Niklas Luhmann im Dialog mit Pierre Bourdieu, Thomas Gieryn und Roy Harris Institut für Wissenschafts- und Technikforschung Universität Bielefeld 24. Oktober 2011 1 / 23
Die Hypostasierung des binären Codes Fehlschluss postuliert eine»kongruenz von System und Codierung«(Kieserling 2005, S. 434). Mit anderen Worten: Eine Kommunikation gehört dann und nur dann zum System, wenn sie entsprechend codiert ist. Fehlschluss ist ein wesentliches Hindernis für die Rezeption der systemtheoretischen in der allgemeinen Soziologie. Was bleibt von der Luhmannschen, wenn man die Frage nach dem empirischen und analytischen Status der binären Codes ausklammert? 2 / 23
Operation und Beobachtung Operative Realität / semiotische Realität Operative Ebene / semantische Ebene Erzeugung von Offenheit durch selbstreferentielle Geschlossenheit Struktur / Semantik Differenzierungsstrukturen / Bedeutungsstrukturen (Göbel 2000) 3 / 23
Code und Semantik»Die Codierung toleriert keine Ambiguitäten, so wenig wie die Autopoiesis des Systems halb stattfinden, halb nicht stattfinden kann. Alle Ambiguität muß daher in die Semantik verlagert werden, auf deren Sinngehalte sich die Symbole beziehen; und in diesem Bereich wird dann gerade an der Härte der Codesymbole oft deutlich, daß noch gar nicht hinreichend geklärt ist, was eigentlich damit bezeichnet werden soll. Die Differenz von Code und Semantik ist, wie hier zu sehen, einer der Faktoren, die zum Weitertreiben des Auflöseund Rekombinationsvermögens führen. Um Wahrheitsfragen zu klären und auf eine Entscheidung zuzutreiben, muß man nicht am Sinn von Wahrheit basteln, sondern am Sinn der Begriffe, Theorien, Sätze, die als wahr bzw. unwahr bezeichnet werden sollen.«(luhmann 1990, S. 214 f., Herv. DK) 4 / 23
Code und Programme»Diese Differenz von Code und Kriterien für richtige Operationen (oder von Codierung und Programmierung) ermöglicht eine Kombination von Geschlossenheit und Offenheit im selben System. In bezug auf seinen Code operiert das System als geschlossenes System, indem jede Wertung wie wahr/unwahr immer nur auf den jeweils entgegengesetzten Wert desselben Codes und nie auf andere, externe Werte verweist. Zugleich aber ermöglicht die Programmierung des Systems, externe Gegebenheiten in Betracht zu ziehen, das heißt die Bedingungen zu fixieren, unter denen der eine oder der andere Wert gesetzt wird.«(luhmann 1986, S. 83) 5 / 23
Code und Referenz»Der Code ist also eine Zwei-Seiten-Form, eine Unterscheidung, deren Innenseite voraussetzt, daß es eine Außenseite gibt. Aber dieses Innen/Außenverhältnis der Form des Code ist nicht zu verwechseln mit der Differenz von System und Umwelt. Und die interne Grenze des Code, die den Negativwert vom Positivwert trennt, ist nicht zu verwechseln mit der externen Grenze, die das System gegen seine Umwelt differenziert. Die Code-Differenz steht, anders gesagt, orthogonal zur Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Sie dient der Selbstbestimmung des Systems.«(Luhmann 1996, S. 35f., Herv. DK) 6 / 23
Semantik Code 7 / 23
Programme Code Referenz 8 / 23
Methoden Theorien Programme Code Referenz Selbstreferenz Fremdreferenz 9 / 23
Methoden Theorien Limitationalitätsdiskurse Funktion: Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität Methodendiskurse Funktion: Binarisierung; d.h. Diskriminierung zwischen richtiger und falscher Verwendung der Codewerte Selbstreferenz Programme Code Referenz Identitätsdiskurse Theoriediskurse Funktion: Externalisierung; d.h. Konstitution des Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis Fremdreferenz Funktion: Reflexion der Identität des Systems in Differenz zu seiner Umwelt 10 / 23
Methoden Theorien Limitationalitätsdiskurse Funktion: Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität Methodendiskurse Funktion: Binarisierung; d.h. Diskriminierung zwischen richtiger und falscher Verwendung der Codewerte Selbstreferenz Programme Code Referenz Theoriediskurse Funktion: Externalisierung; d.h. Konstitution des Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis Fremdreferenz Erkenntnis generalisierte Selbstreferenz Identitätsdiskurse generalisierte Fremdreferenz Gegenstand Wissenschaft Praxis Funktion: Reflexion der Identität des Systems in Differenz zu seiner Umwelt Grundlagenforschung Funktion Leistung angewandte Forschung Reflexionstheorien, Selbstbeschreibungen 11 / 23
