Traumapädagogische Überlegungen zur Kooperation «Fachaustausch Kooperation» Marc Schmid, Basel, 5.12.2013 Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik
Gliederung Ultrakurze Einführung in die Traumafolgestörungen und deren Auswirkungen auf die Pädagogik Warum braucht es eine Traumapädagogik? Was bedeutet Traumapädagogik? Konzept des sicheren Ortes für die betreuten Heranwachsenden und die Mitarbeiter. Traumapädagogische Überlegungen zur Kooperation traumapädagogische Haltungen in Kooperationsbeziehungen. Heimerziehung als Kooperation - Kooperation innerhalb der gesamten Versorgerkette Schlussfolgerungen 2
Einleitung Eines ist sicher, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht. Joachim Ringelnatz 3
Was ist ein Trauma? Traumatisches Lebensereignis Extreme physiologische Erregung Flucht Freeze Fight Traumasymptome 4
Bei einer Traumatisierung laufen parallel zwei unterschiedliche physiologische Prozesse ab Übererregungs-Kontinuum Fight oder Flight Alarmzustand Wachsamkeit Angst/Schrecken Adrenalin System wird aktiviert Erregung Serotonerge System verändert sich Impulsivität, Affektivität, Aggressivität Physiologisch Blutdruck (Pulsrate ) Atmung Muskeltonus Schmerzwahrnehmung Dissoziatives-Kontinuum Freeze ohnmächtige / passive Reaktion Gefühlslosigkeit / Nachgiebigkeit Dissoziation Opioid System wird Aktiviert Euphorie, Betäubung Veränderung der Sinnes-,,Körperwahrnehmung (Ort, Zeit, etc.) Physiologisch Pulsrate Blutdruck Atmung Muskeltonus Schmerzwahrnehmung 5
Traumatypologie nach L. Terr (1991) Typ I - Trauma Einzelnes, unerwartetes, traumatisches Erlebnis von kurzer Dauer. z.b. Verkehrsunfälle, Opfer/Zeuge von Gewalttaten, Naturkatastrophen. Öffentlich, besprechbar Symptome: Meist klare sehr lebendige Wiedererinnerungen Vollbild der PTSD Hauptemotion = Angst Eher gute Behandlungsprognose Typ II - Trauma Serie miteinander verknüpfter Ereignisse oder lang andauernde, sich wiederholende traumatische Erlebnisse. Körperliche sexuelle Misshandlungen in der Kindheit, überdauernde zwischenmenschliche Gewalterfahrungen. Nicht öffentlich Symptome: Nur diffuse Wiedererinnerungen, starke Dissoziationstendenz, Bindungsstörungen Hohe Komorbidität, komplexe PTSD Sekundäremotionen (z.b. Scham, Ekel). Schwerer zu behandeln 6
Biologische Faktoren Genetik, prä- und perinatale Risikofaktoren Soziale Wahrnehmung weniger soziale Kompetenzen Störungen der Empathiefähigkeit Mentalisierung Bindungsstörung Störungen der Interaktion PTSD: Hyperarousal, Intrusionen, Vermeidung Selbstwert, Gefühl d. Selbstunwirksamkeit kognitive Schemata Invalidierende, vernachlässigende Umgebung Typ-II-Traumata Störung der Impulskontrolle Selbstregulation Stresstoleranz Störung der Emotionsregulation Schmid (2008) Dissoziationsneigung/ Sinneswahrnehmung Störungen des Körperselbst Körperwahrnehmung Somatisierung Störung der exekutiven, kognitiven Funktionen 7
Strategien, um belastende Bindungen eingehen zu können Das Kind muss den Anteil in sich unterdrücken, der das Böse im Elternteil entdecken könnte. J. Freyd 1996 Die Kinder zeigen Anzeichen von Dissoziation, Freeze und Fragmentierung, wenn sie mit ihren Eltern unter Stress interagieren. Downing (2007), Liotti (2005). 8
Traumata 80% berichten traumatische Erlebnisse im ETI 49% geben 3 oder mehr traumatische Erlebnisse an 80% Kein traumatisches Erlebnis Mindestens ein traumatisches Erlebnis 20% N=420 9
Abbrüche in der Heimerziehung 16% der MAZ.-Stichprobe beendeten die Massnahme ungeplant vor dem zweiten Messzeitpunkt. 20% der Heimerziehungen enden ungeplant nach dem ersten Jahr (Deutsches Statistisches Bundesamt 2012). Die Länge der Heimerziehung korreliert positiv mit dem Erfolg der Massnahme (Mascenaere & Knapp 2007; MAZ. 2013, Wolff 2009), weshalb frühe Abbrecher problematisch sind. In MAZ. durchlief die Hälfte der Jugendlichen in der Stichprobe mehr als eine Fremdunterbringung, 30% mehr als zwei und 6% mehr als fünf Fremdplatzierungen! Es gibt immer wieder einzelne männliche und weibliche Jugendliche, die alle Hilfesysteme sprengen, von Institution zu Institution weitergereicht werden und oft zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, forensischer Jugendpsychiatrie und verschiedenen offenen und geschlossenen sozialpädagogischen Institutionen pendeln. 10
