Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport. Pädagogische Diagnostik und Unterstützungsansätze 1

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Transkript:

329 1 Einleitung Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport. Pädagogische Diagnostik und Unterstützungsansätze 1 Alfred Richartz, Karen Hoffmann & Jeffrey Bernardt Universität Leipzig Sportwissenschaftliche Fakultät Institut für Sportpsychologie und Sportpädagogik In den letzten Jahren stand der Leistungssport von Jugendlichen im Mittelpunkt mehrerer empirischer Untersuchungen; dadurch konnte das häufig beklagte empirische Defizit in der pädagogisch orientierten Debatte um Risiken und Chancen des Leistungssports im Jugendalter erheblich vermindert werden (vgl. Heim & Richartz, 2003). Für den Leistungssport im Kindesalter ist die empirische Befundlage jedoch immer noch sehr unbefriedigend. Hier setzt das vorliegende Forschungsprojekt an. Es zielt einerseits auf Belastungen von Kindern im Leistungssport, dabei besonders auf die chronischen, andererseits auf personale und soziale Schutzfaktoren, die helfen, diese Belastungen abzupuffern. Im Einzelnen lassen sich die Forschungsfragen vier Komplexen zuordnen: 1) Wie lassen sich die chronischen Belastungen von Kindern im Leistungssport quantitativ und qualitativ beschreiben? Stresstheoretische Befunde legen nahe, dass chronische Belastungen schwerwiegendere Auswirkungen zeitigen als Aktualbelastungen. Gleichzeitig lassen sich chronische Belastungen allerdings schwieriger erfassen und beurteilen. Es stellt sich deshalb weiterhin die Frage, ob sich besondere Quellen chronischer Belastungen ausmachen lassen und welche pädagogischen Konsequenzen daraus gezogen werden können. 2) Wie sind personale und soziale Ressourcen als Schutzfaktoren gegen Belastungen ausgeprägt? Es wird erwartet, dass sich gut geschützte von vulnerablen Kindern unterscheiden lassen. Besonders bedeutsam für die Qualität personaler und sozialer Ressourcen ist das Erwartungsmuster, das Kinder gegenüber wichtigen Bezugspersonen entwickelt haben: Werden Eltern/Trainer in schwierigen Situationen angemessen und wirksam Unterstützung leisten? Diese Muster werden in der Bindungsforschung als Bindungsrepräsentationen untersucht (Spangler & Zimmermann, 1999a); hier schließt das vorliegende Projekt an. 3) Wie beschreiben Trainer das Verhalten von Talenten in Training und Wettkampf, die sich als vulnerabel bzw. gut geschützt erweisen? Für eine frühzeitige und effek- 1 VF 0407/11/69/2004-2005

