Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Seminar: Lebensproblemzentrierter Unterricht Dozentin: Frau Dr. Lütjen Datum/Uhrzeit: 11.12.2014/ 16:15-17:45 Uhr Protokollantin: Eva Rödel 1. Vorstellung des Protokolls vom 4.12.2014 2. Kurzbiographie Paulo, Freire Freire wurde am 19.9.1921 in Recife (Nord- Ost Brasilien) geboren und starb am 2.5.1997 in Sao Paulo. Er selbst stammt aus einer mittelklassischen Familie. 1929 machte er aufgrund der Weltwirtschaftskriese die Erfahrung des Hungers. Seit dem wollte er alles Erdenkliche tun, damit Kinder keinen Hunger leiden müssen. Er dachte über Gerechtigkeit in Verbindung zu dem in Brasilien vorhandenen Schichtensystem nach. Landarbeiter erhielten dort keine Schulbildung und hatten kein Wahlrecht. Dies sorgte für die Stärkung der Großgrundbesitzer und verhinderte, dass die Landarbeiter aus eigner Kraft heraus ihre Situation verbessern konnten. Freire studierte Jura und wurde Anwalt. Er bekam Zweifel an der Gerechtigkeit, da die Reichen immer Recht bekamen, denn sie konnten sich die besten Anwälte leisten. So begriff er schnell, dass nur das Besitztum der Reichen verteidigt wurde, deswegen studierte er Pädagogik, Philosophie und promovierte. 1944 heiratete er Elza Maria Oliviera und bekam mit ihr fünf Kinder. Elza war Grundschullehrerin. Durch sie entwickelte er ein Interesse für Philosophie, Theologie, Pädagogik. Da er sich aus dem Blickwinkel verschiedener Fachgebiete die Dinge ansah wurde er als Eklektiker bezeichnet. Ab 1946 gab er Alphabetisierungskurse für Erwachsene. Da Erwachsene nicht mehr so gut lernen können wie Kinder entwickelte er ein System durch das sie in vier Wochen lesen und schreiben lernen konnten. 1947 begann er seine Alphabetisierungskampagne. Nach einem Regierungswechsel war Freires Kampagne nicht mehr erwünscht, da diese durch eine Alphabetisierung der Landarbeiter befürchteten ihre besondere Stellung in der Gesellschaft zu verlieren. Die Landarbeiter sollten keine Bildung erhalten, um sich nicht gegen das System der Ausbeutung zu wehren, denn dann hätten die Reichen und somit die Politiker keine billigen Arbeitskräfte zur Vermehrung ihres Reichtums mehr besäßen. Wegen der politischen Relevanz seiner Arbeit, kam er 70 Tage ins Exil, wo er anfing, sein Werk Erziehung als Praxis der Freiheit zu verfassen. Ab den 50ern war er Dozent an der Universität in Recife für Philosophie und Erziehungswissenschaft. Von über zwanzig
Universitäten erhielt er die Ehrendoktorwürde. Seine Bücher wurden in achtzehn Sprachen weltweit übersetzt. In Deutschland geriet er in Vergessenheit, doch finden sich viele seiner Gedanken im deutschen Schulsystem 3. Die Kultur des Schweigens Freire sprach von einer Kultur des Schweigens. Diese entsteht, wenn Erfahrungen folgenlos bleiben, da es keine Sprache, keine Stimme zum Ausdruck der Vorkommnisse gibt, z.b. für politische Veränderungen und das Ende des Elends der Landarbeiter. Der Mensch braucht Sprache, um seine Interessen mitzuteilen und aktiv zu werden. Es gibt Bevölkerungsschichten vor allem Randgruppen, die keine Sprachen, keine Stimme, keine Vertretung haben, um ihre Bedürfnisse auszudrücken. Daher können sie ihre Situation nicht verändern und alles bleibt so wie es ist. Menschen können auf verschiedene Weise ihre Sprache verlieren unter anderem durch eine Krankheit wie nach Schlaganfällen, durch eine Behinderung wie bei stummen Menschen. Diese Menschen haben kein Darstellungsvermögen, keine Artikulationsmöglichkeiten. Auch