MODUL 5 Sachverhalt Die K-GmbH betreibt in Frankfurt am Main einen Gebrauchtwagenhandel mit 27 fest angestellten Mitarbeitern, welche C als Geschäftsführer leitet. A ist seit Anfang Dezember 2003 bei der K-GmbH als Verkaufsleiter einer Filiale in Offenbach tätig und unterliegt dort dem Weisungsrecht des Geschäftsführers C. Im Arbeitsvertrag ist vereinbart, dass A an vier Tagen in der Woche jeweils 10 Stunden am Tag seine Arbeitsleistung zu erbringen hat. Aufgrund eines erheblichen Verkehrsunfalls ist A seit Anfang des Jahres arbeitsunfähig und beantragt am 30.03.2017 beim Amt für Familie und Soziales (Versorgungsamt) - rückwirkend ab dem 14.01.2017 - die Feststellung einer Behinderung (inkl. des Grades) sowie die Ausstellung eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises. Mit Bescheid vom 21.04.2017 stellt das Versorgungsamt eine Schwerbehinderung des A mit einem Grad der Behinderung von 100 rückwirkend ab dem 14.01.2017 fest. Aufgrund mangelnder Ertüchtigung und Langeweile zu Hause ruft A regelmäßig bei der Filiale in Offenbach an, um sich über Neuigkeiten informieren zu lassen. Nach einiger Zeit bemerkt A allerdings, dass die Anrufe seitens seiner Kollegen ignoriert werden oder er direkt an das Sekretariat weitergeleitet wird. Erbost über die Missgunst seiner Kollegen schreibt er am 24.04.2017 eine Rundmail an seine Firma, dass man so nicht mit einem Verkaufsleiter umgehen könne und dass es generell gegen jede Anstandsregel verstoße, in solch einer Form mit einem Schwerbehinderten umzugehen. In einem anschließenden Klärungsgespräch am 26.04.2017 mit Geschäftsführer C der K- GmbH eskaliert die Situation zunehmend und das Telefonat endet mit wüsten Beleidigungen und Drohungen seitens des A. Daraufhin kündigt die K-GmbH, die dabei durch Geschäftsführer C vertreten wird, das Arbeitsverhältnis des A mit Schreiben vom 15.05.2017, welches diesem noch am selben Tag zugeht, fristlos. Der Betriebsrat wurde am 28.04.2017 ordnungsgemäß angehört. Danach hatte die K-GmbH am 30.04.2017 den Antrag zur Kündigung schriftlich beim Integrationsamt eingereicht, welcher dort am 01.05.2017 einging. Die Zustimmung des Integrationsamtes erhielt die K-GmbH am 12.05.2017. Die Unterrichtung und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung erfolgte daraufhin am 13.05.2017. Gegen die Kündigung erhebt A unverzüglich Kündigungsschutzklage und macht geltend, die Kündigung sei wegen verspätet erfolgter Anhörung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam. Aufgrund der nachträglichen Anhörung hätte die Schwerbehindertenvertretung keinen Einfluss mehr auf die Entscheidung des Arbeitgebers nehmen können, was allerdings genau deren Funktion sei. Spätestens durch die Rundmail habe der K-GmbH bewusst gewesen sein müssen, dass er eine Schwerbehinderung aufweise. Die K-GmbH vertritt dagegen die Ansicht, dass die Kündigung gegenüber A fehlerfrei erklärt worden sei. Eine Anhörung der Schwerbehindertenvertretung sei zwar notwendig geworden, allerdings gäbe es keine Vorschrift, die den zeitlichen Zusammenhang zwischen der Anhörung der Schwerbehindertenvertretung und dem Antrag des Arbeitgebers beim Integrationsamt genau regle. Im Übrigen habe A es versäumt, den Bescheid über die Schwerbehinderung überhaupt nicht vorgelegt. Ist die beim Arbeitsgericht Frankfurt a.m. fristgerecht eingelegte Kündigungsschutzklage des A zulässig und begründet? S. 1
