Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 5

Ähnliche Dokumente
Kriminologie II (4) Dr. Michael Kilchling

Wirtschaftskriminalität

Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 5

2012 Referenden in Colorado und Washington. Mehrheiten stimmen für Legalisierung von Marijuana

Keine deutliche Typisierung des Unrechts (Beispiel Geldwäsche) Frage: War das eine Straftat? Anstelle der Frage Wer hat das getan?

Legalisierung von Cannabis und internationales Recht

10: Wirtschaftskriminalität

Terminplan Stunde

Süddeutsche Zeitung online 25. Juli 2014

11: Wirtschaftskriminalität

Beschlagnahmte Mengen Heroin und Kokain in kg

Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 1

1 Begriff der Wirtschaftskriminalität

Gelegenheitsstrukturen und Schwarzmärkte. Reduzierung des Strafverfolgungsrisikos

Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 3

Dr. Michael Kilchling. Fotonachweis: Münsterländische Volkszeitung. Sanktionenrecht. Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS

Organisierte Kriminalität im internationalen Kontext

Wirtschaftskriminalität

Gefährliche Klassen, Berufsverbrecher (crime as work), Organisierte Kriminalität

WIRTSCHAFTSKRIMINALITÄT Bundeslagebild 2010

Vorlesung Nr. 1 vom WS 2005/06

Einführung in das Strafrecht

in Zukunft ein Thema?

WIRTSCHAFTSKRIMINALI TÄT Bundeslagebild Pressefreie Kurzfassung -

1: Kriminalität in ihren gesellschaftlichen Bezügen

Roland Schmitz. Unrecht und Zeit. Unrechtsquantifizierung durch zeitlich gestreckte Rechtsgutsverletzung. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden

BEKÄMPFUNG VON WIRTSCHAFTSKRIMINALITÄT. Präventive und repressive Maßnahmen in deutschen Unternehmen

Forschungsfragen im Bereich der Organisierten. Kriminalität. Das Verständnis von OK Die Wahrnehmung von OK Thesen und Fragen im Zusammenhang mit OK

Dr. Michael Kilchling. Fotonachweis: Münsterländische Volkszeitung. Sanktionenrecht. Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht SS

Wirtschaftsstrafrecht

Wirtschaftsstrafrecht

Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 8

Wirtschaftsstrafrecht

Einführung in das Strafrecht

Handbuch Wirtschaftsstrafrecht

8: Allgemeine Eigentums- und Vermögenskriminalität

Kriminologie I Grundlagen

2 Grundlagen der Fraud-Prävention

Die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs

39. DEUTSCHER KRANKENHAUSTAG VLK-FORUM. Rechtsanwalt Norbert H. Müller Fachanwalt für Medizin-, Steuer- u. Arbeitsrecht

Bereiche: Glücksspiel, Prostitution, Drogen, Erpressung

Wirtschaftskriminalität

Internationale Bestechung (IntBestG, 299 Absatz 3 StGB, Entwurf neues Korruptionsbekämpfungsgesetz)

KORRUPTION ERKENNEN UND BEKÄMPFEN

Thüringer Landtag 6. Wahlperiode

Landeskriminalamt Lagedarstel ung Wirtschaftskriminalität im Land Brandenburg Jahr 2015

Vorlesung Sanktionenrecht (7) Dr. Michael Kilchling

Inhaltsverzeichnis. Abkürzungsverzeichnis Einleitung A. Gegenstand und Ziele der Untersuchung B. Gang der Untersuchung...

Update Compliance Wirtschaftsstrafrecht Steuerstrafrecht

Kriminologie. Dr. jur. Bernd-Dieter Meier o. Professor an der Universität Hannover

Boris Mattes. Der strafrechtliche Schutz vor der Ausbeutung der Arbeitskraft unter besonderer Berücksichtigung des 233 StGB

Inhaltsverzeichnis. Abkürzungsverzeichnis... Schrifttum Gegenstand und Erkenntnisinteresse der Kriminologie I. Was ist Kriminologie?...