Kinder aus furchtbaren Verhältnissen können oftmals nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Sie finden keine Worte für ihre Misere, da zu Hause nicht über die Probleme gesprochen werden, sie totgeschwiegen werden. Sie sind ein Familiengeheimnis, das nicht nach außen dringen soll, z.b. bei alkoholkranken Eltern. Die Kinder besitzen keine Formen, um sich auszudrücken, Worte fehlen, um sich Hilfe zu suchen. Das Sprichwort Da fehlen mir die Worte verdeutlicht, dass es in schwierigen Situationen kaum möglich ist sich über die Erlebnisse zu äußeren. Auch wenn Kinder ihre Eltern verlieren oder durch Missbrauch und sonstige Erlebnisse traumatisiert sind können sie häufig nicht darüber reden. Sie sind bezüglich ihrer Gefühle gelähmt und erstarren innerlich. Daher wird eine Therapie empfohlen, in der man lernen soll seine Probleme in Worte zu fassen. Denn durch die Sprache, indem man darüber spricht, können Erlebnisse verarbeitet werden. Bei Missbrauchsfällen fehlen den Kindern oftmals später Erinnerungen an das Erlebte. Wenn Traumata nicht verarbeitet werden, können die Kinder in ihrer Entwicklung enorm behindert werden. Sie beschäftigen sich dann häufig ihr ganzes Leben lang damit. Wenn Kinder nicht über eine Sache reden können müssen sie behutsam an die Besprechung der Angelegenheit herangeführt werden. Die Kinder können ihre Erlebnisse und Gefühle in einem selbstgemalten Bild festhalten, um dann über dieses Bild zu sprechen und damit über ihre Gefühle und Erlebnisse zu sprechen. Frau Lütjen erzählte, dass es ein Projekt gab, das sich mit gewalttätigen Jugendlichen aus anderen Ländern zur Aufarbeitung ihrer Gewalttaten beschäftigte. Ein Jurist und ein Analytiker betreuten dieses Projekt. Das Projekt behandelte zunächst nicht die Taten der Jugendlichen sondern ging einen Umweg. Die Jugendlichen führten dazu in einem Gefängnis Interviews mit Mördern. Viele der Täter konnten sich an ihre Tat nicht mehr
erinnern. Die Jugendlichen wurden also mit Gewalt konfrontiert und sollten dazu Bilder malen. Diese wurden dann besprochen, um Erinnerungen an die eigene Tat und ein Gespräch darüber anzuregen. Täter sind oftmals gleichzeitig Opfer von Gewalt. Als Kinder lebten Gewalttäter häufig in Gewaltstrukturen. Theodor Adorno bezeichnete Autoritäten als Persönlichkeiten mit anderer Seite. Mobber wurden also selbst zuvor gemobbt. Sie mobben andere, um in eine bessere Position zu gelangen. Nach Freiere tragen die Unterdrückten den Unterdrücker in sich. Opfer besitzen Gewaltanteile. Verhaltensweisen werden von oben nach unten weitergegeben, erfahren sie keine kritische Hinterfragung erfolgt daraus die Kultur des Schweigens. 4. Freires Menschenbild 1. Der Mensch als Wesen in Situation 2. Der Mensch als Wesen mit Bewusstsein 3. Der Mensch als Wesen der Praxis 4. Der Mensch als Integrationswesen 5. Der Mensch als Kulturwesen und Schöpfer der Geschichte 6. Der Mensch als Wesen der Freiheit 7. Die Intersubjektivität des Menschen 8. Der Mensch ein kommunikatives Wesen 5. Das Bankierskonzept nach Freire Der Lehrer lehrt, die Schüler werden belehrt. Der Lehrer weiß alles, die Schüler wissen nichts. Der Lehrer denkt und über die Schüler wird gedacht. Der Lehrer redet und die Schüler hören brav zu. Der Lehrer züchtigt und die Schüler werden gezüchtigt. Der Lehrer wählt aus und setzt seine Wahl durch und die Schüler stimmen ihm zu. Der Lehrer handelt und die Schüler haben die Illusion zu Handeln durch das Handeln des Lehrers.
