Beitrag für die Angehörigentagung des LV ApK Hessen am 23. April 2016

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Transkript:

Die Forensik geht uns alle an Wie gehen wir mit psychisch kranken Rechtsbrechern um? Manch einer unter Ihnen wird sich beim Lesen des Themas gefragt haben, weshalb ihn die Forensik etwas angehen soll. Selbst nicht betroffen; in Ihrer Angehörigengruppe war die Forensik nie ein Thema; und folgende Zahlen zeigen, dass nur ein ganz geringer Anteil psychisch kranker Menschen straffällig wird und deshalb in der Forensik landet: 2014 wurden in Deutschland rund 1,2 Mio psychisch Erkrankte stationär behandelt, darunter etwa 90.000 Psychosepatienten. Dem stehen insgesamt knapp 11.000 Forensik-Patienten gegenüber, von diesen sind rund 3.500 suchtkrank, 3.300 psychosekrank und 2.300 persönlichkeitsgestört. Also: warum geht die Forensik uns alle an? Erstens, weil das Bild der Psychiatrie und das Bild vom psychisch kranken Menschen durch die Berichterstattung in den Medien über Straftaten geprägt wird, zweitens, weil Defizite in der allgemeinpsychiatrischen Versorgung oft der Grund sind, warum ein psychisch kranker Mensch straffällig wird und drittens, weil uns Angehörigen bewusst sein muss, wie schmal oft der Grat zwischen Allgemeinpsychiatrie und forensischer Psychiatrie ist. Bevor ich auf diese drei Gründe näher eingehe, kurz der rechtliche Rahmen für den Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern. Der Begriff Forensik kommt aus dem Lateinischen, bei den Römern spielte sich das Gerichtsgeschehen auf dem Marktplatz, dem Forum, ab. In der Psychiatrie steht Forensik für die Forensische Psychiatrie. Das Gesetz verwendet diesen Begriff nicht, sondern spricht von Maßregeln der Besserung und Sicherung, die in Kliniken für Forensische Psychiatrie vollzogen werden (Maßregelvollzug). I. Der rechtliche Rahmen Wer eine Straftat begeht, kann hierfür nur strafrechtlich verantwortlich gemacht werden, wenn er schuldhaft gehandelt hat (Schuldprinzip des deutschen Strafrechts: keine Strafe ohne Schuld ). Schuldunfähig handelt, wer bei Begehung der Tat unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln ( 20 StGB).

Nicht die psychische Krankheit als solche macht also schuldunfähig. Nur wenn sie sich in der Weise auf die Tat auswirkt, dass zum Zeitpunkt der Tat dem Täter die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit fehlt, handelt er nicht schuldhaft und kann er nicht bestraft werden. Wenn allerdings das Krankheitsbild, die Tat und die Tatumstände dafür sprechen, dass vom Täter weitere Straftaten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist, sieht das Strafrecht freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung vor ( 62 ff StGB): der Betroffene soll behandelt (Besserung) und die Gesellschaft soll vor seiner durch die Straftat erwiesenen Gefährlichkeit geschützt (Sicherung) werden. Die Frage der Schuldfähigkeit bezieht sich also rückblickend auf die begangene Tat ( Anlasstat ), die der Gefährlichkeit vorausschauend auf in der Zukunft befürchtete Taten. Diese Fragen müssen vom Gericht auf der Basis eines psychiatrischen Gutachtens entschieden werden. Das Gesetz kennt zwei unterschiedliche freiheitsentziehende Maßregeln: für psychisch Kranke die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ( 63) und für Suchtkranke die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ( 64 StGB). Voraussetzung für die Unterbringung ist in beiden Fällen, dass die Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten besteht, was im Urteil festgestellt werden muss. Dabei hat das Gericht auch zu prüfen, ob nicht - ähnlich wie im normalen Strafverfahren die Aussetzung der Strafe zur Bewährung je nach Schwere der Tat, der Tatumstände und der Art der psychischen Krankheit von der Unterbringung abgesehen werden bzw. die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann ( 67 b StGB). Die Unterbringung nach 63 StGB erfolgt auf unbestimmte Zeit; der Betroffene wird erst entlassen, wenn er nicht mehr gefährlich ist. Ziel der Behandlung ist also die Beseitigung der Gefährlichkeit, und da nicht vorausgesagt werden kann, wie lange das dauert, ist die Unterbringung nicht befristet. Das führt sehr oft dazu, dass die Unterbringungsdauer das Strafmaß (wie lange für die Tat bei Schuldfähigkeit eine Gefängnisstrafe ausgesprochen werden könnte) weit übersteigt. Hier setzt nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ( 62 und 67d Abs. 5 StGB) im Einzelfall Grenzen.

