Die Begutachtung von Straftätern zur Feststellung der Schuldfähigkeit

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Geisteswissenschaft Marcel Kolb Die Begutachtung von Straftätern zur Feststellung der Schuldfähigkeit Doktorarbeit / Dissertation

1. EINLEITUNG: SCHULDFÄHIGKEITSBEURTEILUNG 1.1 DEFINITION Der Begriff der Schuldfähigkeit entstammt nicht der Psychiatrie oder Psychologie. Dennoch werden diese beiden Wissenschaftszweige vom Gericht genutzt, um beurteilen zu können, ob jemand für sein Handeln zur Verantwortung gezogen werden kann. Die forensische (gerichtliche) Psychiatrie und die forensische Psychologie nehmen eine Art Vermittlerrolle ein, in der sie Konzepte ihre Wissenschaften in die Rechtswissenschaften übertragen. Die für das Gericht tätigen Sachverständigen haben die Aufgabe, festzustellen, ob bei dem jeweiligen Täter einer der in dem 20 StGB 1 genannten Rechtsmerkmale vorliegt. Bei den im Strafgesetz aufgeführten Kategorien handelt es sich um die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinstörung, den Schwachsinn und die schwere andere seelische Abartigkeit. Es handelt sich hierbei um Rechtsbegriffe, die keinen psychiatrischen oder psychologischen Ursprung haben und auf die im zweiten Kapitel noch näher eingegangen wird. Wird eine psychiatrisch-psychologische Diagnose, welche sich unter eine der genannten Rechtskategorien einordnen lässt, festgestellt, so ist zu überprüfen, ob diese in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Straftat stand und vor allem, ob der Täter, falls ihm das Unrecht seiner Tat überhaupt bewusst war, nicht doch seinem Drang hätte widerstehen und anders hätte handeln können. Kommt es zu der Annahme einer Schuldunfähigkeit gem. 20 StGB oder der verminderten Schuldfähigkeit gem. 21 StGB, so ist diese nur von dem jeweiligen Richter auszusprechen. 2 1.2 HISTORISCHER ÜBERBLICK Bis in das 16. Jahrhundert wurde die Frage, ob der Täter zur Tatzeit im Vollbesitz seiner geistigen Sinne gewesen war, durch die Gerichtspersonen beantwortet. Es handelte sich hierbei also um eine laienhafte Begutachtung, die durch den gewöhnlichen gesunden Menschenverstand die strafrechtliche Verantwortlichkeit aussprach. 3 Die intensive Auseinandersetzung mit der Psyche des Täters begann mit Samuel Pufendorf (1632-1694). Dieser sah die Voraussetzung, zur Feststellung einer strafbaren Handlung, in der Frage nach der Willensfreiheit begründet. Er ging davon 1 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen 2 Vgl. Rasch, W. : Forensische Psychiatrie. Stuttgart (Kohlhammer Verlag) 1999, S. 354 ff 3 Vgl. Schmidt-Recla, A. : Theorien der Schuldfähigkeit. Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2000, S. 58 1

aus, dass sich die Handlungen nach Erkenntnis und freiem Willen richten. 4 Nach Pufendorf wird auf der willensbezogenen Seite die Handlung des Menschen einerseits durch eine intellektuell geprägte Willenskomponente gesteuert, andererseits werden die Handlungen durch einen, nach den moralischen Grundsätzen geprägten, Willensbestandteil beeinflusst. Beide Handlungskomponenten ergänzen sich gegenseitig. Grundlage seiner Theorie ist der unbestimmte freie Wille des Menschen. 