Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit



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Transkript:

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit Prof. Dr. iur. Thomas Gächter, Zürich und Luzern Inhaltsverzeichnis I. Einleitung und Problemstellung II. Bedeutung der Qualifikation als selbstständige und unselbstständige Erwerbstätigkeit a) Grundproblem b) «Klassenversicherungen» für Arbeitnehmende III. Bedeutung des Themas für KMU 1. Ausgangspunkt 2. Typische Problemkonstellationen a) Telefon-Verkäuferinnen b) Webdesignerin c) Überführung der Einzelfirma in eine AG oder GmbH IV. Abgrenzungskriterien 1. Erwerbstätigkeit 2. Unselbstständige Erwerbstätigkeit 3. Selbstständige Erwerbstätigkeit 4. Systematik der Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit a) Tätigkeitsspezifische Bestimmung des Beitragsstatuts b) Abwägung der Kriterien und weiterer Indizien c) Tendenzen in der Abgrenzungspraxis V. Exkurs: Hilft die europarechtliche Perspektive weiter? 1. Freizügigkeitsabkommen und koordinierendes europäisches Sozialrecht 2. Insbesondere Arbeitnehmer und Selbstständigerwerbende i.s. der VO 1408/71 VI. Beispiele 1. Telefon-Verkäuferinnen 2. Webdesignerin a) Qualifikation der Tätigkeit b) Entscheid über das Beitragsstatut 3. Überführung der Einzelfirma in eine AG oder GmbH VII. Schlussbetrachtung

2 Thomas Gächter I. Einleitung und Problemstellung Wer sich selbstständig machen will, wer eine neue Arbeitsstelle sucht oder wer für seinen eigenen Betrieb Arbeitskräfte gewinnen möchte, hat eine Vielzahl von Dingen zu berücksichtigen; nur selten stehen bei den Überlegungen aber die Fragen des Sozialversicherungsrechts im Vordergrund. Das ist auch richtig so, denn das Sozialversicherungsrecht will nur für die gewählte wirtschaftliche Betätigungsform einen adäquaten Sozialschutz gewährleisten, nicht das wirtschaftliche Verhalten steuern. Gleichwohl sind es die sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen von Entscheidungen, die in der Folge von einiger Bedeutung sind; und zwar für Selbstständige, für Arbeitgeber wie auch für Arbeitnehmer. Insbesondere bei der Gründung einer Unternehmung oder bei der Ausweitung von deren Tätigkeit (d.h. bei der Beschäftigung weiterer Personen für das Unternehmen) stellt sich immer wieder die gleiche Frage: Wie ist die Erwerbstätigkeit der Unternehmerin oder des Unternehmers, wie ist diejenige der Personen, die ebenfalls Arbeitskraft ins Unternehmen einbringen, sozialversicherungsrechtlich zu qualifizieren? Handelt es sich um eine selbstständige oder um eine unselbstständige Tätigkeit? Im Folgenden wird zunächst auf die grundlegende Bedeutung dieser Unterscheidung im schweizerischen Sozialversicherungsrecht eingegangen (II.), bevor die Bedeutung der Fragestellung für KMU anhand einiger Beispiele erläutert wird (III.). In der Folge wird die Praxis zur Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit kurz dargelegt (IV.), bevor die bereits vorgestellten Beispiele mit Blick auf die herrschende Lehre und Praxis gelöst werden (VI). II. Bedeutung der Qualifikation als selbstständige und unselbstständige Erwerbstätigkeit a) Grundproblem Das schweizerische AHV-Recht, das in verschiedener Hinsicht die Leitordnung für das gesamte Sozialversicherungsrecht darstellt, kennt drei unter-

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 3 schiedliche Beitragsstatute: Nichterwerbstätigkeit, unselbstständige Erwerbstätigkeit und selbstständige Erwerbstätigkeit. Diese Dreiteilung der Versicherten ist abschliessend. Im Gegensatz zu ausländischen Systemen wird bei den Erwerbstätigen lediglich zwischen Selbstständigen und Unselbstständigen unterschieden. Zwischenkategorien wie Gewerbetreibende, neue Selbstständige, Künstler oder Freiberufler, wie sie in den Nachbarländern Deutschland und Österreich vorkommen, gibt es nicht. Das Schema der Zweiteilung innerhalb der Erwerbstätigen zwischen Selbstständigen und Unselbstständigen nimmt auf der Ebene der Unterstellung grundsätzlich keine weitere Rücksicht auf die sozioökonomische Schutzbedürftigkeit. So sind der Bürogehilfe und der Direktor einer Bank trotz wirtschaftlich unterschiedlicher Verhältnisse als unselbstständig zu qualifizieren. Ebenso untersteht der Strassenmusiker, der sich finanziell knapp über Wasser hält, dem gleichen Sozialversicherungsstatut der Selbstständigkeit wie der selbstständige Staranwalt mit Spitzeneinkommen. Angesichts der grossen Unterschiede innerhalb der verschiedenen Gruppen von Versicherten erstaunt es denn auch nicht, dass die sozialversicherungsrechtliche Unterscheidung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Beschäftigung nicht selten im Widerspruch zu einer ersten intuitiven Einteilung steht. b) «Klassenversicherungen» für Arbeitnehmende In verschiedenen Sozialversicherungszweigen, den so genannten «Klassenversicherungen», sind nur die unselbstständig Erwerbstätigen (Arbeitnehmende) obligatorisch versichert, namentlich in der Arbeitslosenversicherung 1, der beruflichen Vorsorge 2 und der Unfallversicherung. 3 Die kantona- 1 2 Obligatorisch versichert ist, wer sich bis zur Erreichung der AHV-Altersgrenze als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer im Sinn von Art. 10 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) betätigt und massgebenden Lohn im Sinn des AHV-Rechts erzielt; Art. 2 Abs. 2 lit. c des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung vom 25. Juni 1982 (AVIG; SR 837.0). Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 25. Juni 1982 (BVG; SR 831.40).