Verantwortung Nützlichkeit sozial Robustheit Werte Fruchbarkeit epistemisch Einfachheit Kohärenz Methoden Theorien Reputation Praxis Limitationalitätsdiskurse Transdisziplinarität Kontingenzformel Funktion: Transformation gesellschaftliche Relevanz unbestimmbarer in bestimmbare Originalität Komplexität Methodendiskurse Funktion: Binarisierung; d.h. Diskriminierung zwischen richtiger und falscher Verwendung der Codewerte Selbstreferenz Programme Code Referenz Theoriediskurse Funktion: Externalisierung; d.h. Konstitution des Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis Fremdreferenz Erkenntnis generalisierte Selbstreferenz Identitätsdiskurse generalisierte Fremdreferenz Gegenstand Wissenschaft Praxis Funktion: Reflexion der Identität des Systems in Differenz zu seiner Umwelt Grundlagenforschung Funktion Leistung angewandte Forschung Reflexionstheorien, Selbstbeschreibungen 12 / 23
Religion Erziehung Wissenschaft Praxis Funktion: Reflexion der Identität des Systems in Differenz zu seiner Umwelt Grundlagenforschung Funktion Leistung angewandte Forschung Reflexionstheorien, R&D Selbstbeschreibungen Praxisdiskurse Das lineare Innovationsmodell als Einheitsnarrativ Praxisdiskurse Verantwortung Nützlichkeit sozial Robustheit Werte Fruchbarkeit epistemisch Einfachheit Kohärenz Methoden Theorien Praxis als Reputation Kontingenzformel Praxis Limitationalitätsdiskurse Transdisziplinarität Kontingenzformel Funktion: Transformation gesellschaftliche Relevanz unbestimmbarer in bestimmbare Originalität Komplexität Methodendiskurse Funktion: Binarisierung; d.h. Diskriminierung zwischen richtiger und falscher Verwendung der Codewerte Selbstreferenz Programme Code Referenz Theoriediskurse Funktion: Externalisierung; d.h. Konstitution des Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis Fremdreferenz Erkenntnis generalisierte Selbstreferenz Identitätsdiskurse generalisierte Fremdreferenz Gegenstand Politik Wirtschaft 13 / 23
Religion Erziehung Wissenschaft Praxis Funktion: Reflexion der Identität des Systems in Differenz zu seiner Umwelt Grundlagenforschung Funktion Leistung angewandte Forschung Reflexionstheorien, R&D Selbstbeschreibungen Praxisdiskurse Das lineare Innovationsmodell als Einheitsnarrativ Praxisdiskurse Verantwortung Nützlichkeit sozial Robustheit Werte Fruchbarkeit epistemisch Einfachheit Kohärenz Methoden Theorien Praxis als Reputation Kontingenzformel Praxis Limitationalitätsdiskurse Transdisziplinarität Kontingenzformel Funktion: Transformation gesellschaftliche Relevanz unbestimmbarer in bestimmbare Originalität Komplexität Methodendiskurse Funktion: Binarisierung; d.h. Diskriminierung zwischen richtiger und falscher Verwendung der Codewerte Selbstreferenz Programme Referenz Theoriediskurse Funktion: Externalisierung; d.h. Konstitution des Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis Fremdreferenz Erkenntnis generalisierte Selbstreferenz Identitätsdiskurse generalisierte Fremdreferenz Gegenstand Politik Wirtschaft 14 / 23
Aber... Die Semantik der Wissenschaft ist nicht die Wissenschaft Die semantische Ebene ist nur analytisch von der operativen Ebene zu trennen außerdem ist die Einbettung operativer und semantischer Strukturen in Organisationen zu berücksichtigen 15 / 23
Differenzierung des Differenzierungsbegriffs Semantische Ebene der Wissenschaft Limitationalitätsdiskurse Methodendiskurse Theoriediskurse Identitätsdiskurse Praxisdiskurse Differenzierung von Diskursen Operative Ebene der Wissenschaft Forschergruppen disziplinäre Gemeinschaften epistemische Kulturen Differenzierung von Subsystemen Die organisationalen Kontexte der Wissenschaft Universitäten Akademien Forschungsinstitute Zeitschriften, Verlage Differenzierung von Organisationstypen 16 / 23
Die code-zentrierte Interpretation des Systembegriffs hat zu einer Vernachlässigung der semantischen Differenzierung geführt»(...) vorrangig sind wir hier mit Prozessen struktureller Differenzierung befaßt. Soziologische zielt aber begrifflich eine Ebene an, die den Unterschied von Semantik und Sozialstruktur übergreift. Die Ausdifferenzierung eines Sozialsystems ist nur als Ausdifferenzierung seiner Sozialstruktur und Semantik möglich. Die Analyse von Vorentwicklungen, Ungleichzeitigkeiten und Interdependenzen zwischen diesen beiden Ebenen gewinnt nur vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung ihr angemessenes Profil.«(Stichweh 1984, S. 21, Herv. DK) 17 / 23
