Dr. Michael Kilchling Kriminologie II 5 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 1
1.3. Wirtschaftskriminalität Fragestellungen: Begriff, Merkmale, Definition Gesetzgebung im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts Zentrale Muster der Wirtschaftskriminalität Umfang, Entwicklung, Struktur Bezüge zur Organisierten Kriminalität Erklärungsansätze (Kriminalitätstheorien) Strafrechtliche Kontrolle der Wirtschaftskriminalität Alternative Kontrollstrategien Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 2
Begriff der Wirtschaftskriminalität Ursprünglicher Begriff: Weiße-Kragen-Kriminalität Sutherland 1949: White collar crime ist "crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation" Gegensatz: Blue collar crime (Kriminalität der Arbeiter) Ursprüngliche Herkunft: Klassentheorie Moderne Begrifflichkeiten: Wirtschafts-/Unternehmenskriminalität (economic crime, corporate crime) Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben/der Berufsausübung (occupational crime) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 3
Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität Wirtschaftskriminalität wird in höheren sozialen Schichten begangen (Schicht und Kriminalität) Wirtschaftskriminalität wird von älteren Menschen begangen (Alter und Kriminalität) Keine deutliche Typisierung des Unrechts möglich Grenzen zwischen legalen und illegalen Aktivitäten häufig fließend Schnittstellen/Bezüge zur Organisierten Kriminalität Besondere Bedeutung der Freiheitsstrafe kurzer Freiheitsentzug soll bei Wirtschaftsstraftätern präventiv wirken Widerspruch zu 47 StGB, kurze Freiheitsstrafen wegen stigmatisierender und entsozialisierender Wirkung des Gefängnisses zu vermeiden U-Haft? Besondere Haftempfindlichkeit? Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 4
Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität www.wiwo.de/unternehmen-maerkte/nadelstreifen-hinter-gittern-managerberichten-aus-dem-knast-376054/ Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 5
Merkmale von Wirtschaftskriminalität Unternehmen/Organisation wirtschaftliche Betätigung und Marktbezug im Grundsatz legitime wirtschaftliche Betätigung berufliche Rolle Vertrauensmissbrauch Kollektivität und Anonymität des Opfers "sich verflüchtigende" Opfereigenschaft geringe Sichtbarkeit des Rechtsbruchs illegale Formen der Einflussnahme (z.b. Korruption) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 6
Definition der Wirtschaftskriminalität Definition bereitet Schwierigkeiten Vielfältigkeit der Sachverhalte Komplexität der Delikte Betroffenheit unterschiedlicher, oft kollektiver und abstrakter Rechtsgüter Unübersichtliche Regulierung (es gibt kein 'Wirtschaftsstrafgesetzbuch') Pragmatische Einordnung auf der Grundlage von 74c GVG Zuweisung der Wirtschaftskriminalität an besondere Schwerpunktstaatsanwaltschaften und besondere Wirtschaftsstrafkammern Deliktskatalog (Nr. 1 bis 6b) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 7
Polizeiliches Registrierungssystem (Basis 74c GVG) 1. Finanzierungsdelikte 2. Betrug und Untreue im Zusammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen 3. Arbeitsdelikte 4. Wettbewerbsdelikte 5. Insolvenzdelikte 6. Gesundheitsdelikte Abrechnungsbetrug Vgl. BKA, Lagebild Wirtschaftskriminaliät 2010 Einige wichtige Bereiche werden separat erhoben, z.b.: Computerkriminalität Lagebilder IuK-Kriminaliät (2008/09) bzw. Cybercrime (2010) Umweltdelikte PKS Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 8
Wirtschaftsstrafgesetzgebung Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1. WiKG) 1976 Subventions- und Kreditbetrug; Insolvenzdelikte ( 283); Wucher ( 291) Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG) 1986 Computerstrafrecht; Kapitalanlagebetrug ( 264a); Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt ( 266a); Mißbrauch von Scheck- und Kreditkarten ( 266b); Fälschung von Vordrucken für Euroschecks und Euroscheckkarten ( 152a); Betriebsspionage und progressive Kundenwerbung (UWG) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 9