4 Thomas Gächter len Familienzulageordnungen unterstellen ebenfalls durchgehend die unselbstständig Erwerbstätigen der Versicherung. 4 Vereinzelt findet sich im kantonalen Familienzulagerecht auch ein Obligatorium für Selbstständigerwerbende. 5 Ab dem 1. Januar 2009 werden aufgrund des Eidgenössischen Familienzulagengesetzes (FamZG) 6 einheitlich alle Arbeitnehmenden obligatorisch versichert sein, 7 ebenso die Nichterwerbstätigen in bescheidenen Einkommensverhältnissen. 8 Für die Selbstständigerwerbenden könnten die Kantone die Versicherung ausserhalb der Familienzulagenordnung vorsehen. 9 In schematischer Art und Weise wird damit der erhöhten sozialen Schutzbedürftigkeit der abhängig Beschäftigten Rechnung getragen, indem für sie besondere Versicherungssysteme geschaffen werden, die gegen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Unfall und Berufskrankheit sowie in Vorsorgefällen (Alter, Hinterlassensein, Invalidität) hinreichenden Schutz gewähren. Da von der Qualifikation der Erwerbstätigkeit als selbstständig oder unselbstständig neben dem Schutzniveau auch die Höhe der obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge abhängt, ist die Abgrenzungsfrage oft umstritten. Insbesondere in zwei Grundkonstellationen sind Streitigkeiten besonders häufig: Einerseits in Fällen, in denen sich Arbeitgeber aus wirtschaftlichen Gründen nur möglichst geringe Soziallasten aufbürden und deshalb nur «Selbstständige» beschäftigen wollen, anderseits in Fällen, in denen gut verdienende Personen ihre Tätigkeit zur Ersparnis von Sozialabgaben bzw. zur 3 4 5 6 7 8 9 Art. 1a Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung vom 20. März 1981 (UVG) in Verbindung mit Art. 1 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV; SR 832.202). Zum Ganzen LOCHER, S. 167 ff. Siehe hierzu Bundesamt für Sozialversicherung, Grundzüge der kantonalen Familienzulageordnungen, Stand 1. Januar 2006, S. 11 ff. (zu konsultieren unter <www.bsv.admin.ch/themen/zulagen/00059/00582/index.html?lang=de> [besucht am 13. Oktober 2008]). A.a.O., S. 27 ff. Bundesgesetz vom 24. März 2006 über die Familienzulagen (Familienzulagengesetz, FamZG; SR 836.2). Art. 11 FamZG. Art. 19 FamZG. Art. 3 Abs. 2 FamZG.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 5 freieren Gestaltbarkeit von Versicherungslösungen im Gegensatz zur Verwaltung als selbstständige Erwerbstätigkeit qualifizieren wollen. III. Bedeutung des Themas für KMU 1. Ausgangspunkt Sozialversicherungen, insbesondere die mit den Sozialversicherungen verbundenen Beitragspflichten, werden trotz ihrer weithin anerkannten sozialen Nützlichkeit von den KMU in erster Linie als Last empfunden. Neben den finanziellen Belastungen sind vor allem auch die administrativen Pflichten zu nennen, die Selbstständigen und Arbeitgebern vom System überbunden werden. Allein schon die Frage, welche Vorkehrungen für die korrekte Versicherung sämtlicher Mitarbeiter zu treffen sind, überfordert manchen Unternehmer, der bei einer Unternehmensgründung mit ganz anderen Hindernissen zu kämpfen hat. Der Bund und auch die kantonalen Ausgleichskassen bemühen sich zwar stark, den KMU leicht verständliche und gut zugängliche Informationen anzubieten. Zudem besteht für die Abrechnung geringer Lohnsummen seit dem 1. Januar 2008 auf der Grundlage des Bundesgesetzes gegen die Schwarzarbeit 10 die Möglichkeit der vereinfachten Abrechnung. 11 Gleichwohl fehlt es nicht selten noch am nötigen Wissen. 2. Typische Problemkonstellationen Die soeben abstrakt umschriebenen Problemkonstellationen sollen mit ein paar Beispielen veranschaulicht werden, deren sozialversicherungsrechtliche Lösung im Anschluss an die nachfolgenden Ausführungen zu den Abgrenzungskriterien erläutert wird (VI.). 10 11 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit (Bundesgesetz gegen die Schwarzarbeit, BGSA; SR 822.41). Art. 2 f. BGSA.

6 Thomas Gächter a) Telefon-Verkäuferinnen Herr A kann eine grosse Zahl Satelliten-Navigationsgeräte direkt ab Werk sehr günstig beziehen. Für den Verkauf dieser Geräte möchte er Studentinnen der Uni Luzern als freie Telefon-Verkäuferinnen einsetzen. Gegen einen Pauschalansatz von CHF 50.00 pro Stunde (inkl. Unkosten, Sozialversicherungsabgaben zu Lasten der Studentinnen) sollen diese telefonisch von zu Hause aus mögliche Kunden kontaktieren. Hinsichtlich Zeit und Umfang der Tätigkeit macht er keine Vorgaben; lediglich zur Vermeidung von Mehrfachanrufen teilt er für die insgesamt zehn Studentinnen, die für die Sache gewonnen werden konnten, zehn verschiedene Regionen ein. Handelt es sich bei der Tätigkeit der Studentinnen um eine selbstständige oder um eine unselbstständige Erwerbstätigkeit? b) Webdesignerin Frau B hat ihre Stelle bei einer grossen Firma gekündigt. Sie hat im Rahmen ihrer Tätigkeit den Internetauftritt der Firma gestaltet. Sie möchte künftig ihre Leistung als selbstständige Webdesignerin verschiedenen Firmen zur Verfügung stellen, die selbst über kein entsprechendes Fachwissen verfügen. Ein erster Auftrag ist ihr bereits zugesichert: Eine Gesellschaft möchte sie während rund zweier Monate für den Aufbau des Internetauftritts beschäftigen und bietet ihr dafür eine Pauschalentschädigung von CHF 10'000.00 pro Monat an. Wird sie sozialversicherungsrechtlich als Selbstständige anerkannt werden? c) Überführung der Einzelfirma in eine AG oder GmbH Herr C betreibt als Einzelkaufmann einen Internethandel mit Autoteilen, der unterdessen einen Umsatz von über CHF 500'000.00 pro Jahr abwirft. Er ist überzeugt, dass der Umsatz noch wachsen wird, und überlegt sich, den Betrieb in eine AG oder eine GmbH zu überführen, die er in der ersten Zeit allein führen möchte. Welches wären die sozialversicherungsrechtlichen Konsequenzen eines solchen Schritts?

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 7 IV. Abgrenzungskriterien 1. Erwerbstätigkeit Der Begriff der Erwerbstätigkeit wird weder im ATSG noch in den Einzelgesetzen definiert. Seine praktische Bedeutung ist aber gross, da sich die Antwort auf die Frage, ob eine Person (als Arbeitnehmerin oder Selbstständigerwerbende) erwerbstätig ist oder keine Erwerbstätigkeit ausübt, in der Regel darauf auswirkt, ob und in welcher Sozialversicherung und in welchem Umfang sie beitragspflichtig und versichert ist. 12 Die Qualifikation als «Erwerbstätigkeit» richtet sich in allen Sozialversicherungszweigen nach dem AHV-Recht. Dabei ist unbestritten, dass der Begriff der Erwerbstätigkeit aus AHV-rechtlicher Sicht eigenständig, d.h. ohne direkte Anlehnung an das Privat- oder Steuerrecht definiert werden muss. 13 Erwerbstätig ist nach der Praxis eine Person, die mit dem Ziel handelt, ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen. 14 Der Begriff der Erwerbstätigkeit setzt demnach die Ausübung einer auf die Erzielung von Einkommen gerichteten (persönlichen) Tätigkeit voraus. 15 Als Handlung gilt jede Art von Tätigkeit, insbesondere der Einsatz von Arbeitskraft. 16 Die Handlung muss systematisch und planmässig auf den Zufluss wirtschaftlicher Güter, d.h. auf die Erzielung von Einkommen, gerichtet sein. 17 Für die Beantwortung der Frage, ob Erwerbstätigkeit vorliegt, kommt es jedoch nicht darauf an, ob die betreffende Person eine Erwerbsabsicht für sich in Anspruch nimmt. 18 Diese 12 13 14 15 16 17 18 LOCHER, S. 165. BINSWANGER, S. 34; siehe auch BÖHI, S. 96 f.; KÄSER, Rz. 3.5. BGE 128 V 20 E. 3b; KIESER, Rechtsprechung, S. 21; LOCHER, S. 166. Etwa BGE 128 V 20 E. 3b; 125 V 383 E. 2a. Siehe für die Begründung dieser Voraussetzung aus historischer Sicht BÖHI, S. 89 ff., 92 f.; mit systematischen Erwägungen BINSWANGER, S. 34. GREBER/DUC/SCARTAZZINI, Art. 4 N. 7 ff.; KIESER, Rechtsprechung, S. 21; LOCHER, S. 166 f. Z.B. RIEMER-KAFKA, Rz. 4.25.

