Was ist der Vegetative Zustand?

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Transkript:

Was ist der Vegetative Zustand? Prof. Dr. Boris Kotchoubey Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, Universität Tübingen; boris.kotchoubey@uni-tuebingen.de Definition Vegetativer Zustand (Synonyme: Wachkoma, apallisches Syndrom, seit kurzem auch areaktiver Wachzustand ) wird theoretisch definiert als der Zustand, in dem die physiologischen Grundfunktionen eines Patienten (Atem, Blutzirkulation), Reflexe und der Schlaf-Wachheit-Zyklus erhalten sind, aber jegliche Anzeichen des subjektiven Bewusstseins (Erlebens) über sich selbst oder die Welt sowie jegliche Anzeichen von Sprachverständnis oder von absichtlichen Handlungen vollständig fehlen. Leider haben all diese Begriffe Nachteile: Der ursprüngliche Begriff apallisches Syndrom (Ernst Kretschmer 1940) ist falsch, da apallisch auf Griechisch ohne Hirnrinde bedeutet, aber die entsprechenden Patienten sind nicht dekortiziert; Wachkoma weckt unpassende Assoziationen mit Koma, obwohl die neurophysiologischen Mechanismen beim Koma und Wachkoma sehr unterschiedlich sind; vegetativer Zustand hat eine abwertende Konnotation (der Patient sei eine Pflanze ); und beim areaktiven Zustand muss man richtig verstehen, welche Reaktionen fehlen. Das Problem der Definition von VS ist: Sie bezieht sich auf das subjektive Bewusstsein, d.h. das Erste-Person-Phänomen, das nicht von außen direkt erfassbar ist. Tatsächlich können die Neurologen natürlich nicht das Bewusstsein an sich diagnostizieren sondern seine Korrelate in äußeren Reaktionen des Patienten. Dafür wurden einige mehr oder weniger standardisierte Prozeduren entwickelt (Disability Rating Scale nach Rappoport, JFK Coma Disability Scale nach Giacino, Levels-of- Consciousness Scale nach Ellwanger usw.). Für eine VS-Diagnose müssen sämtliche Hinweise auf bewusste Wahrnehmung bzw. absichtliche Bewegungen vollständig fehlen. Gibt es nur schwache oder labile Hinweise solcher Art, so befinde sich der Patient nicht mehr im VS sondern im sog. Zustand des minimalen Bewusstseins (engl. MCS, minimally conscious state). Das ist eine andere diagnostische Kategorie! Die problematische Definition des VS resultiert in einer hohen Fehlerrate, s.u. 1

Häufigkeit und Ablauf Die Prävalenz des VS in Industrieländern wird auf ca. 10 bis 100 pro 1000000 geschätzt. VS ist immer ein chronischer Zustand und entsteht (in der Regel) als eine der drei möglichen Folgen eines Komas (die anderen zwei sind Aufwachen und Tod). Die häufigsten Ursachen des zum VS führenden Komas sind: Schädel-Hirn- Verletzung, intrakranielle Blutung und Sauerstoffmangel. Von allen Koma- Patienten, die über 6 Stunden lang bewusstlos sind, bleiben ca. 10-15% im VS oder MCS. Je länger ein Patient im VS bleibt, um so weniger wahrscheinlich ist die Wiedererlangung des Bewusstseins und um so schwerer ist der Restschaden (z.b. Lähmungen, Gedächtnisstörungen), wenn der Patient doch zum Bewusstsein kommt. Zuverlässig dokumentiert sind einzelne Fälle der Wiedererlangung des Bewusstseins nach 2 bis 5 Jahren im VS und sogar nach 19 Jahren im MCS. Ob ein Leben danach mit all den schweren verbleibenden Schäden wert ist, ist eine ethische Frage, die nicht mit medizinischen Fragen verwechselt werden darf! Außer der Zeit hängt die Wahrscheinlichkeit des Erwachens vom Alter und von der Ursache ab. Jüngere Patienten haben besser Chancen als ältere. Patienten mit Schädel-Hirn-Verletzungen haben im Verhältnis mit anderen Patienten die besten Chancen auf Besserung ihres Zustandes, Patienten mit hypoxischem Hirnschaden die schlechtesten. Neuropathologie und Therapie Beim traumatischen VS besteht die wichtigste Schädigung in Abriss kortikaler Axonen, d.h. der Verbindungen zwischen den Nervenzellen, währen die Zellen selbst weitgehend erhalten bleiben. Dementsprechend wird behauptet, dass lokale neuronale Verbände in der Hirnrinde funktionsfähig bleiben, aber die globale Vernetzung fehle. Besonders leidet die Verbindung zwischen den Hemisphären, der sog. Corpus callosum. Beim nicht-traumatischen VS leidet am häufigsten der Thalamus und verschiedene Gebiete der Grausubstanz im Kortex. Es gibt bisher keine nachgewiesen wirksame Therapie des VS. Die erste großangelegte kontrollierte Studie läuft gerade in vielen Ländern der Welt, inkl. Deutschland; getestet wird dabei die Wirkung des Amantadin, eines Stoffes, der allgemein die Nervenleitung verbessert. Die Ergebnisse liegen noch nicht vor. 2

Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung Die Untersuchungen mit Hilfe des Elektroenzephalogramms (EEG) und evozierter Potenziale zeigen, dass der Kortex vieler VS-Patienten auf Reize verschiedener Komplexität reagieren kann (d.h. sie sind nicht apallisch, ohne Kortex). Auch Reaktionen auf den Sinn der Wörter sind möglich (indem z.b. das Gehirn auf gut zusammenpassende Wörter Katze-Maus anders reagiert als auf nichtzusammenpassende Stuhl-Maus ). Dies bedeutet aber nicht unbedingt, dass der Patient jene Wörter bewusst versteht, da bekannt ist, dass auch Gesunde die Sprache oft unbewusst wahrnehmen können. Die meisten Ergebnisse der funktionellen Bildgebung (funktionelle Kernspintomographie [fmrt], Positronenemissionstomographie [PET]) stimmen mit denen der EEG-Studien überein. Auch sie zeigen eine funktionelle Reaktivität der Hirnrinde, ohne allerdings das Bewusstsein direkt nachweisen zu können. 2006 konnte Adrian Owen aus der University of Cambridge (Großbritannien) zum ersten Mal nachweisen, dass ein junge Patientin mit VS tatsächlich Bewusstsein hat. Seine Gruppe fand, dass die mentalen Vorstellungen vom Tennisspielen und vom Wandern durch die eigene Wohnung bei jeder gesunden Person zwei völlig unterschiedliche Muster der Hirnaktivität auslösen. Dieselben Aktivierungen wurden auch bei der Patientin gefunden, was darauf hinweist, dass sie Sprache wahrnehmen, Instruktionen verstehen und sie geistig befolgen konnte, was das Bewusstsein voraussetzt. Allerdings erfordert diese Aufgabe viel mehr als bloß Bewusstsein, sonder auch Gedächtnis, Konzentration u.v.a. Das bedeutet, das während der positive Befund bei einem solchen Test das Bewusstsein ohne Zweifel nachweist, beweist ein negativer Befund noch nichts. Auch wenn sich der Patient z.b. auf der Aufgabe nicht konzentrieren kann, bedeutet das nicht, dass bei ihm einfache Bewusstseinsempfindungen (z.b. Schmerz, Lust, Unlust usw.) fehlen. Schmerz und Leiden Die wichtigste ethische Frage ist nicht Können sie denken? oder Können sie uns verstehen? sondern Können sie leiden? sagte Lord Shaftesbury im 18. Jh. über die Tiere. Das stimmt auch bezüglich der neurologischen Patienten. Definitionsgemäß empfinden VS-Patienten kein Leiden und keinen Schmerz, sie 3