Wirtschafts- und Europastrafrecht

Andreas Quante. Sanktionsmoglichkeiten gegen juristische Personen und Personenvereinigungen. PETER LANG EuropaischerVerlagderWissenschaften

Kasper & Kollegen Rechtsanwälte Kassel

Kriminologie II (5) Dr. Michael Kilchling

1. Teil: Einführung und Überblick. 3: Entwicklungslinien des Wirtschaftsstrafrechts

14. Management-Fachtagung des EVVC

Organisierte Kriminalität 3.0

Schwarzmärkte. Kriminologie II WS Page 1

Presse information des Bundeskriminalamtes

Polizeiinspektion Osnabrück

WER SICH UNANSTÄNDIG VERHÄLT... WIRD ANSTÄNDIG BESTRAFT?

Omnibus Crime Control and Safe Streets Act 1968 (P.L )

Wirtschaftsstrafrecht

Dr. Michael Kilchling. Fotonachweis: Münsterländische Volkszeitung. Sanktionenrecht

Erscheinungsformen Organisierter Kriminalität in Deutschland und ihre rechtliche Bewältigung

7: Allgemeine Eigentums- und Vermögenskriminalität

LE 11: Die justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit (Sicherheitsunion)

IMPRESSUM. Landeskriminalamt Baden-Württemberg Taubenheimstraße Stuttgart

INHALT. 2 Wirtschaftskriminalität Bundeslagebild Vorbemerkung 3. 2 Darstellung und Bewertung der Kriminalitätslage 4

Menschenhandel als politisches und strafrechtliches Problem

Kinderhandel und Kinderprostitution im Land Bremen

Strafrecht Besonderer Teil Band 2: Vermögensdelikte

Strafvollzugsrecht (5) Dr. Michael Kilchling

Kriminalität und soziale Kontrolle

Mag. Andreas WIESELTHALER, MSc Direktor

Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage zur schriftlichen

Eigenerklärung zur Eignung Teilnahmewettbewerb

Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 6

Dr. Michael Kilchling Strafvollzugsrecht (5)

ix-edition Computer-Forensik Computerstraftaten erkennen, ermitteln, aufklären von Alexander Geschonneck 5., akt. u. erw. Aufl. dpunkt.

Dorothee Krutisch. Strafbarkeit des unberechtigten Zugangs zu Computerdaten und -Systemen. PETER LANG Europäischer Verlag der Wissenschaften

Verhältnis und Abgrenzung zwischen Steuerhinterziehung und Betrug

Ulrike Suendorf. Geldwäsche. Eine kriminologische Untersuchung. Luchterhand

Besonders schwere Fälle des Betrugs 263 Abs. 3 StGB Strafzumessungsregelung Regelbeispiele für das Vorliegen eines besonders schweren Falls

Straffälligkeit im Alter: Erscheinungsformen und Ausmaße

Arbeitsrechtliche Grenzen bei der Aufklärung von Compliance-Verstößen ZAAR-Vortragsreihe. Dr. Mark Zimmer München, 22. April 2010

Strafrecht und Organisierte Kriminalität

Dr. Michael Kilchling. Jugendstrafrecht 2. Bildnachweis: Oliver Lang/dapd. Bildnachweis: police media press

Korruption und Untreue im öffentlichen Dienst

Polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungstätigkeit Machtzuwachs und Kontrollverlust

Inhaltsübersicht. Abkürzungsverzeichnis. Literaturverzeichnis. Materialienverzeichnis. Gesetzesverzeichnis. Einleitung 1

Konsequenzen illegalen Sprayens

Inhaltsverzeichnis.

Der Tatbestand der Geldwäsche ( 261 StGB)

Nicole Geffers. Die Bedeutung des 134 BGB für die Tathandlungen der Vermögensdelikte im Strafgesetzbuch

Transkript:

Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 5 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 1

1.3. Wirtschaftskriminalität Fragestellungen: Begriff, Merkmale, Definition Gesetzgebung im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts Zentrale Muster der Wirtschaftskriminalität Umfang, Entwicklung, Struktur Bezüge zur Organisierten Kriminalität Erklärungsansätze (Kriminalitätstheorien) Strafrechtliche Kontrolle der Wirtschaftskriminalität Alternative Kontrollstrategien Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 2