Viele Beziehungsabbrüche I Je mehr Beziehungsabbrüche und gescheiterte Hilfen in der Vorgeschichte, desto schlechter die Wirksamkeit der aktuellen Jugendhilfemassnahme und desto höher das Risiko für weitere Abbrüche (EVAS 2004, Schmidt et al. 2002). Jeder Wechsel ist zudem mit Ressourcenaufwand / Kosten im Jugendhilfesystem verbunden. Die Zahl der Beziehungsabbrüche geht mit einer höheren und schweren Delinquenz (Ryan & Testa 2004) sowie einer stärkeren Teilhabebeeinträchtigung (Aarons et al. 2010) auf dem weiteren Lebensweg einher. Wesentlich höhere Folgenkosten im medizinischen Bereich (Rubin et al. 2004). 11
Viele Beziehungsabbrüche II Je mehr Beziehungsabbrüche, desto schlechter die Bindungsqualität und desto wahrscheinlicher Bindungsstörungen (Schleiffer 2002, Pérez et al. 2011). Klienten mit positiven Beziehungserfahrungen haben einen besseren Verlauf bei psychosozialen Interventionen (Zersen et al. 2006, Skodol et al. 2007). Im Sinne der aus der psychoanalytischen Familientherapie stammenden Replikationshypothese können viele Beziehungsabbrüche auch als unbewusste Wiederholung von innerfamiliären Beziehungserfahrungen betrachtet werden. Beziehungsabbrüche belasten nicht nur die Heranwachsenden sondern auch die beteiligten Fachkräfte auf den Wohngruppen und die Pflegeltern, da diese ebenfalls eine emotionale Beziehung zu den Heranwachsenden aufgebaut haben. 12
Martin Kühn, 2009 13
Eigentlich ein altbekanntes physikalisches Prinzip Reihenschaltung RGes = R1 + R2 Parallelschaltung Rges = 1/R1 + 1/R2 Bei einer Reihenschaltung von Widerständen / psychosozialen Hilfen wird der Widerstand größer Bei einer Parallelschaltung von Widerständen / psychosozialen Hilfen wird der Widerstand kleiner als die einzelnen Widerstände (vgl. Rosen- Runge 2009) 14
Traumapädagogik: Korrigierende Beziehungserfahrung Traumapädagogische Haltung Traumatisierendes Umfeld Unberechenbarkeit Einsamkeit Nicht gesehen/gehört werden Geringschätzung Bedürfnisse missachtet Ausgeliefert sein andere Bestimmen absolut über mich Leid Traumapädagogisches Milieu Transparenz /Berechenbarkeit Beziehungsangebote/ Anwaltschaft Beachtet werden/wichtig sein Wertschätzung (Besonderheit) Bedürfnisorientierung Mitbestimmen können - Partizipation Freude 15
Zwei Ebenen der Emotions- und Beziehungsregulation Gegenwärtige Wirklichkeit Wahrnehmung Körperreaktion Gedanken Handlungsdrang Normale Beziehungen Gefühle Aktuelle Gefühlsreaktionen (nicht nur eigene) werden heftiger und als potentiell bedrohlich erlebt Vergangenes traumatisches Erleben Wahrnehmung Körperreaktion Gedanken Gefühle Handlungsdrang = Freeze/Fight/Flight Gefährliche Beziehungen Glaubenssätze Selbstbild 16
Wirkungsweise der Milieutherapie Gegenwärtige Wirklichkeit Wahrnehmung Körperreaktion Gedanken Handlungsdrang Gefühle Traumapädagogisches Milieu / Therapie Korrigierende Erfahrungen mit Gefühlen und Beziehungen im pädagogischen Alltag. Schutz vor Retraumatisierung und den damit verbunden Gefühlen. Wahrnehmung Körperreaktion Gefühle Gedanken Handlungsdrang Vergangenes traumatisches Erleben Förderliche Beziehungsgestaltung Wahrnehmung Körperreaktion Gefühle Gedanken Handlungsdrang = Freeze Glaubenssätze und Selbstbild verändern sich nur durch alternative Beziehungserfahrungen und gute Therapie. 17
Grundidee zur Analyse von Problemverhalten Vom Du zum Wir Überspitzt das klassische Modell Erziehungsmassnahmen zur Veränderung 18