Thesen Luhmanns Studien zur Semantik der Funktionssysteme werden in den meisten Fällen deren Komplexität nicht gerecht. Das Problem liegt u.a. in der Singularisierung der Semantik und lässt sich beheben, wenn von einer semantischen Ebene gesprochen wird, die über eine eigene Operativität verfügt (Stäheli). Die Operativität der Semantik verdichtet sich in Diskursen, die weitgehend unabhängig vom theoretischen Zugang mittels klassischer Methoden rekonstruiert werden können. Zur Untersuchung dieser Diskurse bieten sich vielfältige theoretische und empirische Arbeiten an, wie hier am Beispiel von Harris, Gieryn und Bourdieu gezeigt werden soll. 18 / 23
Roy Harris: Semantische Superkategorien»My contention throughout will be that supercategories such as science, art, religion, and history are themselves verbal constructs, and thus language-dependent. But they do not all come to be constructed in the same way. That is why it is worth paying attention to the linguistic process involved in each individual development. This will hinge in various respects on the stage a society has reached in its own internal evolution. It may also owe a great deal to the impetus provided by the work of an outstanding individual at a particular time. The basic function of the supercategory is to integrate what would otherwise be separate activities and inquiries; and the result of that integration is to re-draw the map of the intellectual world that society as a whole adopts.«(harris 2005, S. xi, Herv. DK) 19 / 23
Thomas Gieryn: boundary-work»scientists have a number of cultural repertoires available for constructing ideological self-descriptions, among them Merton s norms, but also claims to the utility of science for advancing technology, winning wars, or deciding policy in an impartial way. Mulkay s contribution is largely programmatic: it remains to demonstrate empirically how scientists in public settings move flexibly among repertoires of self-description. In other words, how do scientists construct ideologies with style and content well suited to the advancement or protection of their professional authority?«(gieryn 1983, S. 783). 20 / 23
Pierre Bourdieu: Autonomie und Heteronomie»So sind all diese Universen aufgrund der Tatsache, daß ihre Autonomie gegenüber äußeren Mächten niemals vollständig ist und sie gleichzeitig von zwei Herrschaftsprinzipien, einem weltlichen und einem spezifischen bestimmt werden, durch eine strukturale Zwiespältigkeit gekennzeichnet: intellektuelle Konflikte sind in gewisser Hinsicht immer auch Machtkonflikte. Jede Strategie eines Wissenschaftlers hat gleichzeitig eine (spezifisch) politische und eine wissenschaftliche Seite, und Erklärungsversuche müssen immer beide im Auge behalten.«(bourdieu 1998, S. 36f.) 21 / 23
Religion Erziehung Praxisdiskurse Praxisdiskurse Reputation Praxis scientific ethos Transdisziplinarität (Merton) Kontingenzformel gesellschaftliche Relevanz Social Epistemology (Kitcher, Longino) Originalität Verantwortung Nützlichkeit sozial Robustheit Werte Fruchbarkeit epistemisch Einfachheit Kohärenz Selbstreferenz Fremdreferenz Erkenntnis generalisierte generalisierte Gegenstand Selbstreferenz illusio Fremdreferenz (Bourdieu) Wissenschaft Praxis boundary work (Gieryn) Grundlagenforschung Autonomie Heteronomie angewandte Forschung strukturale Zwiespältigkeit (Bourdieu) Methoden Methodendiskurse (disziplinenspezifisch) doxa (Bourdieu) Theorien Theoriediskurse (disziplinenspezifisch) doxa (Bourdieu) Politik Wirtschaft 22 / 23
Fazit Differenzierungstheoretische Forschung ist möglich, ohne bezüglich des binären Codes oder der Autopoiesis des Systems Stellung zu beziehen. Die semantische Differenzierung wird von Systemtheoretikern gegenüber der Differenzierung der operativen Ebene vernachlässigt. Theorievergleiche müssen nicht unbedingt bei den Leitbegriffen ansetzen, sondern können auch auf sehr konkrete, gewissermaßen lokale Theoriebaustellen fokussiert werden. Es wäre denkbar, die Luhmannsche auf ein formales Gerüst zu reduzieren, dessen forschungspraktische Funktion darin besteht, den Ort von heterogenen sozialen Phänomenen zu bestimmen, ohne diese Phänomene deshalb zwingend systemtheoretisch konzeptualisieren zu müssen. 23 / 23