Begriff der Wirtschaftskriminalität Ursprünglicher Begriff: Weiße-Kragen-Kriminalität Sutherland 1949: White collar crime ist "crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation" Gegensatz: Blue collar crime (Kriminalität der Arbeiter) Ursprüngliche Herkunft: Klassentheorie Moderne Begrifflichkeiten: Wirtschafts-/Unternehmenskriminalität (economic crime, corporate crime) Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben/der Berufsausübung (occupational crime) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 3

Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität Wirtschaftskriminalität wird in höheren sozialen Schichten begangen (Schicht und Kriminalität) Wirtschaftskriminalität wird von älteren Menschen begangen (Alter und Kriminalität) Keine deutliche Typisierung des Unrechts möglich Grenzen zwischen legalen und illegalen Aktivitäten häufig fließend Schnittstellen/Bezüge zur Organisierten Kriminalität Besondere Bedeutung der Freiheitsstrafe kurzer Freiheitsentzug soll bei Wirtschaftsstraftätern präventiv wirken Widerspruch zu 47 StGB, kurze Freiheitsstrafen wegen stigmatisierender und entsozialisierender Wirkung des Gefängnisses zu vermeiden U-Haft? Besondere Haftempfindlichkeit? Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 4

Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität www.wiwo.de/unternehmen-maerkte/nadelstreifen-hinter-gittern-managerberichten-aus-dem-knast-376054/ Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 5

Merkmale von Wirtschaftskriminalität Unternehmen/Organisation wirtschaftliche Betätigung und Marktbezug im Grundsatz legitime wirtschaftliche Betätigung berufliche Rolle Vertrauensmissbrauch Kollektivität und Anonymität des Opfers "sich verflüchtigende" Opfereigenschaft geringe Sichtbarkeit des Rechtsbruchs illegale Formen der Einflussnahme (z.b. Korruption) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 6

Definition der Wirtschaftskriminalität Definition bereitet Schwierigkeiten Vielfältigkeit der Sachverhalte Komplexität der Delikte Betroffenheit unterschiedlicher, oft kollektiver und abstrakter Rechtsgüter Unübersichtliche Regulierung (es gibt kein 'Wirtschaftsstrafgesetzbuch') Pragmatische Einordnung auf der Grundlage von 74c GVG Zuweisung der Wirtschaftskriminalität an besondere Schwerpunktstaatsanwaltschaften und besondere Wirtschaftsstrafkammern Deliktskatalog (Nr. 1 bis 6b) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 7

Polizeiliches Registrierungssystem (Basis 74c GVG) 1. Finanzierungsdelikte 2. Betrug und Untreue im Zusammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen 3. Arbeitsdelikte 4. Wettbewerbsdelikte 5. Insolvenzdelikte 6. Gesundheitsdelikte Abrechnungsbetrug Vgl. BKA, Lagebild Wirtschaftskriminaliät 2010 Einige wichtige Bereiche werden separat erhoben, z.b.: Computerkriminalität Lagebilder IuK-Kriminaliät (2008/09) bzw. Cybercrime (2010) Umweltdelikte PKS Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 8

Wirtschaftsstrafgesetzgebung Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1. WiKG) 1976 Subventions- und Kreditbetrug; Insolvenzdelikte ( 283); Wucher ( 291) Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG) 1986 Computerstrafrecht; Kapitalanlagebetrug ( 264a); Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt ( 266a); Mißbrauch von Scheck- und Kreditkarten ( 266b); Fälschung von Vordrucken für Euroschecks und Euroscheckkarten ( 152a); Betriebsspionage und progressive Kundenwerbung (UWG) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 9

Wirtschaftsstrafgesetzgebung Gesetz zur Bekämpfung von Korruption 1997 Neuer 26. Abschnitt: Straftaten gegen den Wettbewerb; Ausschreibungs- Submissionsbetrug ( 298); Bestechung im Geschäftsverkehr ( 299, früher 12 UWG) Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz 2001 Steuerhinterziehung als Vortat der Geldwäsche (vgl. 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 u. S. 3) Deutscher Corporate Governance Kodex 2010 Soft law, eigentlich sog. Best Practices Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 10

