur 4. Auflage... VIII

Essstörungen und Sexualstörungen. Persönlichkeitsstörungen, Lernkarten. Lernkarten zur Prüfungsvorbereitung. Heilpraktiker Psychotherapie.

Inhaltsverzeichnis. 1 1 Organische psychische Störungen (ICD-10 F0) 1.1 Diagnostik der Demenz. 1.2 Therapie demenzieller Syndrome. 1.

Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell der Depression

Transkript:

Störung des Sozialverhaltens Dr. Henrik Uebel Universität Göttingen Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie

Definition Wiederholtes und persistierendes Verhaltensmuster, bei dem entweder die Grundrechte anderer oder wichtige altersentsprechende soziale Normen oder Gesetze verletzt werden Mindestens 6 Monate anhaltend Nicht durch andere psychische Störungen verursacht

Definition Dissozialität: Abweichung von altersgemässen Regeln und Normen und/oder Beeinträchtigung der Rechte anderer. Klinische Bezeichnung: Störung des Sozialverhaltens. Delinquenz: Handlungen, die von gesellschaftlichen Kontrollinstanzen verfolgt werden.

Leitsymptome

Klassifikation nach ICD-10 F91.0 auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens F91.1 Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen F91.2 Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen F91.3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten F92.0 Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung F92.8 andere kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen

Pathogenese Perinatale Schädigungen, hyperkinetische Störungen und Hirntraumen sind biologische Risikofaktoren Kinder mit gestörtem Sozialverhalten zeigen häufig verminderte Angst- und Stressreaktionen Bindungsstörungen können ursächlich für dissoziales Verhalten sein Stufenmodelle (Loeber) erklären Eskalationen des Verhaltens, aber auch Ausstiegsmöglichkeiten Eltern-Kind-Interaktionsmuster sind für Entstehung und Verlauf von Bedeutung

Entwicklungsmodell nach Loeber

Familiäre Interaktionsmuster Elterliche Charakteristika (nach Patterson): Inkonsistentes Erziehungsverhalten Unvorhersehbares explosives Erziehungsverhalten Geringe Aufsicht und Betreuung Unflexibles rigides Erziehungsverhalten Besonders häufig bei Familien mit Arbeitslosigkeit und Armut beruflicher Überlastung Alkohol- und Drogenmissbrauch der Eltern massiven Ehekonflikten psychischen Störungen der Eltern (z.b. Depressionen)

Familiäre Interaktionsmuster Charakteristika des Kindes: Ausprägung der Fähigkeiten zur sozialen Anpassung und zur Frustrationstoleranz Unterscheidung reaktive (impulsive) gegenüber proaktiver (instrumenteller) Aggression Reaktive Aggression ist bedingt durch Faktoren wie geringe Selbstregulationsfähigkeit und geringe emotionale Impulskontrolle. Störungen, die damit in Zusammenhang stehen, sind u.a. hyperkinetische Störungen (ADHS), affektive und Angststörungen sowie Sprachentwicklungsverzögerungen. Entstehung und Verfestigung oppositioneller Störungen durch das Aufeinandertreffen entsprechender elterlicher und kindlicher Charakteristika Teufelskreis aggressiven Verhaltens

Epidemiologie Prävalenzraten Vorschulalter Schulalter Jugendalter Oppositionell-trotziges Verhalten (OTV) 4-9% 6-12% 15% Störungen des Sozialverhaltens (SSV) 2-4% 6-12% Periodeneffekte Anstieg in den letzten Jahrzehnten in allen westlichen Ländern Geschlechtseffekte Jungen überwiegen im Verhältnis 4:1 (Kindheit) bis 2:1 (Adoleszenz) Sozialschichteffekte 3-4 mal häufiger bei niedriger Sozialschicht / niedrigem Einkommen / Sozialhilfe / deprivierten Wohnquartieren Interventionen Nur 15-25% der betroffenen Kinder und Jugendlichen erhalten Hilfen

Verlaufstypen Früher Beginn (mit oppositioneller Störung), early starters ; schlechte Prognose Später Beginn (nach dem 10. Lebensjahr; vorwiegend in der Adoleszenz): eher gute Prognose; Symptomatik verschwindet oft zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr Im Entwicklungsverlauf nehmen körperliche Aggressionen ab, andere dissoziale Verhaltensweisen zu. Je breiter die Symptomatik, desto höher das Risiko eines Substanzmissbrauchs.

Diagnostik 1 orientierend über Verhaltensfragebögen funktionale Verhaltensanalyse (z.b. reaktive vs. instrumentelle Aggression; Dauer; auslösende und bedingende bzw. unterhaltende Faktoren; Erziehungsverhalten der Eltern) Fremdberichte (z.b. Schule, Heime)

Diagnostik 2 Familienanamnese (z.b. HKS, Alkoholismus, Psychosen) Eigenanamnese (z.b. Risikofaktoren, Traumen) Psychiatrische Exploration Testpsychologische Untersuchungen Leistungstests Persönlichkeitstests Körperlich-neurologische Untersuchung Labordiagnostik (bei spezieller Indikation)

Komorbidität Hyperkinetische Störungen (ADHS) Depressive Störungen Emotionale Störungen Lernstörungen (vgl. Sprachentwicklungsstörungen, Legasthenie, niedrige Intelligenz) Substanzmissbrauch

Therapie Multimodale Intervention Betonung von Indikation und Differentialdiagnose bei psychiatrischer Intervention Familienorientierte Verhaltenstherapie, Verbesserung der Erziehungskompetenz Kindzentrierte Verbesserung von Sozialfertigkeiten / kognitive Therapie

Therapie Multimodale Intervention Interventionen in der Schule Lernstörungen Verhalten im Klassenraum Multisystemische Therapie Wirksame Intensivbehandlung auf mehreren Ebenen Pharmakotherapie restriktive Indikation; eher auf komorbide Störungen ausgerichtet Stimmungsstabilisatoren, Neuroleptika, Stimulantien Sozial- und Milieuarbeit