Zusatzfragen: Welchen besonderen Kündigungsschutz genießen (1) Arbeitnehmer in Elternzeit, (2) Arbeitnehmerinnen während der Schwangerschaft, (3) Mitglieder eines Betriebsrates, (4) Wahlbewerber für den Betriebsrat und (5) Auszubildende? S. 2
Modul 5 Lösungsskizze A. Zulässigkeit der Klage I. Eröffnung des Rechtswegs - 2 I Nr. 3b ArbGG II. Zuständigkeit des Arbeitsgerichts - sachliche Zuständigkeit: 8 I ArbGG - örtliche Zuständigkeit: 46 II 1 ArbGG ivm. 12, 17 ZPO (Sitz der beklagten Gesellschaft) 46 II 1 ArbGG ivm. 12, 29 ZPO (Erfüllungsort) 48 Ia ArbGG (Arbeitsort) III. Klageart - Kündigungsschutzklage als besondere Feststellungsklage, 4 S. 1 KSchG IV. Feststellungsinteresse, 256 ZPO - drohende Heilung einer eventuellen Unwirksamkeit der Kündigung nach Ablauf der Präklusionsfrist, vgl. 13 Abs. 1 S. 2, 4 S. 1, 7 KSchG V. Partei- und Prozessfähigkeit bzgl. K als natürlicher Person unproblematisch bzgl. C-GmbH: - Parteifähigkeit: 50 I ZPO ivm. 13 Abs. 1 GmbHG - Prozessfähigkeit: 51 I ZPO ivm. 35 Abs. 1 GmbHG (Vertretung durch den Geschäftsführer erforderlich) S. 3
B. Begründetheit der Klage I. Vorliegen einer wirksamen Kündigungserklärung - Schriftformerfordernis, 623 BGB ivm. 126 BGB (+) - Zugang gemäß 130 Abs. 1 S. 1 BGB am 15. Mai 2017 (+) - Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers C gemäß 35 Abs. 1 GmbHG (+) II. Wahrung der Präklusionsfrist - 13 Abs. 1 S. 2, 4 S. 1, 7 KSchG: 3-Wochen-Frist - rechtzeitige Erhebung lt. Sachverhalt (+) III. Anhörung des Betriebsrats - wurde ordnungsgemäß am 28.04.2017 angehört IV. Zustimmung des Integrationsamtes gem. 85 SGB IX? - gemäß 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen (vgl. 2 SGB IX) durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes - gilt auch für außerordentliche Kündigungen ( 91 Abs. 1 SGB IX) - Versorgungsamt hat am 21. April 2017 und damit vor Zugang der fristlosen Kündigung die Schwerbehinderung des A mit GdB von 100 festgestellt (rückwirkend ab dem 14.01.2017) - Ausschlussgründe nach 90 Abs. 2a SGB IX liegen nicht vor z. Zt. der Kündigung lag die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch vor Sonderkündigungsschutz gem. 85 SGB IX greift im Grundsatz für A ein 1. Fehlende Vorlage des Bescheides über die Schwerbehinderung - 90 Abs. 2a SGB IX verlangt nicht, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber den Bescheid über die Schwerbehinderung vorlegt - ausreichend ist die objektive Existenz eines geeigneten Bescheides, der die Schwerbehinderung nachweist S. 4
2. Rechtzeitige Antragstellung beim Integrationsamt - Antrag beim Integrationsamt kann nur innerhalb von zwei Wochen nach Kenntniserlangung des Arbeitgebers von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen gestellt werden, 91 Abs. 2 SGB IX - Integrationsamt entscheidet über den Antrag innerhalb von zwei Wochen; wird die Entscheidung nicht innerhalb der zwei Wochen getroffen, gilt die Zustimmung als erteilt ( 91 Abs. 3 S. 2 SGB IX) - Wissenszurechnung bei der GmbH über den Geschäftsführer C ( 166 BGB oder 31 BGB analog) Kenntniserlangung bei C am 26.04.2017 Antragsstellung am 30.04.2017 Zustimmung des Integrationsamtes am 12.05.2017 erteilt 3. Ergebnis keine Unwirksamkeit der Kündigung nach 85 SGB IX V. Kündigungserklärungsfrist, 626 Abs. 2 BGB - Kenntniserlangung bei C: Telefonat am 26.04.2017 - Ausspruch und Zugang der Kündigung: 15.05.2017 - verspätet? 91 Abs. 5 SGB IX: unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung - hier: Zustimmung am 12.05.; Kündigung am 15.05. noch unverzüglich isd. Norm Kündigungserklärungsfrist gewahrt VI. Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung gem. 95 SGB IX - Kündigung eines Schwerbehinderten bedarf seit 01.01.2017 gem. 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX der Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung - jetzt: Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung S. 5