Grundidee zur Analyse von Problemverhalten Vom Du zum Wir Überspitzt das klassische Modell Kind muss sich verändern Erziehungsmassnahmen zur Veränderung 19
Grundidee zur Analyse von Problemverhalten Vom Du zum Wir Interaktion pädagogische Begegnung 20
Grundidee zur Analyse von Problemverhalten Vom Du zum Wir Die Beziehungsfähigkeit des Kindes soll sich verbessern? Wie können wir gemeinsam unsere Ziele erreichen und die entwicklungsaufgaben des Kindes erfüllen? Interaktion pädagogische Begegnung 21
Neue Beziehungserfahrungen führen zu Veränderung 22
Der sichere Ort Konzept des sicheren Ortes Nur ein sicherer Ort erlaubt es, die hochwirksamen Überlebensstrategien aufzugeben und alternative Verhaltensweisen zu erlernen. 23
Haltung Sicherer Ort Sicherer Ort = Äussere Sicherheit + Innere Sicherheit 24
Kooperationsbeziehung als Sicherer Ort Sicherer Ort für die Kinder und Jugendlichen Sicherer Ort für die Mitarbeiter Sicherer Ort für Leitung Sicherer Ort für Träger Sicherer Ort 25
Haltungselemente Ebene des Kindes in der Pädagogik Kooperationspartner Gleichwürdigkeit Authentizität Wertschätzung der Bedürfnisse des Kindes als Gleichwertig mit denen der Erwachsenen Man reagiert dem Kind gegenüber authentisch und kommuniziert seine Grenzen, Motive und Emotionen transparent. Gleiche Wertschätzung der Profession, Arbeitsleistung der beteiligten Kooperationspartner. Man reagiert dem Kooperationspartner gegenüber authentisch und kommuniziert seine Grenzen, Motive und Emotionen transparent. Integrität Die Eltern /Pädagogen achten auf ihre eigene Integrität und achten die Integrität ihrer Kinder. Grenzen, Kompetenzen und Autonomiebedürfnisse der Kinder werden gewahrt. Jeder Kooperationspartner und Disziplin achtet auf ihre eigene Integrität und beachtet die der anderen. Die Grenzen aber auch die ureigensten Kompetenzen der eigenen Profession werden gewahrt und bewusst eingebracht. Verantwortung Freude Die Eltern/Pädagogen übernehmen ihre Verantwortung übertragen dem Kind aber auch die seinem Entwicklungstand entsprechende Eigen- Verantwortung und unterstützen die Kinder ihre Verantwortung adäquat zu übernehmen. Es wird gemeinsam gelacht und Aktivitäten die Freude machen werden gemeinsam untermauert Die Kooperationspartner übernehmen Verantwortung für ihre Belange und übertragen und lassen die Verantwortung bei anderen Kooperationspartner Freude in der Kooperation leben, sich auch ausserhalb der Fallarbeit besuchen.
Haltungselemente Ebene des Kindes Kooperationspartner Unbedingte Wertschätzung "Guter Grund" Wertschätzung der Überlebensleistung und der Besonderheit des Kindes. Hinter jedem Problemverhalten und Widerstand des Kindes steckt ein "guter Grund". Wertschätzung der Profession, Arbeitsleistung. Hinter Fehlverhalten oder Widerstand eines Kooperationspartners steckt "ein guter Grund". Individualisierung Jedes Kind benötigte eine andere Förderung und es darf nicht über- und unterfordert werden. Auf die Bedürfnisse der Kinder wird individuell eingegangen. Jeder Kooperationspartner und Disziplin. Hat spezifische Stärken die Sie in den Hilfeprozess einbringen kann. Achtsamkeit Achtsamkeit auf Spannungszustände, Anzeichen von Über- und Unterforderung. Achtsamkeit auf Verhaltensweisen, die sich negativ auf die Kooperation und die Beziehung der Partner auswirken könnten. Transparenz Das Kind wird über alle für das Kind relevanten Abläufe informiert und die Motive der Erwachsenen werden offen gelegt und gegebenenfalls erklärt Ich informiere die Kooperationspartner Transparent und zeitnah über die Abläufe, Geschehnisse (d.h. auch die Probleme) und die Motive werden offen gelegt und erklärt Partizipation Wichtige Entscheidungen und Regelungen werden gemeinsam ausgehandelt. Das Kind darf, wo immer möglich, (mit)entscheiden. Wichtige Entscheidungen und Regelungen werden gemeinsam ausgehandelt. Kooperationspartner können, wo immer möglich, (mit)entscheiden.