Der Lehrer wählt den Lehrplan aus und die Schüler, die nicht gefragt werde, passen sich ihm an. Der Lehrer vermischt die Autorität des Wissens mit seiner eigenen professionellen Autorität, die er in Widerspruch setzt zur Freiheit der Schüler. Nach Freire entspricht das Bankkonzept der Schule der Gesellschaft. Die Schule soll die Kinder zu einem eigenständigen Leben befähigen, um der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. In der Leistungsgesellschaft bildet der Mensch das Humankapital (Alexander Kluge). Die Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft. Die Kinder sollen sich anpassen. Dies stellt die Wurzel zur Unterdrückung dar. Freire kritisiert die alten Strukturen in der Schule. Die Prügelstrafe ist heute verboten. Schüler waren früher widerstandsfähiger, da sie auch zu Hause Prügel bekamen. Heute sollten Konflikte zwischen Eltern bzw. Lehrern und Kindern verbal ausgetragen werden. Allerdings fordern Kinder Erwachsene heraus, um ihre Grenzen auszutesten. Deshalb sollte der Lehrer Grenzen setzten, denn er ist die Führungsperson in der Schule und muss einen ordentlichen Unterricht gewährleisten. Aber es darf keine Gewalt angewendet werden sondern man muss andere Wege zur Konfliktlösung finden. Es finden auch andere Unterrichtsformen statt, z.b. Projektunterricht und offener Unterricht. Es gibt viele Möglichkeiten für Dialoge auch im Frontalunterricht. Manchmal müssen Informationen durch Lehrerreferate vermittelt werden, um den Schülern wichtige Inputs zur selbstständigen Arbeit zu geben. Es kommt auf die Tätigkeitsstruktur der Kinder an. Nach Humboldt lernen Kinder, wenn sie mit Dingen außerhalb ihrer Erfahrungswelt konfrontiert werden, aber an eigene Erfahrungen andocken können, um das Fremde zu verarbeiten Entfremdung. 6. Die wichtigsten Mythen nach Freire Der Mythos der Chancengleichheit verspricht allen Menschen gleiche Chancen in der Gesellschaft und besagt, dass gesellschaftlicher Aufstieg allein von den Fähigkeiten des Einzelnen abhängt, wo hingegen Chancengleichheit eine angeblich eine erzwungene Ungleichheit beinhaltet. Der Mythos der Freiheit behauptet, dass die unterdrückerische Ordnung eine freie Gesellschaft sei, alle Menschen unverletzliche Grund- und Freiheitsrechte hätten, in Wirklichkeit ist aber die gesellschaftliche Situation durch Beherrschung und Unterdrückung gekennzeichnet. Der Fortschrittsmythos besagt, dass sich die Lage immer weiter verbessere, obwohl die Grenzen immer deutlicher werden.
Der Leistungsmythos will glauben machen, dass die reichen Länder durch leistungsfähige, effiziente Organisationen reich geworden sind und unterentwickelte Länder es nur genauso machen müssten. (vgl. Illich zit. nach: Baquero/Knauth/Schröder 1998, 15) Weitere Mythen die Freire benennt, sind: alle Menschen die Freiheit hätten, zu arbeiten, wo sie wollten, die existierende Ordnung die Menschenrechte respektiere, jeder Fleißige selbst Unternehmer werden könne, die herrschenden Eliten die Entwicklung des Volkes fördere, weswegen das Volk zur Dankbarkeit verpflichtet sei, die Unterdrücker fleißig, die Unterdrückten hingegen faul und unehrlich seien, es eine natürliche Unterlegenheit der Unterdrückten gegenüber den Unterdrückern gebe. (vgl. Lange 1985, 10f.) Die Mythen sind nach Freire zentraler Bestandteil einer den Unterdrückten oktroyierten»kultur des Schweigens«. Da die Eliten über die Definitionsmacht des Wortes verfügen, sind die Massen unfähig, sich in einer ihrer unmittelbaren Realität entsprechenden Weise zu artikulieren. Sprachlosigkeit führt zu Apathie. Um die so zementierten Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen, bedarf es nach Freire einer Entmythologisierung. Dazu in der Lage sind nur diejenigen, die lesend, schreibend und sprechend über ihr eigenes Wort verfügen. Deshalb ist die Alphabetisierung der wichtigste Teil Freires Konzeptes. (vgl. Freire 1985 117ff.) Es erfolgte eine Diskussion über die Mythen Freires: Gibt es heute