Wirtschaftsstrafgesetzgebung Trend zum ungenauen Strafrecht Teilweise sehr weit gefasste Tatbestände Extensive Auslegung durch die Rechtsprechung Aktuelles Beispiel: Untreue Auffangtatbestand für vielfältige Sachverhalte: Bestechung, schwarze Kassen, verdeckte Parteispenden, überhöhte Managerbezüge (Provisionen, Gratifikationen, Boni, Abfindungen, Antrittsprämien), Zahlung unangemessener Preise, zweckwidrige Verwendung von Subventionen oder Forschungsgeldern, Erstattung von Geldstrafen/ Geldbußen/Verteidigerhonoraren, (Sport-) Sponsoring, [Pharma-Marketing; dazu jetzt aber ablehnend Großer Senat des BGH v. 22.6.2012, Az.: GSSt 2/11], riskante Geschäfte oder Kreditvergaben,.. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 11

Wirtschaftsstrafgesetzgebung Trend zum ungenauen Strafrecht Einschränkend jetzt BVerfG vom 23.6.2010 (2 BvR 491/09, 2 BvR 105/09, 2 BvR 2559/08): Konkrete Schadensfeststellung erforderlich Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 12

Grundannahmen zur Wirtschaftskriminalität Das Wirtschaftsleben ist durch zahlreiche Normbrüche und kriminelle Karrieren geprägt Wirtschaftsunternehmen erhalten durch die Globalisierung eine stärker werdende Position gegenüber dem Nationalstaat Steuerung durch nationales Recht wird schwieriger Verfolgung und Ahndung von Straftaten in Unternehmen und durch Unternehmen fallen defizitär aus Wirtschaftskriminalität verursacht enorme materielle und immaterielle Schäden Die empirische Untersuchung der Wirtschaftskriminalität ist mit Problemen des Zugangs zu verlässlichen Daten konfrontiert Es bestehen empirisch belangvolle und theoretisch bedeutsame Verbindungen zwischen Organisierter Kriminalität und Wirtschaftskriminalität Organisierte Wirtschaftskrim. gilt als "Kriminalität der Zukunft" Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 13

Zentrale Muster Drei zentrale Muster der Wirtschaftskriminalität: 1. Betrug Subventions-, Steuer-, Kredit-/Kreditkarten-, Anlage-, und Konkursbetrug 2. Wirtschaftskorruption 3. Umgehung von kostensteigernden bzw. profitreduzierenden Regulierungen, die zum Schutze menschlicher, sozialer und natürlicher Ressourcen eingeführt worden sind z.b. illegale (Ausländer-) Beschäftigung, illegale Abfallentsorgung und andere Formen von Umweltkriminalität Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 14

Empirische Zugänge und methodische Probleme Hellfeld: Polizei- und Justizstatistiken Problem der Kontrollkriminalität und Abhängigkeit der Daten von den Strafverfolgungsressourcen Dunkelfeld: Experteneinschätzungen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 15

Umfang, Entwicklung und Struktur Wirtschaftskriminalität ist Kontrollkriminalität Polizeilich registrierte Wirtschaftskriminalität macht derzeit etwa 1,7 % aller registrierten Straftaten aus Der Schaden polizeilich registrierter Wirtschaftskriminalität liegt im Milliardenbereich: 2006: ca. 4,3 Mrd. 2007: ca. 4,1 Mrd. 2008: ca. 3,4 Mrd. 2009: ca. 3,4 Mrd. 2010: ca. 4,7 Mrd. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 16

Umfang, Entwicklung und Struktur 120000 100000 80000 60000 40000 20000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 17 2010

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 18

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 19

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 20

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 21

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 22

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 23

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 24

Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 25

Weitere Befunde zur Wirtschaftskriminalität KPMG-Studie 2006: Dunkelfeld der Wirtschaftskriminalität 80 % Unternehmen auch häufig als Opfer ('corporate victims'): 55 % der großen, 31 % der mittleren und 19 % der kleineren Unternehmen wurden in den letzten drei Jahren Opfer wirtschaftskrimineller Handlungen www.kpmg.de/presse/3021.htm Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 26