8 Thomas Gächter muss vielmehr aufgrund der konkreten wirtschaftlichen Tatsachen nachgewiesen sein. 19 Vor allem in der Gründungsphase von Einzelunternehmungen ist oft noch nicht deutlich, ob es sich bei einer Tätigkeit, die z.b. neben einer anderen begonnen wird, tatsächlich bereits um eine Erwerbstätigkeit im beschriebenen Sinn oder aber um eine blosse Liebhaberei handelt. Spätestens ab dem Zeitpunkt, in dem die Einnahmen die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten und eine gewisse Planmässigkeit aufweisen, ist die Tätigkeit als Erwerbstätigkeit zu betrachten und entweder als selbstständig oder als unselbstständig zu qualifizieren. 2. Unselbstständige Erwerbstätigkeit Als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten Personen, die in unselbstständiger Stellung Arbeit leisten und dafür massgebenden Lohn nach dem jeweiligen Einzelgesetz beziehen (Art. 10 ATSG). Die Gesetzgebung hat der Praxis bei der Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit bewusst einen grossen Spielraum eingeräumt. 20 Auf diese Weise soll auf die Vielfalt der Beschäftigungsformen und veränderte wirtschaftliche Gegebenheiten reagiert werden können. 21 Zudem können insofern «Missbräuche» vermieden werden, als nicht zu Ungunsten von Versicherten, die faktisch unselbstständig sind, eine selbstständige Erwerbstätigkeit angenommen wird. 22 Vor dem In-Kraft-Treten des ATSG liess sich der Arbeitnehmer-Begriff d.h. die Umschreibung der unselbstständigen Tätigkeit im AHV-Recht, welches als sozialversicherungsrechtliche Leitordnung als Ausgangsdefiniti- 19 20 21 22 BGE 128 V 20 E. 3b; 125 V 383 E. 2a; siehe auch BÖHI, S. 101 ff.; GREBER/DUC/SCARTAZZINI, Art. 4 N. 8; KÄSER, Rz. 3.12. Zum Ganzen auch FORSTER, S. 62 f. FORSTER, S. 69 ff.; KIESER, ATSG-Kommentar, Art. 10, Rz. 5, 14; vgl. auch GERBER, S. 96 f. Vgl. LOCHER, S. 170; MAURER, S. 137. Dazu etwa BÖHI, S. 110 f.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 9 on für das gesamte Sozialversicherungsrecht diente, aus dem Beitragsobjekt des massgebenden Lohns ableiten (Art. 5 Abs. 2 AHVG 23 ). Auch wenn mit der Umschreibung des Arbeitnehmer-Begriffs in Art. 10 ATSG grundsätzlich nichts an der bisherigen Einteilung geändert werden sollte, 24 stellt die Bestimmung klar, dass das Merkmal der Leistung von Arbeit in unselbstständiger Stellung für den Arbeitnehmer-Begriff für alle Sozialversicherungen verbindlich ist. Auch das Entgelt gehört zur Definition des Arbeitnehmers, doch kann nach der Vorschrift in Art. 10 ATSG in jedem Einzelgesetz der massgebende Lohn näher umschrieben werden. 25 Die letztere Präzisierung wurde vor allem im Hinblick auf die Situation in der obligatorischen Unfallversicherung als notwendig empfunden. 26 Die Praxis zur Unterscheidung von selbstständiger und unselbstständiger Stellung ist sehr reich und aufgrund der immer wieder betonten Orientierung an den massgeblichen Aspekten jedes Einzelfalls 27 teilweise sehr kasuistisch. 28 Schematisch lassen sich die Grundsätze zur Qualifikation der unselbstständigen Erwerbstätigkeit, zu welcher der Begriff der selbstständigen Erwerbstätigkeit komplementär ist, wie folgt zusammenfassen: 23 24 25 26 27 Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG) vom 20. Dezember 1946. KIESER, ATSG-Kommentar, Art. 10, Rz. 5. LOCHER, S. 168 f. KIESER, ATSG-Kommentar, Art. 10, Rz. 11. Z.B. RÜEDI, S. 135. 28 H. MEYER, Sozialversicherungsbeiträge, S. 237 ff.; DERS., Abgrenzung, S. 122; CADOTSCH, AHV-Arbeitnehmerbegriff, S. 68 ff.; CASAULTA/LINDENMANN, S. 231 f.; Siehe etwa die Darstellungen der Praxis bei GREBER/DUC/SCARTAZZINI, Art. 5 N. 93 ff.; KÄSER, Rz. 3.37 ff.; KIESER, Rz. 32 ff.; DERS., Rechtsprechung, S. 40 ff.