5 Anselm v. Feuerbach (1775-1833) widersprach diesem Ansatz und lehnte es ab, die Willensfreiheit auf dem Rechtsgebiet anzusiedeln. Er trennte Recht und Sittlichkeit. Des weiteren erkannte er ein äußeres Recht, sich unmoralisch zu verhalten, an. Er unterschied zwischen sittlicher und rechtlicher Schuldzurechnung und bemaß sie nach verschiedenen Kriterien. Die moralische Schuld orientiert sich, nach Feuerbach, am geschehenen subjektiven Unrecht und die rechtliche Schuld wird anhand der Empfänglichkeit auf strafrechtliche Abschreckung bemessen. Die Grundlagen zur Beurteilung der Strafwürdigkeit versuchte er aus dem Wesen und dem Zweck der Strafe zu ermitteln. 6 Ab etwa 1820 begann die Psychiatrie sich im Arbeitsfeld des Gerichtes anzusiedeln. Etwa zeitgleich wurden die ersten Gesetzesformulierungen der Schuldfähigkeit, die damals noch Zurechnungsfähigkeit genannt wurde, entwickelt. 7 Bis 1855 setzte sich in Deutschland die gemischte Methode weitgehend durch. Sie ähnelt der heute angewandten Methode. Damals bestand sie aus den biologischen (heute: psychischen) und den psychologischen (heute: normativen) Kriterien. Sie führte zwischen Richtern und Psychiatern lediglich zu Kompetenzstreitigkeiten. Welche der beiden Parteien die Bewertung der Frage, ob die freie Willensbestimmung ausschlossen war, durchführen darf. Hierüber sind sich die Streitparteien bis heute nicht einig geworden. 8 In den Gesetzesänderungen von 1933/34 wurde der Begriff der freien Willensbestimmung in die einzelnen Bestandteile der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zerlegt. Jedoch wurde mit dieser Umformulierung der Streit um die Freiheit des Willens, als Vorraussetzung der Zurechenbarkeit, nicht beseitigt. Eine weitere Gesetzesänderung bestand in der Einführung der verminderten Schuldfähigkeit, die mit dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und 4 Vgl. Schmidt-Recla, A. : Theorien der Schuldfähigkeit, S. 58 unter Bezug auf Pufendorf 5 Vgl. Gschwend, L. : Zur Geschichte der Lehre der Zurechnungsfähigkeit. Zürich (Schulthess Polygraphischer Verlag) 1996, S. 136 f. unter Bezug auf Pufendorf 6 Vgl. Schmidt-Recla, A. : Theorien der Schuldfähigkeit, S. 58 f. unter Bezug auf Feuerbach 7 Vgl. ebd., S. 18 8 Vgl. ebd., S. 61 2

den Maßregeln der Sicherung und Besserung 9 von 1933 in Kraft trat. Die Rechtskategorien, die Einfluss auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit hatten, waren damals die Bewusstseinstörung, die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und die Geistesschwächen. 10 In der Gesetzesänderung von 1960 musste die Bewusstseinstörung der krankhaften seelischen Störung (Geistestätigkeit fiel in der Neuformulierung weg) gleichwertig sein, und die Geistesschwächen wurden in Schwachsinn umformuliert. Die nachfolgende Gesetzesumformulierung des 20 StGB von 1975, die noch bis heute besteht, erweiterte die rechtlichen Eingangsmerkmale um die anderen schweren seelischen Abartigkeiten. Außerdem mussten die festgestellten Bewusstseinsstörungen von nun an tiefgreifend sein. Die Erweiterungen der Rechtskategorien ist darauf zurückzuführen, dass sich erst allmählich psychologische Erklärungsansätze durchsetzen konnten und so auch Neurosen und Persönlichkeitsstörungen als Gründe, für eine aufgehobene oder verminderte Schuldfähigkeit, in Frage kamen. Die anfangs fast ausschließliche klinische Psychiatrie erkannte diese Störungen nicht an. 11 1.3 IST-ZUSTAND Die im Strafgesetz formulierten Fragen nach der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind, nach Rasch, nur normativ zu beantworten. Die Sachverständigen können hierzu nur gewisse Annäherungswerte bieten, die sich auf ein Muster der krankhaften Veränderung der Persönlichkeit beziehen. Bevor jedoch Aussagen über die Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit getroffen werden können, ist von dem Sachverständigen, bei Vorliegen einer psychischen Störung zur Tatzeit, die Schwere dieser Störung zu ermitteln. Nach Rasch orientiert sich diese an dem sogenannten strukturell-sozialen Krankheitsbegriff, der das Störungsbild in der Konfrontation mit den gesellschaftlichen Anforderungen verdeutlichen soll. Der zu beurteilende Zustand muss der Struktur einer Krankheit oder Störung entsprechen, die die allgemeine soziale Kompetenz der Persönlichkeit beeinflusst. Unter der Einschränkung der sozialen Kompetenz wird z.b. Einengung der Lebensführung, Arbeitsunfähigkeit, Kontaktabbruch, entstellte Realisationsbeurteilung, Festlegung auf bestimmte Verhaltensmuster und Häufung sozialer Konflikte verstanden. 12 9 heute: Maßregeln der Besserung und Sicherung genannt ( 61 ff. StGB) 10 Vgl. Schmidt-Recla, A. : Theorien der Schuldfähigkeit, S. 82 ff. 11 Vgl. ebd., S. 88 f. 12 Vgl. Rasch, W. : Forensische Psychiatrie, S. 50 f., S. 354 f. 3

Auf dieser Grundlage werden nun die folgenden Dimensionen überprüft: Persönlichkeit/Krankheit, körperliche Befunde, exogene Einflüsse, Entwicklung zur Tat und Verhalten unmittelbar vor, bei und nach der Tat. Dabei sollte folgendes beachtet werden: Gibt es Anzeichen, die auf eine seelische oder körperliche Störung deuten? Wichtig ist, dass es nicht Symptome sein sollten, die nur während der Tat auftraten, sondern sich schon im Vorfeld zeigten. Zu nennen sind hier z.b. Sinnestäuschungen, Zwänge, Phobien, spezielle Sexualpraktiken, Verstimmungszustände und Tendenzen zu aggressiven Ausbrüchen. Treten die Symptome nur als randständige Erscheinungen auf oder nehmen sie Einfluss auf die gesamte Persönlichkeit? Werden Wahrnehmung, Erlebnisbereitschaft und Realitätsinterpretation hierdurch bestimmt? In wie weit hat die Störung Auswirkungen auf die allgemeine soziale Kompetenz? Zu beurteilen sind nicht lediglich Tat und Tatverhalten, sondern die alltägliche soziale Kompetenz. Also, die Fähigkeit sich sozial zu entfalten, auseinander zu setzen und zu behaupten. In welchem Grad hat die Störung einen Einfluss auf das kriminelle Verhalten gehabt? Hier geht es um den motivischen Zusammenhang zwischen einer psychischen Störung und dem betreffenden Verhalten, da ab einem gewissen Grad der Gesamtdeformierung der Persönlichkeit stets davon auszugehen ist, dass die Handlung durch die Störung beeinflusst wurde. 13 Wenn unter diesen Gesichtspunkten die folgenden Dimensionen, welche jede für sich eine eigene Gewichtung der Schwere bzw. des Grades der eventuell bestehenden Störung aufweist, geprüft werden, könnte schon nach der ersten oder zweiten Dimension eine Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit festgestellt werden. Um jedoch eine volle Schuldfähigkeit annehmen zu können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit allen Dimensionen. 14 Persönlichkeit / Krankheit Der Sachverständige versucht, aus dem Lebenslauf, Fremd- und Selbstschilderungen des zu Beurteilenden sowie aus seinen subjektiven Eindrücken und Testbefunden ein Gesamtbild zusammen zu setzen. Aus dem Lebenslauf werden mögliche zentrale Konflikte herausgearbeitet, die für die weitere Lebensgestaltung von Bedeutung sein 13 Vgl. Rasch, W. : Forensische Psychiatrie, S. 355 f. 14 Vgl. ebd., S. 356 4