Die Unterbringung nach 64 ist dagegen grundsätzlich auf 2 Jahre begrenzt. Das entspricht dem Ziel dieser Unterbringungsform, das ist die Heilung bzw. Besserung der Suchtkrankheit. Die Unterbringung wird daher nur angeordnet, wenn und solange Aussicht auf Heilung besteht; insbes. muss der Betroffene behandlungswillig sein. Besteht diese Aussicht nicht (mehr), wird die i. d. R. parallel ausgesprochene Gefängnisstrafe vollzogen. Während die Voraussetzungen der strafrechtlichen Unterbringung im Bundesrecht (Strafgesetzbuch StGB) geregelt sind, erfolgt der Vollzug dieser freiheitsentziehenden Maßregeln nach Landesrecht und ist in den Maßregelvollzugsgesetzen (MRV- G) bzw. Psychiatriekrankengesetzen (PsychKG) der Bundesländer geregelt. II. Warum die Forensik uns alle angeht 1. Vorurteilen und Stigmatisierung entgegenwirken Trotz aller Antistigmaprogramme bestehen in der Gesellschaft Ängste und Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen. Das liegt zum einen daran, dass die Sensibilität für das Thema den meisten Menschen fehlt, solange sie nicht selbst in ihrer Familie davon betroffen sind. Zum anderen liegt es daran, dass die Medien in ihrer Berichterstattung über Einzelfälle das Bild des gefährlichen psychisch Kranken immer wieder heraufbeschwören. - Ein krasses Beispiel war vor einigen Jahren der Holzklotzfall. Ein Mann hatte von einer Autobahnbrücke einen schweren Holzklotz auf die Fahrbahn geworfen; dieser durchschlug die Windschutzscheibe eines PKW, die Beifahrerin wurde tödlich verletzt. Während der Suche nach dem Täter hieß es in der BZ: Wenn die Holzklotz-Werfer Erwachsene waren, dann sind sie Monster. Für Monster haben wir die Psychiatrie. Monster werden an Füßen und Armen festgeschnallt. Unser aller Anliegen muss es sein, solchen unsachlichen Aussagen entgegen zu treten, um das Bild der Psychiatrie und der psychisch kranken Menschen zu versachlichen. Und auch die Wege, die in die Forensik führen, zeigen, dass uns die Forensik alle angeht. 2. Prävention Vermeiden, dass psychisch Kranke straffällig werden Was mich seit langem beschäftigt: bis zu 80 % der Patienten im Maßregelvollzug waren vorher schon in stationärer Behandlung; vor ihrer

Anlasstat bzw. Einweisung in den Maßregelvollzug waren sie bereits durch Bagatelldelikte (Ladendiebstahl, Schwarzfahren) oder aggressives Verhalten aufgefallen; die häufigsten Diagnosen der Forensikpatienten sind Psychosen (50 %) und Persönlichkeitsstörungen (30 %); und die häufigsten Delikte sind Gewalttaten (Tötung, Körperverletzung, Sexualdelikte). In Kenntnis dieser Fakten müsste viel mehr für Prävention, insbesondere Gewaltprävention getan werden. Es gibt zwar verschiedene Projekte wie Stopp die Gewalt in Dir (Ansbach), Behandlungsinitiative Opferschutz BIOS (Karlsruhe), kein täter werden (verschiedene Standorte in D), aber es fehlt ein flächendeckendes Präventionsangebot für gewaltbereite psychisch Kranke. Stattdessen produziert unser psychiatrisches System seine Forensikpatienten zum Teil selbst: immer kürzere Verweilzeiten in der Allgemeinpsychiatrie, keine bzw. unzulängliche Nachsorge, fehlende Unterstützung der Familien, in die die Patienten der Allgemeinpsychiatrie zurückkehren das alles führt oft in die Forensik. 3. Wege in die Forensik Wir Angehörige erleben in unseren Familien oft verbale und körperliche Gewalt und es ist nur eine Frage der Umstände, ob diese Gewalt in der Familie bleibt oder in die Forensik führt. Das hängt u.a. vom Grad der Gewalt und davon ab, ob und wie sie im Umfeld wahrgenommen wird - der Grat zur Forensik ist da oft sehr schmal! Nur in extremen Situationen zeigen Angehörige Delikte, die innerhalb der Familie begangen werden, an. Dagegen haben Anzeigen der stationären Einrichtungen (Kliniken, Heime und Betreutes Wohnen) in den vergangenen Jahren stark zugenommen ( Forensifizierung ). Hier besteht eine Tendenz, dass die Mitarbeiter der Einrichtungen gegenüber schwierigen Patienten immer weniger Toleranz zeigen, Übergriffe vermehrt anzeigen, was oft den Weg in die Forensik bedeutet. Für Hessen ist dies für den Zeitraum zwischen 1990 bis 2005 untersucht worden (Freese). Danach hat der Anteil der Forensik-Patienten, die ihre Tat während einer stationären Behandlung begingen, drastisch zugenommen: von 1990 (15 %) auf 30 % im Jahr 2000 und fast 50 % 2005. Diese Zahlen beziehen sich zwar auf Hessen, doch ist der sich hier abzeichnendetrend auf das Bundesgebiet übertragbar. Denn die Gründe für diese Entwicklung gelten generell.