10 Thomas Gächter Als sozialversicherungsrechtlich unselbstständig erwerbend gilt, wer in untergeordneter Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit Arbeit leistet, ohne ein wirtschaftliches Risiko zu tragen. Weisungsgebundenheit Rechenschaftspflicht Eingliederung in fremde Arbeitsorganisation Es genügt bereits eine sehr kurze Arbeitsdauer Ausübung einer auf Erwerb gerichteten Tätigkeit z.b. auch Tragen von Verantwortung oder Arbeitsbereitschaft Investitionen Kapitaleinsatz Verlustrisiko Inkassorisiko Tragung von Unkosten Die soeben dargelegten abstrakten Grundsätze werden in der Praxis mit einer grösseren Zahl von Einzelkriterien konkretisiert. Zu diesen Einzelkriterien zählen nach der Aufzählung KIESERS 29 etwa: 30 Fehlen von erheblichen Investitionen Keine Bezahlung von Angestelltenlöhnen Keine massgebliche Entscheidungsbefugnis über Investitionen und Personalfragen Wesentliche Abhängigkeit des Einkommens von der Präsenzzeit, nicht hingegen vom Umfang der zu verrichtenden Arbeit sowie der Art der Arbeit Pflicht, sich an vorgegebene Weisungen zu halten Keine Pflicht, Aufträge zu akquirieren 29 30 KIESER, Sozialversicherungsrecht, Rz. 45, mit Hinweisen auf die entsprechenden Leitentscheide. Siehe auch KIESER, Abgrenzung, S. 17 f.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 11 Bindung an einen Arbeitsplan, Angewiesensein auf firmeneigene Einrichtungen, kein Tragen erheblicher Unkosten Regelmässige Arbeit für den gleichen Arbeitgeber Eingehende Festlegung der Arbeitsorganisation durch Reglement, Festlegung der Entschädigung nach einem Tarif Regelmässige Auszahlung der zu qualifizierenden Entschädigungen Wirtschaftliches Risiko erschöpft sich bei unregelmässig ausgeübten Tätigkeiten in der (alleinigen) Abhängigkeit vom persönlichen Arbeitserfolg Pflicht, die einzelnen der betreffenden Person zugewiesenen Fälle zu bearbeiten Bestehen eines solchen Abhängigkeitsverhältnisses, dass beim Wegfall der Tätigkeit eine ähnliche Situation eintritt, wie dies beim Stellenverlust eines Arbeitnehmers der Fall ist Auch wenn diese Kriterien auf unterschiedlicher Abstraktionsstufe angesiedelt sind und sich teilweise überschneiden, liefern sie doch für die meisten Fälle Argumente für die Qualifikation einer bestimmten Erwerbstätigkeit. 3. Selbstständige Erwerbstätigkeit Selbstständigerwerbend ist laut Art. 12 Abs. 1 ATSG, wer Erwerbseinkommen erzielt, das nicht als Entgelt für eine als Arbeitnehmerin oder als Arbeitnehmer geleistete Arbeit dient. Der sozialversicherungsrechtliche Status der Selbstständigkeit definiert sich demnach einerseits durch den Zufluss von Erwerbseinkommen (siehe oben IV.1) und der «Nicht-Qualifikation» der Tätigkeit als unselbstständige Erwerbstätigkeit, d.h. als Arbeitnehmertätigkeit (siehe oben IV.2). Die Definition der selbstständigen Erwerbstätigkeit ergibt sich mit anderen Worten negativ aus der Umschreibung der unselbstständigen Erwerbstätigkeit; jede Erwerbstätigkeit, die nicht die spezifischen Merkmale der Unselbstständigkeit erfüllt, gilt somit als selbstständige Erwerbstätigkeit. Der Charakter dieser negativen Umschreibung der Selbstständigkeit ist bereits im AHV-Recht angelegt: Auch dort gilt als Einkom-

12 Thomas Gächter men aus selbstständiger Erwerbstätigkeit jedes Erwerbseinkommen, das nicht Entgelt für in unselbstständiger Stellung geleistete Arbeit darstellt. 31 In methodischer Hinsicht bedeutet die Komplementarität der Definition der Selbstständigkeit, dass in Zweifelsfällen zunächst die oben dargelegten Kriterien geprüft werden müssen, ob eine unselbstständige Erwerbstätigkeit zu bejahen ist. 32 Gewissermassen hilfsweise hat die Praxis aber auch Einzelkriterien für die Qualifikation einer selbstständigen Erwerbstätigkeit erarbeitet. Es sind dies, wiederum in Anlehnung an die Aufzählung KIESERS, 33 die folgenden Einzelkriterien: 34 Führen eines Betriebes mit Angestellten in eigenen Geschäftsräumlichkeiten Gleichstellung gegenüber derjenigen Person, welche den Auftrag erteilt hat Möglichkeit, gleichzeitig für mehrere Gesellschaften in eigenem Namen tätig zu sein, ohne von diesen abhängig zu sein Tragen von Geschäftskosten Erfolgsgebundene Entschädigung Haftung gegenüber Drittpersonen Wahl der Arbeitszeit, Erledigung der Arbeit zu Hause, keine Entgegennahme von Weisungen Heranziehen der betreffenden Person von Fall zu Fall Gesetzlich vorgesehene Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit Wie die Einzelkriterien zur Umschreibung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit dürfen auch die Kriterien der selbstständigen Erwerbstätigkeit nicht 31 32 33 34 Art. 9 Abs. 1 AHVG; siehe auch FORSTER, S. 83 ff. Was aber nicht bedeutet, dass eine Vermutung zu Gunsten der Qualifikation als unselbstständige Erwerbstätigkeit betsteht; siehe BSV, WML, Rz. 1020. KIESER, Sozialversicherungsrecht, Rz. 41, mit Hinweisen auf die entsprechenden Leitentscheide. Siehe auch KIESER, Abgrenzung, S. 16 f.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 13 schematisch angewendet werden. Sie bilden vielmehr Argumente in Abwägungssituationen, in denen die Qualifikation nicht von Anfang an klar erkennbar ist. Zum Schluss noch ein Hinweis zur Vermeidung von Missverständnissen: Die Qualifikation einer Tätigkeit als selbstständige Erwerbstätigkeit ist nicht gleichbedeutend mit der Qualifikation als Arbeitgeber. Arbeitgeber i.s. von Art. 11 ATSG ist, wer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Die Arbeitgebereigenschaft bestimmt sich damit zwar auch in Funktion zur Qualifikation bestimmter Tätigkeiten als unselbstständige Erwerbstätigkeiten, jedoch beschreibt die Beziehung Arbeitgeber/Arbeitnehmer das sozialversicherungsrechtliche Rechtsverhältnis zwischen einer versicherten Person und ihrer natürlichen oder juristischen Arbeitgeberschaft, die Beziehung Selbstständiger/Unselbstständiger hingegen die Abgrenzung zwischen zwei verschiedenen Versicherungsstatuten. 4. Systematik der Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit a) Tätigkeitsspezifische Bestimmung des Beitragsstatuts Für jede einzelne Tätigkeit einer versicherten Person wird separat bestimmt, ob es sich um eine Erwerbstätigkeit handelt und ob diese Erwerbstätigkeit als selbstständig oder unselbstständig gilt. Es ist damit durchaus möglich, dass jemand, der aufgrund seiner Hauptbeschäftigung als Arbeitnehmer versichert ist, für eine Nebenbeschäftigung als selbstständig erwerbend gilt (vgl. Art. 12 Abs. 2 ATSG). Das Beitragsstatut bestimmt sich damit tätigkeitsspezifisch (bezogen auf das Beitragsobjekt), nicht für jede Person einheitlich (subjektspezifisch). b) Abwägung der Kriterien und weiterer Indizien Falls gleichzeitig Merkmale sowohl der selbstständigen wie auch der unselbstständigen Erwerbstätigkeit vorliegen, muss entschieden werden, wel-