könnten. Wichtige Merkmale, die bearbeitet werden müssen, stellen Durchsetzungsvermögen, Bindungsfähigkeit und Stetigkeit dar. Auch Entwicklungsabbrüche sind wichtige Hinweise, da sie einen Krankheitseinbruch darstellen können. Die erhobenen Befunde sollten sich gegenseitig bekräftigen, um das Bild zu vervollständigen, oder sie sollten zu weiteren Untersuchungen oder Überlegungen anregen. Von großem Interesse in dieser Dimension sind die psychischen Ausgangbedingungen. So sind z.b. emotionale Labilität oder Bindungsarmut mögliche Risikofaktoren, die eine soziale Entfaltung erschweren können. Auch ist auf vorhandene, wiederkehrende Konfliktmuster bzw. typische Bewältigungsstrategien zu achten. Bei der Betrachtung der Persönlichkeit ist zu bedenken, dass Kriminalität aus komplizierten gesellschaftlichen Interaktionsprozessen entsteht. So ist der Täter nicht ohne die Reaktionen, die ihm von der Gesellschaft entgegen gebracht wurden, zu beurteilen. 15 Körperliche Befunde Unter diesem Punkt sind körperliche Befunde oder Beschwerden zu betrachten, deren Beziehung mit der psychischen Verfassung oder dem kriminellen Verhalten oft nicht eindeutig herzustellen ist, die jedoch für die Begutachtung eine große Bedeutsamkeit haben können. Zu nennen sind z.b. schwere Erschöpfungs- oder Ermüdungserscheinungen, Infektionskrankheiten zur Tatzeit und reduzierte körperliche Allgemeinverfassung infolge einer chronischen Erkrankung oder einer tagelangen unzureichenden Nahrungsaufnahme. Auch können neurologische Untersuchungen Ergebnisse hervorbringen, die auf eine frühkindliche Hirnschädigung schließen lassen. Diese Schäden können z.b. eine verlangsamte Reaktionsbereitschaft des Gehirns hervorrufen. Des weiteren können EEG-Anomalien, hormonelle Dysfunktionen und Chromsomenanomalien, die im einzelnen noch keine konkreten Schlüsse zulassen, aber als zusätzliche Mosaikteile dazu dienen, das Bild der psychischen Verfassung weiter zu formen. 16 Exogene Einflüsse Als exogener Einfluss ist hier vor allem die Alkoholintoxikation zu nennen, welche bei einer katalysierenden Wirkung, d.h. dass durch den enthemmenden Einfluss des Alkohols eine Handlungsbereitschaft, die schon vor der Tat bestand, ausgeführt wurde. Hier ist, nach Rasch, eine verminderte Schuldfähigkeit anzunehmen. Andererseits 15 Vgl. Rasch, W. : Forensische Psychiatrie, S. 357 16 Vgl. ebd., S. 357 f. 5

kann die Alkoholwirkung auch die Form eines hirnorganischen Ausnahmezustands annehmen. In diesem Fall wäre, nach Rasch, die Aufhebung der Schuldfähigkeit gegeben, da hier das Bewusstsein hochgradig gestört ist und es zu psychotischen Symptomen kommen kann. Die Einfluss von Medikamenten und Drogen kann sich in vergleichbarer Weise zeigen. 17 Tatvorgeschichte Diese Dimension kann einerseits Aufschluss über die Motivstruktur geben, welche sich aus der Entwicklung der Persönlichkeit und der Handlungsbereitschaft ableiten lässt. Andererseits ist hier zu prüfen, ob die Entwicklung zur Tat mit einer Persönlichkeitsveränderung, welche sich in psychopathologische Kategorien einordnen lässt, verbunden war. Aus solch einer Entwicklung würden sich unmittelbare Folgen für die Schuldfähigkeitsbeurteilung ergeben. Nach Rasch wird eine strafbare Handlung nicht ohne Grund ausgeführt. Die schweren Delikte wie z.b. Totschlag sind oft auf biographische Krisen zurückzuführen und treten meist nur einmalig auf. Auch lässt sich hier oft eine ansteigende psychische Abnormisierung im Tatvorfeld nachweisen. 