Wirtschaftsstrafgesetzgebung Gesetz zur Bekämpfung von Korruption 1997 Neuer 26. Abschnitt: Straftaten gegen den Wettbewerb; Ausschreibungs- Submissionsbetrug ( 298); Bestechung im Geschäftsverkehr ( 299, früher 12 UWG) Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz 2001 Steuerhinterziehung als Vortat der Geldwäsche (vgl. 261 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 u. S. 3) Deutscher Corporate Governance Kodex 2010 Soft law, eigentlich sog. Best Practices Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 10
Wirtschaftsstrafgesetzgebung Trend zum ungenauen Strafrecht Teilweise sehr weit gefasste Tatbestände Extensive Auslegung durch die Rechtsprechung Aktuelles Beispiel: Untreue Auffangtatbestand für vielfältige Sachverhalte: Bestechung, schwarze Kassen, verdeckte Parteispenden, überhöhte Managerbezüge (Provisionen, Gratifikationen, Boni, Abfindungen, Antrittsprämien), Zahlung unangemessener Preise, zweckwidrige Verwendung von Subventionen oder Forschungsgeldern, Erstattung von Geldstrafen/ Geldbußen/Verteidigerhonoraren, (Sport-) Sponsoring, [Pharma-Marketing; dazu jetzt aber ablehnend Großer Senat des BGH v. 22.6.2012, Az.: GSSt 2/11], riskante Geschäfte oder Kreditvergaben,.. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 11
Wirtschaftsstrafgesetzgebung Trend zum ungenauen Strafrecht Einschränkend jetzt BVerfG vom 23.6.2010 (2 BvR 491/09, 2 BvR 105/09, 2 BvR 2559/08): Konkrete Schadensfeststellung erforderlich Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 12
Grundannahmen zur Wirtschaftskriminalität Das Wirtschaftsleben ist durch zahlreiche Normbrüche und kriminelle Karrieren geprägt Wirtschaftsunternehmen erhalten durch die Globalisierung eine stärker werdende Position gegenüber dem Nationalstaat Steuerung durch nationales Recht wird schwieriger Verfolgung und Ahndung von Straftaten in Unternehmen und durch Unternehmen fallen defizitär aus Wirtschaftskriminalität verursacht enorme materielle und immaterielle Schäden Die empirische Untersuchung der Wirtschaftskriminalität ist mit Problemen des Zugangs zu verlässlichen Daten konfrontiert Es bestehen empirisch belangvolle und theoretisch bedeutsame Verbindungen zwischen Organisierter Kriminalität und Wirtschaftskriminalität Organisierte Wirtschaftskrim. gilt als "Kriminalität der Zukunft" Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 13
Zentrale Muster Drei zentrale Muster der Wirtschaftskriminalität: 1. Betrug Subventions-, Steuer-, Kredit-/Kreditkarten-, Anlage-, und Konkursbetrug 2. Wirtschaftskorruption 3. Umgehung von kostensteigernden bzw. profitreduzierenden Regulierungen, die zum Schutze menschlicher, sozialer und natürlicher Ressourcen eingeführt worden sind z.b. illegale (Ausländer-) Beschäftigung, illegale Abfallentsorgung und andere Formen von Umweltkriminalität Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 14
Empirische Zugänge und methodische Probleme Hellfeld: Polizei- und Justizstatistiken Problem der Kontrollkriminalität und Abhängigkeit der Daten von den Strafverfolgungsressourcen Dunkelfeld: Experteneinschätzungen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 15
Umfang, Entwicklung und Struktur Wirtschaftskriminalität ist Kontrollkriminalität Polizeilich registrierte Wirtschaftskriminalität macht derzeit etwa 1,7 % aller registrierten Straftaten aus Der Schaden polizeilich registrierter Wirtschaftskriminalität liegt im Milliardenbereich: 2006: ca. 4,3 Mrd. 2007: ca. 4,1 Mrd. 2008: ca. 3,4 Mrd. 2009: ca. 3,4 Mrd. 2010: ca. 4,7 Mrd. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 16
Umfang, Entwicklung und Struktur 120000 100000 80000 60000 40000 20000 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 17 2010
Umfang, Entwicklung und Struktur Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 18
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Weitere Befunde zur Wirtschaftskriminalität KPMG-Studie 2006: Dunkelfeld der Wirtschaftskriminalität 80 % Unternehmen auch häufig als Opfer ('corporate victims'): 55 % der großen, 31 % der mittleren und 19 % der kleineren Unternehmen wurden in den letzten drei Jahren Opfer wirtschaftskrimineller Handlungen www.kpmg.de/presse/3021.htm Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 26