Weitere Befunde zur Wirtschaftskriminalität Hohe Zahl von Einzelfällen pro Verfahren (und hohe Zahl von Opfern)» Fall 'Heros' mit ca. 1.800 geschädigten Firmen Hoher (durchschittlicher) Schaden, verglichen mit konventioneller (Eigentums-) Kriminalität Zentrales Delikt: Betrug» Fall 'Heros': ca. 500 Mio.» Fall 'Flowtex': ca. 2,35 Mrd. Häufiges Auftreten von Gesellschaften (GmbH, etc.) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 27

Einzelbereich: Europäischer Subventionsbetrug Subventionen aller Art gelten traditionell als hoch kriminogener Bereich EU Haushalt ( 126,5 Mrd.) ist wesentlich bestimmt durch Subventionsmittel (Agrar- und Struktursubventionen, Heranführungshilfen, u.a.) Bei der Europäischen Anti-Betrugsbehörde OLAF waren 2010 insgesamt 493 Ermittlungsverfahren mit einem Schadensvolumen von 1,8 Mrd. registriert (ca. 1,3 % des Haushalts) Dabei handelt es sich um sog. Kontrollkriminalität, bei national eher gering ausgeprägtem Interesse an Kontrolle http://ec.europa.eu/anti_fraud/media-corner/pressreleases/press-releases/2011/20111019_01_en.htm Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 28

Bezüge zur Organisierten Kriminalität Organisation Theorie des rationalen Akteurs Gelegenheitsstrukturen und Schwarzmärkte Schattenwirtschaften Reduzierung des Strafverfolgungsrisikos Korruption Geldwäsche Vermischung von (legalen) Wirtschaftsunternehmen und O.K. Ausnutzung/Unterwanderung (legale Fassade) Kollusives Zusammenwirken Wirtschaftsunternehmen als Re-Investitionsbasis für O.K. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 29

Bezüge zu den Kriminalitätstheorien Individuelle Kriminalitätstheorien Persönlichkeit Rational choice Theorie der (differenziellen) Gelegenheiten Theorie der Subkultur in Wirtschaftssystemen Spiraltheorien Anomietheorie Kontrolltheorie der Wirtschaftskriminalität (analog zur individualistischen Kontrolltheorie) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 30

Strafrechtliche Kontrolle der Wirtschaftskriminalität Besonderheiten der Strafverfolgung im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts: Hohe Einstellungsquote Geringe Verurteilungsquote Gestiegenes öffentliches Interesse Teilweise exemplarische Strafen (Beispiel: Flowtex) Komplexe Sachverhalte Lange Verfahrensdauer Konsensuale Verfahrensformen (Absprachen/"Deals"; dazu jetzt 257c StPO, eingef. d. das VerstStVfÄndG 2009) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 31

Strafrechtliche Kontrolle der Wirtschaftskriminalität (Internationale) Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht: Erweiterung der Fahrlässigkeitshaftung Strict liability Anzeigepflichten Unternehmensstrafbarkeit besondere Sanktionen, z.b.» Ausschluss» Aufsicht/Zwangsverwaltung» (Zeitiges) Tätigkeitsverbot» Auflösung und Einziehung des Firmenvermögens Finanzermittlungen und Gewinnabschöpfung Beispiel: Siemens Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 32

Exkurs: Sanktionen gegen juristische Personen Politische Zielsetzung der Europäischen Union Argumente pro: Mangelnde strafrechtliche Zurechenbarkeit von Individualverantwortlichkeit aufgrund moderner Verbandsorganisation Mangelnde Beweisbarkeit individueller Tatbegehung infolge Verbandsorganisation Präventive Unzulänglichkeit der Individualstrafe Präventive Unzulänglichkeit nichtstrafrechtlicher Verbandssanktionen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 33

Exkurs: Sanktionen gegen juristische Personen Politische Zielsetzung der Europäischen Union Argumente contra: Unvereinbarkeit mit Schuldprinzip Personaler (höchstpersönlicher) Charakter strafrechtlicher Sanktionen Die juristische Person wird für individuelles Verschulden ihres Personals in Haftung genommen Doppelbestrafung (tatbeteiligte Betriebsangehörige) Mitbestrafung Unschuldiger (sonstige Betriebsangehörige) Evtl. würden auch die finanziellen Interessen von gänzlich unbeteiligten Dritten (Aktionären/Anteilseignern) mit getroffen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 34