14 Thomas Gächter che Merkmale im konkreten Fall überwiegen. 35 Die Praxis erachtet dabei das Abhängigkeitsverhältnis vom Arbeitgeber als zentrales Charakteristikum der unselbstständigen Erwerbstätigkeit, das Unternehmerrisiko dagegen als Hauptmerkmal der selbstständigen Erwerbstätigkeit. 36 Es besteht jedoch keine Vermutung für selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit. 37 Ob im Einzelfall selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit vorliegt, wird nicht bzw. nicht nur aufgrund der Rechtsnatur des Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien beurteilt. Auch die Bezeichnung des Verhältnisses durch die Parteien hat lediglich Hinweisfunktion. 38 Aufgrund der Entstehungsgeschichte von Art. 5 AHVG, der für die ganze Abgrenzung prägend ist, ergibt sich eindeutig, dass der Begriff des Unselbstständigerwerbenden nicht auf den Inhalt des Dienst- bzw. Arbeitsvertragsrechts im Sinn des OR beschränkt werden sollte. 39 Hingegen kann davon ausgegangen werden, dass bei Vorliegen eines Arbeitsvertrags auch sozialversicherungsrechtlich eine unselbstständige Erwerbstätigkeit zu bejahen ist. 40 Dasselbe gilt für die steuerrechtliche Einordnung einer Tätigkeit. 41 Massgeblich sind nach ständiger Rechtsprechung die wirtschaftlichen Verhältnisse, nicht die zivilrechtlichen Formen, in denen sich ein Dienstverhältnis zeigt. 42 35 36 37 38 39 40 41 42 BÖHI, S. 122; KIESER, Rz. 36; RIEMER-KAFKA, Rz. 4.34; LOCHER, S. 173, mit Hinweis auf den Entscheid des EVG vom 31. Juli 2001 (AHI 2001, S. 256 E, 2a). Nicht bestätigt wurde in der Praxis die Ansicht (z.b. GREBER/DUC/SCARTAZZINI, Art. 5 N. 113), nach welcher das Fehlen der untergeordneten Stellung und des Unternehmerrisikos als kumulative Voraussetzungen für die Annahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gelten. Z.B. LANZ, Abgrenzung, S. 1468 ff.; RÜEDI, S. 133 f. Eine etwas andere Rangfolge der Kriterien schlägt H. MEYER, Abgrenzung, S. 124 ff., vor. BSV, WML, Rz. 1020. BSV, WML, Rz. 1022 ff.; siehe auch RIEMER-KAFKA, Rz. 4.35. BINSWANGER, S. 40 f.; CADOTSCH, AHV-Arbeitnehmerbegriff, S. 65 f.; RÜEDI, S. 137. Z.B. LANZ, Abgrenzung, S. 1467. KÄSER, Rz. 3.5. Statt vieler KÄSER, Rz. 4.7, mit Hinweisen; LANZ, Abgrenzung, S. 1467 f.; RÜEDI, S. 137 f.; BSV, WML, Rz. 1022 ff.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 15 c) Tendenzen in der Abgrenzungspraxis «Die Rechtsprechung des EVG hat denn auch in den 80er Jahren ganz bewusst, aber diskret, sozusagen auf leisen Sohlen ohne dass es gegen aussen ausdrücklich deutlich gemacht wurde, die Grenzen der Unterscheidung tendenziell verschoben, und zwar in Richtung selbstständiger Erwerbstätigkeit.» 43 Seit den wirtschaftlich schwierigen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wird dagegen eine deutliche Tendenz in Richtung unselbstständiger Tätigkeit erkennbar. 44 Neben dieser diskret schwankenden Praxis ist eine zweite Praxislinie zu beobachten: Für den Wechsel des Beitragsstatuts in jenen Fällen, in denen über die in Frage stehenden Sozialversicherungsbeiträge bereits eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, bedarf es eines Rückkommenstitels (Wiedererwägung oder prozessuale Revision). Geht es nicht um einen rückwirkenden, sondern um einen für die Zukunft wirkenden Wechsel des Beitragsstatuts, greift grundsätzlich die freie erstmalige Prüfung der Statutsfrage Platz unter Beachtung der gebotenen Zurückhaltung in Grenzfällen. Betrifft die Frage des Statutswechsels sowohl Entgelte, auf welchen bereits Sozialversicherungsbeiträge erhoben wurden, als auch solche, die noch nicht Gegenstand einer Verfügung waren, ist für jenen Teil, über den eine formell rechtskräftige Verfügung vorliegt, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder für eine prozessuale Revision gegeben sind, während das Beitragsstatut für die übrigen bisher nicht erfassten Entgelte frei zu prüfen ist. 45 In Verbindung mit der leicht schwankenden Praxis zur Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit ergibt sich durch die Zurückhaltung bei der Anerkennung eines Statuswechsels ein nicht immer ganz kohärentes Nebeneinander unterschiedlicher Qualifikationen von Fällen, die sich in tatsächlicher Hinsicht nicht unterscheiden. 43 44 45 RÜEDI, S. 138 f., mit Hinweisen. RÜEDI, S. 139, mit Beispielen aus der Praxis. Siehe auch CADOTSCH, AHV, S. 207 f. BGE 121 V 1; dazu KÄSER, Rz. 4.36; KIESER, Rechtsprechung, S. 38 f.; DERS., Altersund Hinterlassenenversicherung, Rz. 36 f.; RÜEDI, S. 139 ff.

16 Thomas Gächter Immerhin hat das Eidgenössische Versicherungsgericht vor einigen Jahren die bisherigen Grundsätze seiner Praxis geordnet und bestätigt (BGE 122 V 169), d.h. seither sind mindestens die Kriteriengruppen einigermassen gefestigt. 46 Charakteristische Merkmale einer selbstständigen Erwerbstätigkeit sind die Tätigung erheblicher Investitionen, die Benützung eigener Geschäftsräumlichkeiten sowie die Beschäftigung von eigenem Personal. Das spezifische Unternehmerrisiko besteht dabei darin, dass unabhängig vom Arbeitserfolg Kosten anfallen, die der Versicherte selber zu tragen hat. Für die Annahme selbstständiger Erwerbstätigkeit spricht sodann die gleichzeitige Tätigkeit für mehrere Gesellschaften in eigenem Namen, ohne indessen von diesen abhängig zu sein. Massgebend ist dabei nicht die rechtliche Möglichkeit, Arbeiten von mehreren Auftraggebern anzunehmen, sondern die tatsächliche Auftragslage. Von unselbstständiger Erwerbstätigkeit ist auszugehen, wenn die für den Arbeitsvertrag typischen Merkmale vorliegen, d.h. wenn der Versicherte Dienst auf Zeit zu leisten hat, wirtschaftlich vom «Arbeitgeber» abhängig ist und während der Arbeitszeit auch in dessen Betrieb eingeordnet ist, praktisch also keine andere Erwerbstätigkeit ausüben kann. Indizien dafür sind das Vorliegen eines bestimmten Arbeitsplans, die Notwendigkeit, über den Stand der Arbeiten Bericht zu erstatten, sowie das Angewiesensein auf die Infrastruktur am Arbeitsort. Das wirtschaftliche Risiko des Versicherten erschöpft sich diesfalls in der (alleinigen) Abhängigkeit vom persönlichen Arbeitserfolg oder, bei einer regelmässig ausgeübten Tätigkeit, darin, dass bei Dahinfallen des Erwerbsverhältnisses eine ähnliche Situation eintritt, wie dies beim Stellenverlust eines Arbeitnehmers der Fall ist. 47 Auf der Grundlage dieser Kriterien haben sich in der Praxis Fallgruppen herausgebildet, auf welche die Praxis zurückgreift, wenn ähnliche Fälle zu entscheiden sind. Die Fallgruppen sind einerseits von der Literatur eingehend bearbeitet und dargestellt worden, finden sich aber vor allem auch in den entsprechenden Weisungen des Bundesamts für Sozialversicherungen. 48 Insbesondere die letztere Quelle wird in der Praxis als Hilfsmittel herangezogen. 46 47 48 Vgl. auch KIESER, Sozialversicherungsrecht, Rz. 37. BGE 122 V 169 E. 3c. Insbesondere BSV, WML.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 17 V. Exkurs: Hilft die europarechtliche Perspektive weiter? 1. Freizügigkeitsabkommen und koordinierendes europäisches Sozialrecht Mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen 49 werden die Grundregeln des freien Personenverkehrs, wie sie innerhalb der EU zur Anwendung kommen, schrittweise zwischen der Schweiz und der EU eingeführt. Staatsangehörige der Schweiz und der EU-Staaten erhalten dadurch das Recht, den Arbeitsplatz bzw. Aufenthaltsort innerhalb der Staatsgebiete der Vertragsparteien frei zu wählen. Zum Personenfreizügigkeitsabkommen gehören drei Anhänge, welche nach Art. 15 FZA Bestandteil des Abkommens bilden. Von Bedeutung im vorliegenden Zusammenhang ist der Anhang II zur «Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit». Zur vollen Durchsetzung der Freizügigkeit verpflichtet Art. 8 FZA die Vertragsstaaten, das gegenseitige Verhältnis im Bereich der Systeme der sozialen Sicherheit nach den Bestimmungen in Anhang II FZA zu regeln. Art. 1 Abs. 1 Anhang II FZA schreibt vor, dass die Vertragsparteien zwecks Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die in Anhang II Abschnitt A FZA aufgezählten Rechtsakte oder gleichwertige Regelungen anwenden. In Abschnitt A 1. 3. werden die VO 1408/71 50, die DVO 574/72 51 sowie die weniger bedeutsame RL 98/49/EG 52, angeführt. Die Überführung 49 50 51 52 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21.6.1999 (SR 0.142.112.681). Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. In der Fassung von Anhang II FZA (mit Anhängen). Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. In der Fassung von Anhang II FZA (mit Anlagen). Richtlinie 98/49/EG des Rates vom 29. Juni 1998 zur Wahrung ergänzender Rentenansprüche von Arbeitnehmern und Selbstständigen, die innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu- und abwandern (RL 98/49/EG).