können bloß auf Schmerzreize reagieren. Die empirische Basis für diese sehr verbreitete Meinung ist allerdings schmal. Aus der allgemeinen Neurophysiologie wissen wir, dass Schmerzempfindung bei gesunden Menschen mit Aktivierung ganz bestimmter Hirnareale zusammenhängt, die zusammen die sog. Schmerzmatrix des Gehirns bilden. Zwei kleine Studien mit Hilfe von PET haben widersprüchliche Ergebnisse gebracht. Eine Studie mit Hilfe von fmrt zeigt, dass große Teile der Schmerzmatrix auch bei sehr chronischen (5 bis 8 Jahre im VS) Patienten mit hypoxischem Hirnschaden und mit fortgeschrittener Hirnatrophie auf Schmerzreize reagieren. Wie wissen zwar noch zu wenig darüber, ob die Patienten tatsächlich Schmerz erleben können, aber dies ausschließen können wir nicht. Mehr noch: In einem anderen Experiment wurden diesen Patienten nicht Schmerzreize, sondern aufgenommene Schmerzschreie anderer Menschen dargeboten. Auch in diesem Fall haben weite Teile der Schmerzmatrix bei vielen Patienten reagiert. Es kann deshalb sein, dass auch Patienten, bei denen alle wichtigsten Erkenntnisfunktionen (z.b. Gedächtnis, Sprache usw.) abgeschaltet sind, trotzdem auf der emotionalen Ebene (durch Stimme, Berührung, vielleicht Musik) ihre Umwelt wahrnehmen können. Zusammenfassung: Der vegetative Zustand ist ein besonderes Syndrom Obwohl es bei der Diagnose VS um eine Schwere Hirnschädigung geht, besteht das Wesentliche dieser Diagnose nicht an bestimmten Hirnprozessen sondern am Bewusstsein. Und zwar: Die Diagnose ist nur dann korrekt, wenn jegliche Art der bewussten Erlebnis fehlt. Ein endgültiger Beweis dafür ist natürlich sehr schwer zu bringen. Deshalb ist der VS mit seiner diagnostischen Fehlerrate von 30 bis 40% wahrscheinlich das am schwierigsten zu diagnostizierende Syndrom in der Medizin überhaupt. Was bedeutet es, ein Fehler bei der Diagnostik des VS? In einigen seltenen, aber möglichen - Fällen handelt es sich tatsächlich um Patienten im vollen Bewusstsein, die jedoch durch schwere Lähmungen ihren Zustand nicht ausdrücken können und somit fälschlicherweise den Eindruck der Bewusstlosigkeit hinterlassen. Bei solchen Fehlern liegen i.d.regel neben der Lähmung auch schwere Sehstörungen vor, da die Reaktionen des Patienten auf visuelle Reize eine sehr wichtige Rolle bei der neurologischen Diagnostik spielen. 4

Viel häufiger geht es um Zustände, bei denen Patienten in der Tat eine schwere Bewusstseinsstörung haben. Denn eine Bewusstseinsstörung reicht für die Diagnose VS keinesfalls! Die jüngsten Ergebnisse der Bewusstseinsforschung weisen darauf hin, dass das Bewusstsein keine binäre Variable ist (d.h. entweder hat es ein Patient oder er hat es nicht) sondern ein Kontinuum von einer vollständigen Klarheit zu immer dunkleren Gefühlen und Empfindungen. Gerade diese schwachen und tiefen Bewusstseinsschichten sind besonders schwierig objektiv zu erfassen. Was zu tun? 1. Immer an die Möglichkeit (und relativ hohe Wahrscheinlichkeit) einer Fehldiagnose denken. Seine Gewissheit nicht überschätzen. 2. Neben den klinischen Daten nach Möglichkeit auch neurophysiologische Befunde ins Entscheidungstreffen einbeziehen. Zwar kann der Fehler nicht ausgeschlossen werden, doch seine Wahrscheinlichkeit kann vermindert werden, wenn alle folgenden Kriterien vorliegen: a. das EEG ist von sehr langsamen Frequenzen (unten 3 Hz) beherrscht; b. computertomographische und kernspintomographische Bilder zeigen eine starke Atrophie der Hirnrinde; c. sowohl das EEG als auch die Bildgebung weist keine Reaktionen auf komplexe Reize hin. 3. Beim Verdacht auf, und insbesondere bei einem sicheren Befund einer Sehstörung ist eine extreme Vorsicht vonnöten. Wenn sowohl das Bewusstsein als auch das Sehvermögen gestört sind, ist die zuverlässige Diagnostik der beiden Funktionen besonders verwickelt. Weiter lesen: Mein Artikel Vegetative State wurde im August 2008 veröffentlicht: Encyclopedia of neuroscience, 4.Edition, Herausgeber L. Squire, Bd. 10, Oxford, Academic Press, S.61-66. Dort gibt es auch Hinweise auf weiterempfohlene Literatur. 5