Chancengleichheit? Gibt es Gleichberechtigung? Es gibt heute noch einige Faktoren, die der Chancengleichheit Grenzen setzten können. Dies ist der Fall, wenn die finanziellen Mittel fehlen, um eine zu kostspielige Fähigkeit zu fördern. Schwierige Ausgangsbedingungen behindern oftmals die Chancengleichheit, dann wird die Verfolgung eigener Interessen schwierig, aber es bleibt machbar, z.b. Absolvierung eines Studiums bei sehr hohen Studiengebühren. Bewerbungen werden bei Angabe zu Person schlechter bewertet als, wenn diese fehlen. Daher führen einige Unternehmen Bewerbungsverfahren ohne Angaben zur Person nur mit Angaben zum Beruf durch, um unvoreingenommen, z.b. bei Immigranten, eine Auswahl der Kandidaten für den ausgeschriebenen Arbeitsplatz zu treffen. Untersuchungen haben bestätigt, dass bei einem solchen Auswahlverfahren mehr Immigranten angenommen
werden als wenn Angaben zur Person verlangt wurden. Auch in der Schule haben nicht alle Kinder die gleichen Chancen. Wenn Kinder zu Hause keine Förderung durch die Eltern erfahren, diese die schulische Leistung ihrer Kinder nicht interessiert und, wenn Kinder keine Zeit, da sie auf jüngere Geschwister aufpassen müsse, keine Ruhe oder keinen Platz, die Wohnung sehr klein ist und sie kein eigenes Zimmer haben, um Hausaufgaben zu machen, werden diese oftmals nicht erledigt. Wenn Eltern ihren Kinder keine Perspektive für eine mögliche Berufswahl geben, da sie arm sind und Arbeiter, haben die Kinder häufig keine Vorstellung, dass sie einen höheren Schulabschluss und ein Studium absolvieren könnten und verbleiben daher in den begrenzten Möglichkeiten. Denn Kinder brauchen Impulse von außen. Heute geben vielfältige Medien vor allem das Internet vielfältige Informationen, so dass die Kinder andere Eindrücke gewinnen und weitere Anregungen für ihren Lebensweg erhalten können. Dennoch bleibt es schwierig die eigene Identifikation zu durchbrechen (Resilienz). Die Schule ist ein Entwicklungsraum, der die Kinder die Möglichkeit geben soll über ihr Lebensumfeld hinaus zu denken. Wenn Eltern sich nicht für Schule interessieren, bleiben die Kinder oftmals in diesen Schranken. Sie haben beim Lernen eine innere Blockade. Es ist dann schwierig sie davon zu überzeugen, dass sie etwas können. Sie haben Zweifel, ob der Beruf ihrer Wünsche ihnen zusteht. Ihnen bereiten Vergleiche zu anderen große Probleme, z.b. wenn die Eltern den Klassenausflug nicht bezahlen können, auch trauen sich die Kinder oftmals nicht dies öffentlich zuzugeben. Zum Mythos der Freiheit wurde die Frage Ist jeder frei? gestellt. Wie viel Freiraum kann sich ein Mensch erarbeiten? Nietzsche: Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Menschen wollen dazu gehören, der Norm entsprechen, wer dies nicht tut wird ausgeschlossen. Warum denken Menschen über Fremd- und Selbstbestimmung nach? Der Mensch ist das einzige Wesen mit Bewusstsein. Der Trieb gibt dem Tier die Richtung vor. Der Mensch ist unbestimmt, er hat keine festgelegte Bestimmung. Er muss danach suchen, um sie zu finden. Fremdbestimmung ist notwendig, um Selbstbestimmung zu finden. Der Mensch entwickelt sich am Fremden weiter. Der Mensch ist dazu verurteilt die Selbstbestimmung zu finden. Was muss ich tun, damit mein Leben wertvoll war, um nicht am Lebensende sagen zu müssen, dass man gerne anders leben wollte, aber nicht konnte. Der Mensch ist sich bewusst was er tut. Er muss seine Bestimmung finden. Die Unbestimmtheit des Menschen bildet den Ausgangspunkt zur Erarbeitung einer Selbstbestimmung gesteuert durch das Bewusstsein. Bewusstseinsprozesse beginnen beim Unbewussten. Das Kind ist unkritisch und unreflektiert. Es wird sich immer bewusster. Dies führt zur Selbstbestimmung. Doch sind sich nicht alle Erwachsene über ihr eigenes Handeln bewusst und nutzen ihre Freiheit nicht. Der Mensch reflektiert was ist und was sein kann. Der Mensch kann die Welt verändern. Erwachsen werden heißt Verantwortung für sich und das Leben zu übernehmen.