Weitere Befunde zur Wirtschaftskriminalität Hohe Zahl von Einzelfällen pro Verfahren (und hohe Zahl von Opfern)» Fall 'Heros' mit ca. 1.800 geschädigten Firmen Hoher (durchschittlicher) Schaden, verglichen mit konventioneller (Eigentums-) Kriminalität Zentrales Delikt: Betrug» Fall 'Heros': ca. 500 Mio.» Fall 'Flowtex': ca. 2,35 Mrd. Häufiges Auftreten von Gesellschaften (GmbH, etc.) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 27
Einzelbereich: Europäischer Subventionsbetrug Subventionen aller Art gelten traditionell als hoch kriminogener Bereich EU Haushalt ( 126,5 Mrd.) ist wesentlich bestimmt durch Subventionsmittel (Agrar- und Struktursubventionen, Heranführungshilfen, u.a.) Bei der Europäischen Anti-Betrugsbehörde OLAF waren 2010 insgesamt 493 Ermittlungsverfahren mit einem Schadensvolumen von 1,8 Mrd. registriert (ca. 1,3 % des Haushalts) Dabei handelt es sich um sog. Kontrollkriminalität, bei national eher gering ausgeprägtem Interesse an Kontrolle http://ec.europa.eu/anti_fraud/media-corner/pressreleases/press-releases/2011/20111019_01_en.htm Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 28
Bezüge zur Organisierten Kriminalität Organisation Theorie des rationalen Akteurs Gelegenheitsstrukturen und Schwarzmärkte Schattenwirtschaften Reduzierung des Strafverfolgungsrisikos Korruption Geldwäsche Vermischung von (legalen) Wirtschaftsunternehmen und O.K. Ausnutzung/Unterwanderung (legale Fassade) Kollusives Zusammenwirken Wirtschaftsunternehmen als Re-Investitionsbasis für O.K. Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 29
Bezüge zu den Kriminalitätstheorien Individuelle Kriminalitätstheorien Persönlichkeit Rational choice Theorie der (differenziellen) Gelegenheiten Theorie der Subkultur in Wirtschaftssystemen Spiraltheorien Anomietheorie Kontrolltheorie der Wirtschaftskriminalität (analog zur individualistischen Kontrolltheorie) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 30
Strafrechtliche Kontrolle der Wirtschaftskriminalität Besonderheiten der Strafverfolgung im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts: Hohe Einstellungsquote Geringe Verurteilungsquote Gestiegenes öffentliches Interesse Teilweise exemplarische Strafen (Beispiel: Flowtex) Komplexe Sachverhalte Lange Verfahrensdauer Konsensuale Verfahrensformen (Absprachen/"Deals"; dazu jetzt 257c StPO, eingef. d. das VerstStVfÄndG 2009) Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 31
Strafrechtliche Kontrolle der Wirtschaftskriminalität (Internationale) Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht: Erweiterung der Fahrlässigkeitshaftung Strict liability Anzeigepflichten Unternehmensstrafbarkeit besondere Sanktionen, z.b.» Ausschluss» Aufsicht/Zwangsverwaltung» (Zeitiges) Tätigkeitsverbot» Auflösung und Einziehung des Firmenvermögens Finanzermittlungen und Gewinnabschöpfung Beispiel: Siemens Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 32
Exkurs: Sanktionen gegen juristische Personen Politische Zielsetzung der Europäischen Union Argumente pro: Mangelnde strafrechtliche Zurechenbarkeit von Individualverantwortlichkeit aufgrund moderner Verbandsorganisation Mangelnde Beweisbarkeit individueller Tatbegehung infolge Verbandsorganisation Präventive Unzulänglichkeit der Individualstrafe Präventive Unzulänglichkeit nichtstrafrechtlicher Verbandssanktionen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 33
Exkurs: Sanktionen gegen juristische Personen Politische Zielsetzung der Europäischen Union Argumente contra: Unvereinbarkeit mit Schuldprinzip Personaler (höchstpersönlicher) Charakter strafrechtlicher Sanktionen Die juristische Person wird für individuelles Verschulden ihres Personals in Haftung genommen Doppelbestrafung (tatbeteiligte Betriebsangehörige) Mitbestrafung Unschuldiger (sonstige Betriebsangehörige) Evtl. würden auch die finanziellen Interessen von gänzlich unbeteiligten Dritten (Aktionären/Anteilseignern) mit getroffen Michael Kilchling Vorlesung Kriminologie II SS 2012 34