330 Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport tive pädagogisch-psychosoziale Unterstützung wäre es sehr hilfreich, wenn sich eine differentielle pädagogisch-psychologische Diagnostik von gut geschützten und vulnerablen Kindern entwickeln ließe. Darüber hinaus wäre eine trainings- und wettkampfbezogene deskriptive Typologie für die verantwortliche pädagogische Arbeit im Leistungssport sehr hilfreich. Typologien stellen eine charakteristische Wissensform pädagogischer Professionalität dar, die besonders geeignet ist, zwischen wissenschaftlichem Wissen und praktischem Handeln zu vermitteln (Herzog, 2003). 4) Chronische Belastungen im Leistungssport sind an soziale Kontexte gebunden; die Trainer spielen darin vermutlich eine besonders wichtige Rolle. Die Verhaltensstile von Trainern im Bereich sozialer Unterstützung werden deshalb in diesem Projekt ebenfalls thematisiert. Ein qualitatives Verfahren soll explorieren, wie sich Trainer auf belastende Situationen und Unterstützungsbedürfnisse von Kindern im Leistungssport einstellen. Dabei sollen einerseits die Genese dieser Verhaltensstile rekonstruiert, andererseits auch die Fähigkeiten zu effektiver sozialer Unterstützung exploriert werden. Aus den Ergebnissen werden sich Maßnahmen zur Verbesserung dieser Kompetenzen ableiten lassen. Der theoretische Rahmen der Untersuchung schließt an das transaktionale Stresskonzept sensu Lazarus an. Hier wird es mit einer besonderen Akzentuierung auf chronischem Stress profiliert (Schulz, Schlotz & Becker, 2003). Für den Bereich der personalen und sozialen Ressourcen wird theoretisch und methodisch die Bindungsforschung im Anschluss an Bowlby/Ainsworth (Spangler & Zimmermann, 1999a) herangezogen. 2 Forschungsdesign Das Forschungsdesign kombiniert aufeinander abgestimmte qualitative und quantitative Teiluntersuchungen, deren Ergebnisse im Auswertungsprozess miteinander verschränkt werden (Triangulierung). Eine Kooperation mit dem Paderborner Projekt zur Talententwicklung im Kindersport von Brettschneider/Gerlach (Gerlach, 2001) wird eine Vernetzung und Validierung der Befunde ermöglichen. Quantitative Teiluntersuchung Chronische Belastungen und protektive Ressourcen werden mit einem standardisierten Fragebogen erhoben. Die Stichprobe bezieht sich regional auf die Bundesländer Sachsen und Berlin. Berücksichtigt werden die für einen frühen Leistungssporteinstieg einschlägigen Sportarten Turnen, Schwimmen, Wasserspringen und Rhythmische Sportgymnastik (RSG). Befragt werden die leistungsorientiert trainierenden Kinder im Alter von 8-10 Jahren (Vollerhebung). Dieser Projektteil ist im Follow-up-Design angelegt: Die Probanden werden in den Jahren 2004 und 2005 befragt.

Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport 331 Der erste Teil des Fragebogens zielt auf chronische Belastungen. Ein geeignetes Erhebungsverfahren für das Kindesalter existiert z.z. noch nicht. Mit dem Trierer Inventar zum chronischem Stress (TICS; Schulz, Schlotz & Becker, 2003) liegt jedoch ein ausgereiftes Verfahren für Erwachsene und Jugendliche vor, das ausgezeichnete Gütekriterien aufweist. Auf dieser Grundlage wurde ein eigenes Instrument entwickelt, das einerseits auf Kinder als Probanden zugeschnitten wurde und andererseits die besonderen Anforderungen des Leistungssports berücksichtigt. Der zweite Teil des Instruments erhebt protektive Ressourcen. Für diesen Bereich wurde der Fragebogen zu Sportengagement und Entwicklung von Heranwachsenden (SET) der Paderborner Forschungsgruppe herangezogen (Gerlach, 2001). Er ist gut erprobt und erfasst sowohl personale als auch soziale Ressourcen. Qualitative Teiluntersuchung Die qualitative Teiluntersuchung beinhaltet offene, teilstandardisierte und standardisierte Verfahren; sie schließt Kinder aus der quantitativen Stichprobe und deren Trainer ein. Bei den Kindern steht die Exploration von protektiven Ressourcen insbesondere das Erleben und die Zugänglichkeit von sozialer Unterstützung im Mittelpunkt. Die Probanden werden zuerst mit einem problemzentrierten Interview befragt. In einem zweiten Schritt wird die Bindungsrepräsentation mit dem Geschichtenergänzungsverfahren zur Bindung (GEV-B) erhoben (Gloger-Tippelt et al., 1997). Bindungsmuster geben Auskunft über personale wie soziale Ressourcen (Spangler & Zimmermann, 1999b). Das GEV-B ist gut erprobt; es wird für unseren Zusammenhang mit Szenen aus dem Trainings- und Wettkampfalltag ergänzt, um Ressourcen und Bewältigungsmechanismen auch für die spezifische Situation im Leistungssport zu untersuchen. Auch die Trainer werden mit einem problemzentrierten Interview befragt. Dabei werden v.a. die Trainer der qualitativ befragten Talente berücksichtigt. Im ersten Teil sollen die Trainer ihre Schützlinge in Trainings- und Wettkampfsituationen beschreiben und ihre Ressourcen beurteilen. Diese Daten sollen zu einer alltagsnahen Typologie gut geschützter und vulnerabler Talente beitragen. Im zweiten Teil geht es um den Trainer als Quelle effektiver sozialer Unterstützung: Wie sehen sich die Trainer in ihrer spezifischen Rolle? Wie nehmen sie Unterstützungsbedürfnisse wahr und wie gehen sie damit um? Auf welchem Erfahrungshintergrund basiert die eigene Rollendefinition? Das Verfahren orientiert sich an bewährten Methoden im Bereich elterlicher Unterstützung und wird hier auf den spezifischen Unterstützungskontext Training/Wettkampf zugeschnitten.