18 Thomas Gächter des Anhangs ins schweizerische Recht erfolgt dadurch, dass in den einzelnen Sozialversicherungsgesetzen eine globale Verweisungsbestimmung auf die EG-Verordnungen aufgenommen wurde. Zudem wurden in einzelnen Erlassen materielle Gesetzesbestimmungen dem EU-Koordinationsrecht angepasst. 2. Insbesondere Arbeitnehmer und Selbstständigerwerbende i.s. der VO 1408/71 Nach Art. 2 Abs. 1 VO 1408/71 gilt die Verordnung für Arbeitnehmer, Selbstständigerwerbende und Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene. Es fragt sich nun, ob für die nicht zuletzt auch europakompatible Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit aus einer allfälligen Definition dieser Begriffe im koordinierenden europäischen Sozialrecht etwas abgeleitet werden könnte. Die Arbeithypothese erweist sich gleich in doppelter Hinsicht als nicht zielführend: Die Unterstellungsbegriffe «Arbeitnehmer» und «Selbstständigerwerbender» dienen in erster Linie dazu, den persönlichen Geltungsbereich des Koordinationsrechts zu definieren. Die Begriffe sind autonom, d.h. im Sinne des Koordinationsrechts, auszulegen und lassen nur bedingt Rückschlüsse auf die nationale Qualifikation einer Tätigkeit zu. Die koordinationsrechtliche Definition kann mit anderen Worten markant von der innerstaatlichen Definition abweichen. 53 Mit der bereits genannten Funktion der Begriffe als «Zugangspforte» 54 zum koordinierenden Sozialrecht hängt auch das zweite Argument zusammen: Die komplizierte Legaldefinition in Art. 1 Bst. a der VO 1408/71 unterschei- 53 54 IMHOF, S. 23. IMHOF, S. 22, mit Hinweis auf das entsprechende Dictum von Generalanwalt La Pergola.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 19 det nicht zwischen selbstständig und unselbstständig Beschäftigten. Vielmehr wird für beide Kategorien gemeinsam definiert, wann die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind. Massgeblich ist demnach nicht, in welchem Versicherungsstatut eine Person versichert (gewesen) ist, sondern einzig die Frage, ob durch eine bestimmte Tätigkeit die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sozialversicherungssystem begründet wurde. VI. Beispiele 1. Telefon-Verkäuferinnen Das Vertriebskonzept von Herrn A leuchtet aus wirtschaftlichen Gründen ein: Er möchte für eine einmalige Verkaufsaktion von Navigationsgeräten einen Telefonvertrieb aufbauen, der unkompliziert ist und keine eigenen Strukturen benötigt. Die engagierten Studentinnen sollen zu einem recht hohen Stundenansatz die Navigationsgeräte von ihrem eigenen Telefon aus verkaufen und ihre Arbeitszeit frei einteilen können. Administrativen Zusatzaufwand, wie er etwa durch die Abrechnung mit den Sozialversicherungen entstehen könnte, will er offensichtlich vermeiden. Betrachtet man die Tätigkeit der Studentinnen im Hinblick auf die soeben dargelegten Abgrenzungskriterien, ergibt sich das folgende Bild: Die Studentinnen leisten zwar Arbeit im Dienst eines einzigen Auftraggebers oder Arbeitgebers (Herr A), sind aber von zu Hause aus tätig, benutzen ihr eigenes Telefon und verfügen über eine ausgeprägte Autonomie in der Gestaltung ihrer Arbeit. Die einzige administrative Vorgabe besteht darin, zwecks Vermeidung von Überschneidungen nur Telefonate innerhalb einer bestimmten Region zu tätigen. Insgesamt ist damit die Einordnung in die fremde Arbeitsorganisation und die Unterordnung unter die arbeitgeberischen Weisungen zwar nicht ganz zu verneinen, sie ist aber nicht so eindeutig gegeben, dass die Qualifikation bereits als klar erscheinen könnte. Trotz ihrer grossen Gestaltungsfreiheit leisten die Studentinnen für Herrn A Arbeit und werden für ihre Arbeitszeit pauschal im Stundenlohn