Zwischenfazit Systemkritik Der Anstieg der Unterbringungszahlen und immer längere Verweilzeiten sprechen nicht gerade für die Effizienz des bestehenden Systems. Es fehlt an Präventionsmaßnahmen, um soweit möglich die Straffälligkeit zu vermeiden: die Ausrichtung des Maßregelrechts auf ausschließlich stationäre Maßnahmen widerspricht dem Gebot der Verhältnismäßigkeit; die unterschiedliche Anordnungspraxis der Gerichte und die unterschiedliche Gestaltung des Maßregelvollzugs in den Kliniken (mit verursacht durch die unterschiedlichen Vollzugsgesetze der Länder) führt zu großen Diskrepanzen zwischen den einzelnen Ländern und auch von Klinik zu Klinik. Ist das gerecht? Darf es bei dem gravierendsten Grundrechtseingriff, wie es die freiheitsentziehende Maßregel ist, solche Unterschiede geben? III. Entwicklungen im Maßregelrecht gem. 63 StGB 1985 gab es 2.500 Maßregelvollzugs-Patienten ( 63), heute sind es an die 7.000, also fast dreimal so viele; bundesweit beträgt die durchschnittliche Verweilzeit im Maßregelvollzug inzwischen 8 Jahre. Zusätzliche Kapazitäten mussten geschaffen werden, neue Kliniken entstanden und entstehen noch. Sind die psychisch kranken Menschen gefährlicher geworden? Nein, nicht die Kranken haben sich verändert, sondern irrationale Vorurteile und Ängste sind die Ursache dieser Entwicklung Ausgelöst von einzelnen spektakulären Fällen, geschürt durch aufbauschende Medienberichte, hat sich das gesellschaftliche Klima gegenüber psychisch kranken Menschen verändert. Hinzu kommt ein im Verhältnis zur tatsächlichen Gefahrenlage überzogenes Sicherheitsbedürfnis ( Null-Risiko ) in der Gesellschaft. Dies führte zu - von politischem Aktionismus getrieben wiederholten, verschärfenden Gesetzesänderungen. Dieser gesellschaftliche Klimawandel beeinflusste auch die Praxis von Gerichten, Gutachtern und den im Maßregelvollzug Tätigen. Das Ergebnis: der rechtsstaatliche Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten (bzw. die Freiheit) wandelte sich zum im Zweifel für die Sicherheit.