Balancen gelingender Kooperation Die Austausch- oder Equitytheorie Geben Nehmen 28
Balancen gelingender Kooperation Die Austausch- oder Equitytheorie Ressourcenaufwand Konkreter Nutzen 29
Sicherer Ort in Kooperation Zwei Seiten einer Medaille können den Sicheren Ort gefährden Mache ich alles richtig : 1. Nach Innen: Erreiche ich das notwendige für die Versorgung der Bedürfnisse meiner Kinder, Jugendlichen bzw. Kollegen und Mitarbeiter? 2. Nach Außen: Repräsentiere ich meine Institution gut, souverän und professionell gegenüber unseren Kooperationspartnern? 30
Institution Leitung Versorger Fachdienst Gruppenpädagogen Kind Externe Hilfen: Kollegiale Intervision/ Supervision/ Coaching/Therapie
Warum sind Kooperationen in der Heimerziehung so wichtig? Fazit: You ll never walk alone Erfolgreiche Heimerziehung besteht aus erfolgreichen Kooperationen, vielen Kooperationen. Schon durch die Struktur der Heimerziehung sind viele Kooperationen notwendig (öffentliche Jugendhilfe bzw. Zuweiser, Träger, Eltern, Schule/Ausbildung). Viele Kinder und Jugendlichen haben einen derartig hohen psychosozialen Unterstützungsbedarf, dass sie sehr viel mehr Hilfen in Anspruch nehmen müssen. Teilweise limitieren die Ressourcen der Heimerziehung die Kooperationsmöglichkeiten, weshalb die betroffenen Jugendlichen nicht alle Unterstützenmöglichkeiten, die es für sie gäbe, nutzen bzw. ausnützen können. 32
Professionelle Kooperationen, die für ein typisches Heimkind/-jugendlichen notwendig und sinnvoll werden könnten Zuweisende Behörde Andere Eltern Spezifische Förderung (Ergo-, Moto-, Physiotherapie, Heilpädagogik) Schule/Ausbildung Nachhilfe/LRS etc. Strafrechtliches (JUGA, JGH, Anwälte) Betreuter Jugendlicher Berufsberatung, ARGE Opferhilfestellen Hausarzt/Pädiater Familienrechtliche Kinderanwalt bzw. Verfahrenspfleger Kinder- und Jugendpsychiatrie Spezifische Beratungsstellen Drogen-, Schuldnerberatung Psychotherapeut 33
Kreismodell von verschiedenen Kooperationen Funktionsträgerebene kooperieren miteinander Leitung Fachdienst Versorger Team Jugendamt Kinderund Jugendpsychiatrie Kind 34
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Heimerziehung besteht aus gelingenden Kooperationen Kooperationen sind zentraler Bestandteil erfolgreicher Heimerziehung. Man kann nicht Nicht-Kooperieren. Es gibt viele gute Gründe für wenig Kooperationsbeziehungen. Diese guten Gründe müssen versorgt sein. Erfolgreiche Kooperationen haben viel mit der Sicherheit aller Funktionsträger im Auftritt nach innen und aussen zu tun. Traumapädagogische Haltungen lassen sich gut auf Kooperationsbeziehungen übertragen. Die Sicherheit und Selbstwirksamkeit der Mitarbeiter in den Kooperationsbeziehungen sollten kontinuierlich unterstützt und gefördert werden (Versorgung, Weiterqualifikation, gemeinsame Falldefinition). Es müssen überdauernde, nicht nur von einzelnen Personen abhängige Kooperationsstrukturen aufgebaut werden. Der Zeitaufwand dafür zahlt sich langfristig um ein Vielfaches aus! Wichtig ist es eine gemeinsame Haltung gegenüber den Kindern zu entwickeln. 35
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Auf die Haltung kommt es an! Haltung ist eine kleine Sache, die einen grossen Unterschied macht. Sir Winston Churchill http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=datei:c hurchill_v_sign_hu_55521.jpg&filetimestamp=2 0080414235020 36
Kontakt Literatur Kontakt: Dr. Marc Schmid Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Schanzenstrasse 13, CH-4056 Basel 0041 (0)61 265 89 74 marc.schmid@upkbs.ch www.equals.ch www.ipkj.ch www.upkbs.ch 37