20 Thomas Gächter entschädigt, d.h. an den Kriterien «Arbeit» und «Zeit» würde die Qualifikation als unselbstständige Erwerbstätigkeit nicht scheitern. Unter dem Aspekt des Risikos, d.h. dem typischen Merkmal für die selbstständige Erwerbstätigkeit, ist festzustellen, dass die einzige «Investition» der Studentinnen darin besteht, sich einen Telefonanschluss zu beschaffen, den sie vermutlich bereits haben, und diesen für die Verkaufstätigkeit zu benutzen. Das grösste Risiko, nämlich die Nichtbezahlung der Entschädigung durch Herrn A, unterscheidet sie nicht von einem typischen Arbeitnehmer, der ebenfalls mit dem Risiko leben muss, dass der Arbeitgeber den Lohn gegebenenfalls nicht oder nicht rechtzeitig bezahlt. Insgesamt spricht die Anwendung der klassischen Abgrenzungskriterien damit eher für die Qualifikation als unselbstständige Erwerbstätigkeit. Zur Klärung der letzten Unsicherheiten, d.h. zur Abwägung der einzelnen Kriterien, ist nach der oben beschriebenen Methodik ein Blick in die Praxis bzw. in die von der Praxis gebildeten Fallgruppen unerlässlich: Im bereits zitierten BGE 122 V 169, mit welchem das EVG die Kriterien für die Abgrenzung zusammenfasste, war die Tätigkeit von «Telefon- Hostessen» zu qualifizieren. Die Bedingungen und die Gestaltungsfreiheit in der dort zu beurteilenden Tätigkeit waren durchaus vergleichbar mit dem hier vorliegenden Fall der Telefonverkäuferinnen und wurden trotz der privatrechtlichen Qualifikation des Beschäftigungsverhältnisses als Auftrag als unselbstständig qualifiziert. Im Unterschied zum hier zu beurteilenden Fall waren die Telefonhostessen jedoch örtlich im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigt, d.h. in dessen Telefonanlage. Zum Unternehmerrisiko führte das Gericht aus, dass nicht ersichtlich sei, inwiefern die Hostessen mit Bezug auf ihre Tätigkeit im Telekiosk-Betrieb ein spezifisch unternehmerisches Risiko zu tragen hatten. Namentlich erforderte die Ausübung der betreffenden Beschäftigung nicht die Führung eines eigenen Betriebes oder sonstige für eine selbstständige Erwerbstätigkeit atypische Vorkehren. Wenn und soweit die Telefonhostessen nicht gewusst haben, ob der Betriebsinhaber in der folgenden Woche weitere «Aufträge» zu vergeben haben werde, ist dieses Risiko beitragsrechtlich nicht anders zu gewichten als das eines Arbeitnehmers, seine

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 21 Stelle zu verlieren. Auch ein jüngerer Entscheid, in dem die Tätigkeit von so genannten «Enhancern» zu beurteilen war, die von zu Hause aus arbeiteten, wurde die Tätigkeit der Enhancer als unselbstständig qualifiziert. 55 Massgeblich für diese Qualifikation war vor allem auch, dass die betreffenden Personen zur Ausübung ihrer Tätigkeit auf die Infrastruktur des Telefonkiosks angewiesen waren. 56 Beide Entscheide weisen hinsichtlich der eigentlichen Tätigkeit damit deutlich in Richtung Unselbstständigkeit, doch ist im Gegensatz zum hier zu beurteilenden Fall stets eine klare Bindung an die Infrastruktur des arbeitgebenden Betriebs zu bejahen gewesen. Letzte Gewissheit bringen also auch diese Präjudizien nicht. Am ehesten liesse sich die Tätigkeit der Telefonverkäuferinnen, die ohne direkte Einbindung in die betrieblichen Infrastrukturen des arbeitgebenden Betriebs arbeiten, mit derjenigen von Agenten oder Handelsreisenden vergleichen. Zu diesen beiden Beschäftigungstypen wiederum hat die Praxis aber eine Fallgruppe gebildet: Grundsätzlich gelten Agenten und Handelsreisende, die über keine eigene Infrastruktur für die Ausübung ihrer Tätigkeit verfügen, sozialversicherungsrechtlich als unselbstständig erwerbend. 57 Weder Agenten noch Handelsreisende sind in der Regel auf die betriebliche Infrastruktur ihrer Auftraggeber angewiesen, gelten aber dennoch als unselbstständig. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die klassischen Abgrenzungskriterien für die Qualifikation der Tätigkeit der Telefonverkäuferinnen zwar zu keinem eindeutigen Ergebnis führen. Aufgrund der bisherigen Praxis (Telefonhostessen, Enhancer) und dem im Zusammenhang mit den Agenten und Handelsreisenden erkennbaren Grundsatz, dass eine Benutzung der Infrastruktur des Arbeitgebers nicht zwingend erforderlich ist, um eine untergeordnete und damit unselbstständige Tätigkeit i.s. des Sozialversicherungsrechts zu verrichten, kann im vorliegenden Fall mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die telefonische Verkaufstätigkeit der zehn Stu- 55 56 57 Urteil H 9/05 vom 27. April 2005; dazu auch FORSTER, S. 402 ff. Urteil H 9/05 vom 27. April 2005, E. 4.3. BSV, WML, Rz. 4021 ff.

22 Thomas Gächter dentinnen unabhängig von der vertraglichen Abmachung der pauschalen Abrechnung zwischen den Parteien eine unselbstständige Tätigkeit darstellt. 2. Webdesignerin a) Qualifikation der Tätigkeit Die oben beschriebene Absicht von Frau B ist klar: Sie möchte sich als Webdesignerin selbstständig machen und künftig für verschiedene Auftraggeber den Internetauftritt gestalten. Sie möchte mit anderen Worten das, was sie für ihren bisherigen Arbeitgeber im Angestelltenverhältnis verrichtet hat, künftig selbstständig anbieten. Ein erster Auftraggeber ist denn auch bereit, ihr einen Auftrag mit monatlicher Pauschalentschädigung von CHF 10'000.00 zur Gestaltung des Netzauftritts zu erteilen. Wendet man in einem ersten Schritt die allgemeinen Kriterien für die Abgrenzung der selbstständigen und der unselbstständigen Tätigkeit an, so ergibt sich das folgende Bild: Frau B hat den Auftrag, den Netzauftritt der Auftraggeberin neu zu gestalten. Sie wird sich dabei zweifellos an die Vorgaben der Auftraggeberin betreffend Inhalt und Gestaltung bzw. gewünschte Funktionen des Auftritts halten müssen, doch unterscheidet sich die Auftragstätigkeit damit nicht von anderen Aufträgen, die z.b. Handwerkern erteilt werden. Es ist nicht ersichtlich, ob und inwiefern Frau B ihre Arbeit mit der Infrastruktur des Betriebs verrichtet bzw. verrichten muss. Ein Internetauftritt lässt sich völlig losgelöst von einer bestimmten Infrastruktur erstellen. Damit spricht eigentlich wenig für eine arbeitsorganisatorische Einordnung von Frau B in den Betrieb ihres Arbeitgebers und damit wenig für die unselbstständige Stellung von Frau B. Frau B soll den Auftrag in rund zwei Monaten erledigen. Sie wird pauschal für ihre Arbeitszeit entschädigt, d.h. sie bekommt pro Arbeitsmonat CHF 10'000.00. Die beiden Kriterien Arbeit und Zeit lassen folglich den Charakter der Tätigkeit nicht klar erkennen; auch eine Angestellte