IV. Der Fall Mollath und seine Folgen Eine Trendwende schien sich mit dem Fall Mollath anzubahnen, in dem nicht die Sicherheit der Allgemeinheit im Vordergrund stand, sondern die Situation des Betroffenen ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückte Dabei gerieten die Praxis der Gerichte und Gutachter in die Kritik. Das Klima für eine grundsätzliche Reform der Maßregel nach 63 StGB war günstig. Doch statt zu einer seit langem von der Fachwelt angemahnten und auch verfassungsrechtlich gebotenen Reform fehlt dem Gesetzgeber offensichtlich wieder einmal der Mut. Der vorliegende Regierungsentwurf zur Novellierung des Maßregelrechts nach 63 StGB beschränkt sich auf marginale Änderungen zu den Fragen, die in der medialen Diskussion um den Fall Mollath im Vordergrund standen. Das waren im wesentlichen die Voraussetzungen der Anordnung ( 63 StGB) und der Fortdauer der Unterbringung ( 67d StGB) sowie die Häufigkeit und die Anforderungen an Gutachten ( 463 StPO). Die Änderungen im Einzelnen 63 StGB - Nach dem bisherigen Wortlaut kam es ausschließlich auf die Qualität der befürchteten Taten, nicht der vom psychisch Kranken begangenen Tat, der sog. Anlasstat, an. Nach dem Entwurf soll künftig die Art der Anlasstat zwar nicht im Gesetz festgelegt werden, doch kann die Unterbringung nur angeordnet werden, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird. 67d StGB - Bei der Entscheidung über die Aussetzung des Vollzugs der Unterbringung ( 67d Abs. 2) soll es künftig darauf ankommen, ob "erhebliche" Straftaten zu befürchten sind. Nach 67d Abs. 6 hat das Gericht, wenn die weitere Vollstreckung der Unterbringung unverhältnismäßig wäre, diese für erledigt erklären. Was "unverhältnismäßig" heißt, wird nicht gesagt. Hier macht der Entwurf zwei Vorgaben für die Gerichte: Nach 6 Jahren ist die Fortdauer "in der Regel nicht mehr verhältnismäßig, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Zustandes erhebliche Taten (wie in 63 konkretisiert) begehen wird ; nach 10 Jahren muss diese Gefahr "zu erwarten" sein also nicht nur "in der Regel", sondern mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit. 463 StPO - Nach Absatz 4 soll das Gericht bei seinen jährlichen Überprüfungen gem. 67e nach jeweils 5 Jahren ein externes Gutachten einholen. Nach dem Entwurf soll dies künftig "nach jeweils drei Jahren, ab einer Dauer der Unterbringung von sechs Jahren nach jeweils zwei Jahren erfolgen.

Außerdem verlangt der Entwurf ausdrücklich und zwingend die Einholung einer "gutachterlichen Stellungnahme der Maßregelvollzugseinrichtung" und in Abs. 6 die "Anhörung des Verurteilten". Diese weitgehend die aktuelle Praxis der Gerichte wiedergebenden Änderungen sind keine Reform, sondern die bloße Reaktion auf den Fall Mollath. Im Hinblick auf die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassunsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011 und die hier formulierten Vorgaben für vorbeugende freiheitsentziehende Maßregeln (das betrifft sowohl die Sicherungsverwahrung wie den Maßregelvollzug) ist dies nicht nur bedauerlich, sondern verfassungswidrig! V. Reformbedarf Eine Reform muss bei den Ursachen der Fehlentwicklung, nicht an deren Folgen ansetzen. Das heißt insbesondere 1. Prävention Man weiß, dass weit über die Hälfte der Forensik-Patienten psychosekrank oder persönlichkeitsgestört sind, man weiß, dass von ihnen bis zu 80 % vor Begehung der Anlasstat bereits in stationärer Behandlung waren (zu einem großen Teil wiederholt), und man weiß, dass es sich bei den begangenen Delikten um Gewalttaten handelt (Tötungs-, Körperverletzungs- und Sexualdelikte) da stellt sich doch zwingend die Frage: Was wird getan, um diesen doch eingrenzbaren Personenkreis davor zu bewahren, straffällig zu werden? Die bereits erwähnten Präventionsprojekte sind ein Schritt in die richtige Richtung und sie bewähren sich. Daher sind flächendeckend Präventionsangebote zu schaffen im Interesse der Sicherheit der Allgemeinheit, des Opferschutzes und der zu Gewalt neigenden Patienten. 2. Ambulant vor stationär auch im Maßregelrecht Das geltende Recht sieht als Folge der Straftat eines krankheitsbedingt bei der Tat Schuldunfähigen nur eine stationäre Maßnahme, die Unterbringung vor. Deren Vollzug kann zwar ausgesetzt werden, aber die Anordnung ambulanter Maßnahmen als Alternative zur stationären Unterbringung ist nicht vorgesehen.