- Gesetz enthält aber keine Angaben zu Fristen oder Reihenfolge der Beteiligung - Beteiligung ist ise. Anhörung, nicht aber ise. Zustimmung zu verstehen Orientierung an 102 BetrVG (bzgl. Äußerungsfristen etc.) Zeitpunkt der Unterrichtung? - hier erfolgte die Unterrichtung erst am 13.05., also nach Antragstellung beim Integrationsamt Auslegung: - Wortlaut: 95 II 3 SGB IX: Beteiligung nach S. 1 95 II 1 SGB IX: vor einer Entscheidung - Sinn und Zweck: Beteiligung der SBV soll Mitwirkung an der Willensbildung des Arbeitgebers sicherstellen im Zeitpunkt der Antragstellung zur Zustimmung des Integrationsamtes ist die Entscheidung über die Kündigung regelmäßig bereits gefallen eine erst im Anschluss erfolgte Anhörung der SBV würde somit leerlaufen Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung muss daher stets vor Antragstellung beim Integrationsamt erfolgen anders: Verhältnis zur Anhörung des Betriebsrats - Integrationsamt überprüft speziell behindertenspezifische Sachverhalte (genau wie die Schwerbehindertenvertretung) - dagegen kann der Betriebsrat auch davon unabhängige allgemeine arbeitsrechtliche Einwendungen gegen die Kündigung vorbringen - daher ist die Betriebsrats-Anhörung unabhängig von der Frage nach der gesonderten Schwerbehinderten-Beteiligung von Integrationsamt und Schwerbehindertenvertretung zu sehen diese kann daher sowohl vorher als auch erst im Anschluss an die Stellung des Antrags beim Integrationsamt erfolgen S. 6
Denkbare Reihenfolgen sind also: - 1. BR + SBV (parallel), 2. Antrag beim Integrationsamt - 1. BR, 2. SBV, 3. Antrag beim Integrationsamt - 1. SBV, 2. BR, 3. Antrag beim Integrationsamt - 1. SBV, 2. Antrag beim Integrationsamt, 3. BR Unwirksam dagegen wäre: - 1. BR, 2. Antrag beim Integrationsamt, 3. SBV - 1. Antrag beim Integrationsamt, 2./3. BR und/oder SBV Hier: SBV erst nach Antrag beim Integrationsamt Kündigung unwirksam gem. 95 II 3 SGB IX VII. Wichtiger Grund gemäß 626 BGB - darauf, ob ein wichtiger Grund zur Kündigung im Sinne von 626 BGB vorlag, kommt es nicht (mehr) an VIII. Ergebnis Die fristlose Kündigung vom 15. Mai 2017 ist nach 134 BGB nichtig. Sie hätte der vorherigen Zustimmung der Schwerbehindertenvertretung gemäß 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX bedurft. Die zulässige Klage ist auch begründet und wird daher Erfolg haben. S. 7
Zusatzfragen: Geschützter Personenkreis Ordentliche Kündigung Außerordentliche Kündigung Frauen in der Schwangerschaft Verboten, 9 MuSchG (Erlaubnis möglich, aber selten, 9 Abs. 3 MuSchG) Arbeitnehmer in Elternzeit Verboten, 18 Abs. 1 S. 1 BEEG (Erlaubnis möglich, aber selten, 18 Abs. 1 S. 2 4 BEEG) Mitglieder eines Betriebsrates Grds. verboten, 15 Abs. 1 KSchG Zustimmungsbedürftig, 103 Abs. 1 BetrVG Wahlbewerber für den Betriebsrat Grds. verboten, 15 Abs. 3 KSchG s.o. Auszubildende Verboten nach der Probezeit, arg. 22 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BBiG Erlaubt, 22 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3, Abs. 4 BBiG S. 8