332 Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport 28 Trainer 28 Kader AK 8-10 Welle 1 und 2: Vollerhebung Kader- Sportler AK 8-10 Sachsen/Berlin Paderborner Talente- Stichprobe Trainer- Interview Belastungs- Ressourcen- Interview GEV-B Fragebogen zu Belastungen und Ressourcen von Kindern Paderborner Talent- Fragebogen Abb. 1: Vernetzung qualitativer und quantitativer Methoden. 3 Ergebnisse Das Projekt befindet sich in der ersten Hälfte der Laufzeit: Die erste Welle der quantitativen Befragungen ist abgeschlossen und die qualitativen Instrumente werden in Kürze vorliegen. Bereits jetzt lassen sich einige überraschende Zwischenergebnisse präsentieren. Entwicklung des Fragebogens Da z.z. kein Erhebungsinstrument für chronischen Stress im Kindesalter vorliegt, wurde von der Projektgruppe ein eigenes Messinstrument (Fragebogen zu chronischem Stress im Kindesalter CSiK ) entwickelt. Dabei wurden die Skalen des TICS an die Lebenswelt von Kindern angepasst. Das Instrument besteht im Wesentlichen aus Aussagesätzen, die typische Belastungsempfindungen thematisieren ( Ich muss mich in der Schule anstrengen ). Einige Items zielen auf die Abwesenheit von Belastungen, um diese sozusagen ex negativo zu erschließen ( Ich gehe gern zur Schule ). Die Kinder sollen für jede Aussage beurteilen, ob sie diese Empfindung in der letzten Zeit nie, manchmal, oft oder sehr oft hatten. Das Instrument wurde einem umfangreichen Pre-Tests unterzogen: in 3. und 4. Klassen an sieben Grundschulen im Raum Leipzig und Melsungen (N = 375, Altersdurchschnitt 9.7) wurde eine erste Version mit 76 Items getestet. Durch eine Faktorenanalyse konnten neun Faktoren extrahiert werden, die jeweils einen diskreten Belastungsbereich repräsentieren:

Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport 333 1) Schulische Überforderung/Leistungsdruck: In diesem Bereich wird einerseits thematisiert, wie schwierig die Kinder die schulischen Anforderungen erleben, andererseits geht es darum, in welchem Maße sie Druck der Eltern wahrnehmen, gute Noten zu erreichen. 2) Sorgen/soziale Überlastung: Soziale Überlastung entsteht durch übermäßige Sorgen um andere Menschen. Bei Kindern können dies v.a. Eltern oder Freunde sein. Darüber hinaus sind hier auch unspezifische Sorgen inbegriffen. 3) Sozialer Druck: Während bei schulischer Überforderung konkrete Erwartungen an schulische Leistungen im Mittelpunkt stehen, beinhaltet Sozialer Druck das Gefühl, sich anstrengen zu müssen, um von anderen angenommen, akzeptiert und respektiert zu werden. 4) Zufriedenheit Schule: Bei Erwachsenen kann chronische Belastung durch Anforderungen entstehen, die innerlich abgelehnt werden oder deren Sinn subjektiv nicht geteilt wird. Für die Lebenswelt von Kindern muss diese Belastungsquelle darauf bezogen werden, ob es Kindern gelingt, die schulischen Anforderungen als sinnvoll zu erleben. 5) Soziale Spannungen: Häufige und unaufgelöste Konflikte mit wichtigen Bezugspersonen können erheblichen chronischen Stress bewirken. Deshalb wird hier nach Konflikten mit Eltern, Freunden und Lehrern gefragt. 6) Soziale Isolation in der Familie: Eltern sind für Kinder die wichtigsten Bezugspersonen, deshalb steht das Gefühl der Verbundenheit und die gemeinsamen Aktivitäten mit ihnen hier im Mittelpunkt. 7) Geschwister-Konflikte: Geschwister spielen für Kinder eine besondere Rolle sowohl Zusammengehörigkeit als auch Konflikte werden unter Geschwistern mit großer Intensität erlebt. Tatsächlich zeigt die Faktorenanalyse, dass Geschwisterkonflikte unabhängig von Konflikten mit Gleichaltrigen oder Erwachsenen betrachtet werden müssen. 8) Zeitliche Überlastung: Das Erleben der verfügbaren Zeit steht hier im Zentrum. Dabei ist allerdings weniger das Quantum an Zeit entscheidend, sondern das Empfinden der eigenen Verfügungsmöglichkeit. 9) Soziale Isolation unter Gleichaltrigen: Auch für Kinder sind Gleichaltrigenbeziehungen wichtig genug, um Sorgen um Zugehörigkeit und Akzeptanz auszulösen. Dieser Belastungsbereich wird von Kindern unabhängig von der sozialen Isolation in der Familie erlebt. Auf der Grundlage dieser Resultate konnte die Itemsammlung erheblich gekürzt werden. Die zweite Version des CSiK enthält nun noch 36 Items, die alle neun Skalen abdecken. Um auch die spezifischen Anforderungen des Leistungssports abzubilden, wurden drei weitere Skalen in das Instrument aufgenommen, die sich an den Ergebnissen des Pre-Tests orientierten. Zusammen enthalten sie 11 Items: 1s) Sportliche Überforderung/Leistungsdruck: Diese Skala stellt der Skala Schulische Überforderung/Leistungsdruck (1) eine bereichsspezifische für den Sport gegen-

334 Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport über. Erhoben wird wahrgenommener Druck, sportliche Leistungen zu verbessern bzw. Erfolge zu erzielen. 4s) Zufriedenheit Training: Diese Skala parallelisiert die Skala Zufriedenheit Schule (4) für den sportlichen Erfahrungsraum: Erleben Kindern die sportlichen Anforderungen als sinnvoll und hat der Sport einen hohen Anreizwert für sie? 9s) Soziale Isolation in der Trainingsgruppe: Hier wird die Trainingsgruppe als besondere Gleichaltrigengruppe und die damit verbundenen unterstützenden bzw. belastenden Beziehungen thematisiert. Stichprobe Durch umfangreiche Recherchen und Vorarbeiten konnte eine Vollerhebung in Sachsen und Berlin realisiert werden. Die Stichprobe setzt sich folgendermaßen zusammen: Tab. 1: Zusammensetzung der Stichprobe. Vereine / Leistungszentren Sachsen Talente Vereine / Leistungszentren Trainingsgruppen Trainingsgruppen Talente SPORTART Turnen 6 6 39 2 6 28 RSG 2 2 8 1 1 5 Wasserspringen 3 4 30 1 2 17 Schwimmen 18 18 215 16 24 257 Gesamt 23 30 292 20 33 307 Berlin Deskriptive Analyse zu chronischen Belastungen von Kindern im Leistungssport Wegen der aufwändigen Datensicherungsarbeiten steht die Auswertung der ersten Befragungswelle noch am Anfang. Aber auch die Auswertung einer Teilstichprobe von 160 Athleten aus Sachsen und Berlin (Stand der Erhebungen im September 2004) zeigt bereits einen aufschlussreichen Überblick über die relative Bedeutung der Belastungsquellen. Die Mittelwerte der Belastungsbereiche werden in Abbildung 2 dargestellt. Über alle Bereiche wird ein Gesamtmittelwert von M = 2,07 erreicht; dieser Wert soll hier als Orientierung für eine mittlere Belastung dienen, da andere Maße z.z. noch nicht zur Verfügung stehen. Die Belastungsbereiche sind nach absteigendem Belastungsgrad geordnet.

Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport 335 3) Sozialer Druck Nie Manchmal Oft Sehr oft 6) Soziale Isolation: Familie 7) Geschwister Konflikte 8) Zeitliche Überlastung 4) Zufriedenheit Schule 1) Schulische Überforderung, Leistungsdruck 1s) Sportliche Überforderung, Leistungsdruck 2) Sorgen, soziale Überlastung 9) Soziale Isolation unter Gleichaltrigen 4s) Zufriedenheit Training 5) Soziale Spannungen 9s) Soziale Isolation in der Trainingsgruppe 1 2 3 4 Skalenmittelwerte Gesamtmittelwert Ø 2,07 Abb. 2: Mittelwerte der Belastungsbereiche. Die Mittelwerte geben nur einen ersten Einblick, der allerdings überraschend ist. Leistungssport treibende Kinder erleben chronische Belastungen entgegen plausiblen Erwartungen nicht vorrangig im Bereich aufgabenbezogener Anforderungen von Schule oder Training. Belastungen erwachsen vielmehr in erster Linie aus sozialen Beziehungen und den mit ihnen verbundenen Konflikten, Unsicherheiten und Ängsten: Die Bemühungen, von Eltern und Gleichaltrigen angenommen und respektiert zu werden, stehen an erster Stelle, danach folgen das Bemühen um elterliche Nähe, die Konflikte mit Geschwistern und dann erst zeitliche Belastungen. Diese vier Bereiche liegen über dem Gesamtmittelwert. Die relativ hohe Bewertung zeitlicher Belastungen erscheint im Hinblick auf die Trainingsumfänge, Fahrt- und Wettkampfzeiten erwartbar. Der erlebte Schweregrad der schulischen und sportlichen Anforderungen liegt unter dem Gesamtmittelwert die Kinder fühlen sich den Anforderungen also im Großen und Ganzen gewachsen. Als besonders konfliktarm und freundschaftlich erleben die Probanden offenbar die Beziehungen in der Trainingsgruppe. Das Training sowie die daran geknüpften Anforderungen und sozialen Kontakte werden also insgesamt weniger belastend empfunden als vergleichbare Aspekte des schulischen Alltags. 4 Literaturverzeichnis Ainsworth, M.D.S., Blehar, M.C., Waters, E. & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A study of the strange situation. Hillsdale (NJ): Erlbaum. Gerlach, E. (2001). Sports-Involvement and Developmental Aspects of Third Grade Students. Findings of the Paderborner Talentmodell. Poster presentation.

336 Chronische Belastungen und protektive Ressourcen im Kinderleistungssport Gloger-Tippelt, G. et. al. (1997). Geschichtenergänzungsverfahren zur Erfassung der Bindungsrepräsentationen von 5-7jährigen Kindern im Puppenspiel. Coding Manual. Unveröffentlichtes Manuskript. Universität Heidelberg. Heim, R. & Richartz, A. (2003): Jugendliche im Spitzensport. In W. Schmidt, W.-D. Brettschneider & I. Hartmann-Tews (Hrsg.), Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht (S. 255-274). Schorndorf: Hofmann. Herzog, W. (2003): Zwischen Gesetz und Fall. Mutmaßungen über Typologien als pädagogische Wissensform. Zeitschrift f. Pädagogik, 49, 3, 383-399. Schulz, P., Schlotz, W. & Becker, P. (2003). TICS Trierer Inventar zum chronischen Stress. Göttingen: Hogrefe. Spangler, G. & Zimmermann, P (1999a). Die Bindungstheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. Spangler, G. & Zimmermann, P. (1999b). Emotion, Motivation und Leistung aus entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischer Perspektive. In M. Jerusalem, L. Spitz & R. Pekrun (Hrsg.), Emotion, Motivation, Leistung (S. 85-103). Göttingen: Hogrefe.