Man weiß, dass die durchschnittliche Verweilzeit im Maßregelvollzug inzwischen 8 Jahre beträgt und man weiß, welche körperlichen und psychischen Hospitalisierungsschäden eine so langen Unterbringung auch bei optimaler Versorgung mit sich bringt da stellt sich doch in vielen Fällen die Frage, ob die Unterbringung dem Gebot der Verhältnismäßigkeit entspricht. Weil die freiheitsentziehende Maßregel nach 63 ausschließlich präventiven Zwecken dient, handelt es sich um einen äußerst schwerwiegenden Grundrechtseingriff. Der präventive Freiheitsentzug darf deshalb nur nach Prüfung aller weniger einschneidenden Maßnahmen angeordnet werden. Daher muss 63 dahingehend geändert werden, dass das Gericht statt der Unterbringung auch ambulante Maßnahmen anordnen kann und dies in jedem Einzelfall zu prüfen hat. Zu 1 und 2: Um dies umzusetzen, müssen allerdings entsprechende ambulante Angebote in der Gemeindepsychiatrie vorhanden sein. Das ist heute nur sehr begrenzt der Fall, wie viele Beispiele zeigen, in denen die Entlassung aus dem Maßregelvollzug dadurch erschwert wird, dass keine geeigneten Nachsorge- bzw. Betreuungsangebote verfügbar sind. 3. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch im Vollzug Nicht nur für die Anordnung und Dauer der Unterbringung, sondern auch für die Gestaltung des Maßregelvollzugs gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Bundesverfassungsgericht betont immer wieder, dass während des präventiven Freiheitsentzugs das Gericht spricht hier von einem Sonderopfer - der Betroffene seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend zu behandeln ist ( Individualisierungsgebot ) und ihm keine weiteren Einschränkungen auferlegt werden dürfen, als sie zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Einrichtung oder aus therapeutischen Gründen erforderlich sind. Jede Einschränkung bedarf einer eindeutigen Rechtsgrundlage (s. hierzu die Entscheidungen zur Zwangsbehandlung im MRV) und ist an diesem Minimierungsgebot zu messen (s. hierzu die Entscheidung des OLG Hamm zum Recht auf Selbstversorgung). Die Praxis des Maßregelvollzugs in den einzelnen Kliniken ist in diesen Fragen sehr unterschiedlich. Das ist schon deshalb kein Wunder, da die Rechtsgrundlagen, die Vollzugsgesetze der einzelnen Bundesländer,

unterschiedliche Regelungen enthalten. Hinzu kommt, dass die meisten Patienten aus verschiedenen Gründen (u. a. Unwissenheit, Antriebslosigkeit, Angst vor Repressalien) sich gegen unzulässige Maßnahmen nicht wehren. Daher sind bundeseinheitliche Mindeststandards für die Gestaltung des Maßregelvollzugs zu fordern, um diesen verfassungsrechtlich bedenklichen Wildwuchs einzugrenzen und auch hier den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Geltung zu bringen. 4. Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes Bei aller Zwielichtigkeit im Falle Mollath eines wurde hier überdeutlich: ohne Unterstützung von außen befände sich H. Mollath wohl auch heute noch im Maßregelvollzug. Durch sein querulatorisches und inkooperatives Verhalten gegenüber Gericht und Gutachtern wurde er nicht mehr ernst genommen, wurden für ihn sprechende Gesichtspunkte überdeckt. Nur durch Hilfe von außen und die Einschaltung eines im Maßregelrecht kundigen Rechtsanwalts kam er zu seinem Recht. Das Beispiel zeigt: das geltende Recht gewährt zwar formal eine ganze Reihe von Rechtsbehelfen und sieht für das Gerichtsverfahren die Pflichtverteidigung vor. Doch dieser formal gegebene Rechtsschutz ist nicht effizient. Denn der Betroffene ist von Ausnahmen abgesehen krankheitsbedingt nicht in der Lage, seine Rechte "vernünftig" (d. h. effizient) wahrzunehmen. Und nur selten verfügt der Pflichtverteidiger über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen in dieser speziellen Materie zwischen Recht und Psychiatrie. Als Lösung bietet sich das Modell der Patientenanwaltschaft" in Österreich an, die dort vom Staat finanziert wird und unabhängig agiert; die Kliniken müssen sie über Einweisungen und beabsichtigte Zwangsmaßnahmen umgehend bzw. vorher informieren. Durch die laufende, "amtswegige" Betreuung aller Patienten haben die Mitarbeiter der Patientenanwaltschaft die nötige juristische Kompetenz und Erfahrung im Umgang mit psychisch Kranken, um deren Interessen wirksam vertreten zu können. Erste Schritte in diese Richtung gehen 7 ThUG (Beiordnung eines Rechtsanwalts) und 9 des Entwurfs zur Neufassung des MRVG-RP ( Beschwerdemanagement, um die defizitäre soziale u. ökonomische Kompetenz zahlreicher untergebrachter Personen auszugleichen (so die Begründung). Doch dem Pflichtverteidiger fehlen oft die erforderlichen speziellen Kenntnisse und gebührenbedingt - das nötige Engagement, dem Beschwerdemanagement die doch so wichtige Unabhängigkeit von der Einrichtung, von der der Untergebrachte total abhängig ist.