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 23 kann mit Monatslohn befristet angestellt werden; die gleiche Tätigkeit hat Frau B denn vorher auch in angestellter Funktion verrichtet. Das Unternehmerrisiko von Frau B besteht im Wesentlichen darin, dass sie selbst für weitere Aufträge sorgen muss. Angestellte hat sie nicht, ebenso vermutlich keine ausgebaute Infrastruktur, da für Webdesign bereits ein guter Computer mit entsprechender Software und ein Internetanschluss ausreicht. Auch das Risiko, dass die Entschädigung nicht entrichtet wird, unterscheidet Frau B nur unwesentlich von Arbeitnehmenden, die ebenfalls einen Lohnausfall erleiden könnten. Es ergibt sich damit nach einer ersten Prüfung das Bild, dass Frau B zwar nicht klar in untergeordneter Stellung als Arbeitnehmerin tätig ist, jedoch ein verhältnismässig kleines Unternehmerrisiko trägt. Sie ist aufgrund der bekannten Faktoren kaum von einer Person zu unterscheiden, die sich befristet von verschiedenen Arbeitgebern nacheinander anstellen lässt. Es muss somit mit den weiteren Kriterien bzw. im Hinblick auf die Praxis geprüft werden, wie die Tätigkeit von Frau B zu qualifizieren ist. Laut gefestigter Praxis üben EDV-Spezialistinnen bzw. -Spezialisten, zu denen auch die Webdesigner zu zählen sind, eine unselbstständige Erwerbstätigkeit aus, wenn sie arbeitsorganisatorisch weisungsgebunden sind, die Einrichtungen der Auftraggebenden benutzen und persönlich zur Arbeitsleistung verpflichtet sind. Selbstständige Erwerbstätigkeit liegt dagegen vor, wenn die EDV-Spezialistin oder der EDV-Spezialist ein Unternehmerrisiko trägt und arbeitsorganisatorisch unabhängig ist. 58 Diese Praxis spricht im vorliegenden Fall bei erst einem Kunden und vermutlich geringen Investitionskosten für die Qualifikation als unselbstständige Erwerbstätigkeit. Anders sähe es dagegen aus, wenn Frau B bereits weitere Aufträge in Aussicht hätte und diese gegebenenfalls auch parallel ausführen würde; die Selbstständigkeit wäre dann eher belegt. 59 58 59 Siehe etwa BSV, WML, Rz. 4108, mit Hinweisen auf die Praxis. Siehe etwa das Urteil H 30/99 vom 14. August 2000 (AHI 2001, S. 58 ff.) und dazu FORSTER, S. 357 ff.

24 Thomas Gächter Im konkreten Fall wäre folglich damit zu rechnen, dass die Tätigkeit von Frau B als unselbstständige Tätigkeit qualifiziert würde, was ihren eigentlichen Absichten widerspricht. b) Entscheid über das Beitragsstatut Selbstverständlich wäre es für Frau B von Vorteil, bereits frühzeitig darüber Bescheid zu wissen, wie ihre geplante Erwerbstätigkeit sozialversicherungsrechtlich qualifiziert würde. Bis vor kurzer Zeit war es indes nur in Ausnahmefällen möglich, von der zuständigen Ausgleichskasse vor Aufnahme der Tätigkeit eine Feststellungsverfügung das Beitragsstatut betreffend zu erhalten. 60 Nur in besonders komplex gelagerten Fällen anerkannte die Rechtsprechung einen Anspruch auf eine Feststellungsverfügung. Dies war etwa dann der Fall, wenn von den (allfälligen) Arbeitgebern nicht verlangt werden konnte, ohne definitive Kenntnis über das Beitragsstatut der Beschäftigten, diesen Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen, was insbesondere bei einer sehr grossen Zahl von Betroffenen der Fall war. Diese restriktive Praxis wurde jüngst in einem entscheidenden Punkt angepasst: In BGE 132 V 257 hat das EVG in (teilweiser) Änderung dieser Praxis erwogen, dass ein Interesse am Erlass einer formellen Verfügung bestehe, wenn die zuständige Ausgleichskasse das Gesuch einer versicherten Person um Anschluss als Selbstständigerwerbender und Eintrag im Register gänzlich oder in Bezug auf eine oder mehrere bestimmte Tätigkeiten ablehnen wolle. Es widerspreche einem berechtigten Anliegen der Antrag stellenden Person, warten zu müssen, bis darüber in einem unter Umständen ein Jahr oder noch länger dauernden Verfahren über paritätische Beiträge entschieden werde. Das EVG liess dabei offen, ob in jedem Fall ein schützenswertes Interesse an einer Feststellungsverfügung im Sinne von Art. 49 Abs. 2 ATSG begründet sei. Entscheidender Gesichtspunkt sei vielmehr, dass das Gesuch um Anschluss und Registrierung als Selbstständigerwerbender nicht auf einen reinen Feststellungsentscheid abziele. Vielmehr wolle die versicherte Person in ein Rechtsverhältnis mit der (zuständigen) Ausgleichskasse 60 Siehe etwa BGE 129 V 289, Erw. 2.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Erwerbstätigkeit 25 treten im Hinblick auf die Entrichtung persönlicher Beiträge, wozu sie gleichzeitig gesetzlich verpflichtet und berechtigt sei. Werde ein entsprechendes Gesuch abgelehnt, sei dieser Entscheid rechtsgestaltender Natur im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a oder c VwVG 61 und nicht bloss ein reiner Feststellungsentscheid. In Änderung der Rechtsprechung habe daher eine Ausgleichskasse bei Ablehnung des Gesuchs einer versicherten Person um Anschluss als Selbstständigerwerbender und Eintrag im Register eine einsprachefähige Verfügung und gegebenenfalls einen beschwerdefähigen Einspracheentscheid zu erlassen. Frau B hat nach dieser Praxisänderung demnach die Möglichkeit, rasch einen verbindlichen Entscheid betreffend ihres Beitragsstatuts zu erhalten und damit unliebsame Überraschungen zu vermeiden. 3. Überführung der Einzelfirma in eine AG oder GmbH Herr C trägt sich laut dem vorne angeführten Beispiel mit dem Gedanken, seine Einzelfirma in eine AG oder eine GmbH zu überführen. Selbstverständlich würde er für seine Tätigkeit für den Betrieb weiterhin Bezüge aus dem Betrieb tätigen, die jedoch unterschiedliche Rechtsgründe haben können: Einerseits kann er sich einen Gewinnanteil bzw. Dividenden auszahlen lassen. Art. 7 AHVV 62, der in Konkretisierung von Art. 5 AHVG die Bestandteile des massgebenden Lohns beispielhaft umschreibt, macht deutlich, dass nicht nur Einkünfte aus Arbeitsverhältnissen im Sinn des obligationenrechtlichen Arbeitsvertrags zum massgebenden Lohn zählen. Art. 7 lit. d AHVV rechnet etwa Gewinnanteile der Arbeitnehmer, soweit sie den Zins einer allfälligen Kapitaleinlage übersteigen, ausdrücklich zum massgebenden Lohn. Zudem zählen auch Tantiemen, feste Entschädigungen und Sitzungsgelder an die Mitglieder der Verwaltung und der geschäftsführenden Organe zum massgebenden Lohn (Art. 7 lit. h AHVV). Unabhängig davon, wie man die restlichen Einkünfte eines Alleinaktionärs aus der Tätigkeit für seine Gesellschaft qualifiziert, gehören also diese Bezüge zum massgebenden Lohn. 61 62 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021). Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung vom 31. Oktober 1947 (AHVV; SR 831.101).