18 Tatverhalten Die Dimension des Tatverhaltens steht hier an letzter Stelle, da eine Aussage über die Bedeutung des Verhaltens zum Tatzeitpunkt erst nach der Prüfung aller anderen Dimensionen getroffen werden kann. Obwohl das Gesetz eine Beurteilung der psychischen Verfassung zum Tatzeitpunkt verlangt, wäre diese Beurteilung von geringerer Bedeutung wenn sich z.b. eine Persönlichkeitsstörung oder Psychose diagnostizieren lässt. Außerdem lassen sich, nach Rasch, keine verbindlichen Aussagen auf die psychische Verfassung durch eine alleinige Betrachtung des Tatverhaltens geben, da Handeln und innere psychische Situation nicht in gleichbleibender Wechselbeziehung stehen. Kann jedoch eine psychopathologische Persönlichkeitsveränderung ausgeschlossen werden, wird das Tatverhalten interessant und es ist zu prüfen, ob zum Tatzeitpunkt eine akute psychische Störung vorlag, die die Struktur eines Ausnahmezustands aufwies. Die Ursache einer solchen Störung kann auf eine Intoxikation oder affektive Erregung zurückzuführen sein. Die oben genannten exogenen Einflüsse haben auch hier, in Bezug auf die Intoxikation, Geltung. 17 Vgl. Rasch, W. : Forensische Psychiatrie, 358 f. 18 Vgl. ebd., S. 359 6

Bei einer affektiven Erregung zur Tatzeit ist, nach Rasch, davon auszugehen, dass schon im Vorfeld der Tat durch Konfliktbelastungen eine schwere Abnormisierung stattfand, die in Verbindung mit der Erregung zum Tatzeitpunkt in der Regel zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit führt. Von einer Schuldunfähigkeit ist bei dem Vorliegen einer Ausnahmezustandhaften Persönlichkeitsveränderung zur Tatzeit auszugehen. 19 Ist der Gutachter nach Prüfung dieser Dimensionen zu der Ansicht gekommen, dass die Schuldfähigkeit beeinträchtigt war, so werden zur Erheblichkeitsfestlegung die Ergebnisse der einzeln eingeschätzten Dimensionsbeeinträchtigungen zusammengerechnet. Das Resultat soll den Grad der Beeinträchtigung andeuten. 20 Steller betrachtet das Verfahren der Schuldfähigkeitsbegutachtung sehr kritisch, aufgrund der überwiegend personenbezogenen diagnostischen Perspektive. Der juristische Begriff der Schuldfähigkeit deutet auf ein personales Konstrukt hin, das mit Hilfe der forensischen Begutachtung, per Diagnostik, erkannt bzw. aufgedeckt und in Kategorien der Schuldfähigkeit eingestuft werden könne. Es gibt aber keine schlüssige Erklärung für das Vorhandensein eines solchen personellen Konstruktes von Schuldfähigkeit. So ist z.b. ein Täter bei verschiedenen Taten in verschiedenen Situationen unterschiedlich einzustufen. Nach Steller entsteht Schuldfähigkeit vielmehr am Schluss eines juristischen Wertungsprozesses, der personale und situative Bedingungen zum Gegenstand hat. Somit stellt Schuldfähigkeit einen Zuschreibungsprozess und kein Ergebnis diagnostischer Aufdeckungsarbeit dar. 21 1.3.1 STATISTISCHE ZAHLEN Der in der Öffentlichkeit oft entstehende Eindruck, dass die Anerkennung von Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit durch die Gerichte sehr großzügig ausgesprochen wird, entsteht, nach Marneros, durch das große Medieninteresse an solchen meist spektakulären Fällen. Doch dieser Eindruck lässt sich nicht bestätigen. Nach Marneros wurden in den letzten Jahren nur 0,1% der Straftäter für schuldunfähig und 2,5% für vermindert schuldfähig erklärt. 22 19 Vgl. Rasch, W. : Forensische Psychiatrie, S. 360 f. 20 Vgl. ebd., S. 356 21 Vgl. Steller, M. (Hrsg.) / Kröber, H.-L. : Psychologische Begutachtung im Strafverfahren. Darmstadt (Steinkopf Verlag) 2000, S. 10 f. 22 Vgl. Marneros, A. : Sexualmörder. Bonn (Psychiatrie Verlag) 2000, 2. Auflage, S. 61 7