Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegesicherung



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Transkript:

Heinz Rothgang Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegesicherung Darstellung und Bewertung Seit 1999 reichen die Einnahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht aus, um ihre Ausgaben zu decken. Wegen des wachsenden Defizits, das 2003 bereits 690 Mio. betragen hat, wird daher über eine Reform der Finanzierung der Pflegesicherung diskutiert, die tatsächlich notwendig ist, soll eine dramatische Beitragssatzsteigerung verhindert werden, gleichzeitig aber eine regelmäßige Anpassung der Pflegeversicherungsleistungen an die Preisentwicklung erfolgen. In diesem Beitrag werden die wichtigsten derzeit diskutierten Reformoptionen vorgestellt und anhand eines Kriterienkatalogs bewertet. Dabei zeigt sich, dass weder eine Umstellung auf ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz, noch ein Umstieg auf eine kapitalfundierte Versicherung empfohlen werden kann. Anzustreben ist stattdessen eine Kombination aus (a) Bürgerversicherungselementen, (b) einem Zusatzbeitragssatz für Rentner in Verbindung mit einer obligatorischen Kapitalbildung für Beschäftigte, sowie (c) einer Flexibilisierung des Beitragssatzes. 1. Einleitung Nachdem die Pflegeversicherung jahrelang nur noch in Expertenkreisen diskutiert wurde, steht die Reform dieses Zweiges der sozialen Sicherung nunmehr wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Sowohl im Bericht der nach ihrem Vorsitzenden Bert Rürup auch als Rürup-Kommission bezeichneten Nachhaltigkeitskommission der Bundesregierung als auch im Bericht der Herzog-Kommission sind weitreichende Reformvorschläge enthalten. Die Notwendigkeit einer Reform der Finanzierung der Pflegeversicherung ergibt sich auch aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. 4. 2001, in dem der Gesetzgeber verpflichtet wird, bis spätestens zum 31. 12. 2004 eine derzeit bestehende verfassungswidrige Benachteiligung von Familien in der Pflegeversicherung durch eine entsprechende Reform zu beenden (vgl. Rothgang 2001). Ein zwischen den Sozial- und Gesundheitspolitikern der ZSR, 50. Jahrgang (2004), Heft 6, S. 584-616

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung Koalitionsfraktionen abgestimmtes Reformkonzept ist allerdings im Januar 2004 durch eine Intervention des Bundeskanzlers gestoppt worden, so dass derzeit wieder vieles als möglich erscheint. Ziel dieses Beitrags ist es daher, einen Überblick über die aktuell diskutierten Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegesicherung zu geben und diese Optionen zu diskutieren und zu bewerten. Fragen der Leistungsgestaltung bleiben dagegen ausgeblendet, da deren Behandlung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Erneut in die Diskussion geraten ist die Pflegeversicherung vor allem aufgrund ihrer Finanzentwicklung. In Abschnitt 2 wird deshalb die aktuelle und zukünftige Finanzlage der Pflegeversicherung als Ausgangspunkt aller Reformvorschläge diskutiert. Um die verschiedenen Reformoptionen bewerten zu können, wird in Abschnitt 3 sodann ein Katalog normativer Kriterien entwickelt. Abschnitt 4 enthält die Darstellung der verschiedenen Reformoptionen, der zu erwartenden Wirkungen sowie eine Bewertung dieser Optionen auf Grundlage der zuvor genannten Kriterien. Im abschließenden Fazit (Abschnitt 5) werden die Ergebnisse dieser Analyse dann zusammengefasst und zu eigenen Empfehlungen gebündelt. 2. Ausgangspunkt der aktuellen Reformdebatte: Die Finanzentwicklung der Pflegeversicherung Während die gesetzliche Pflegeversicherung in den ersten Jahren ihrer Existenz Überschüsse erzielt hat, verzeichnet sie seit 1999 Defizite. Mit rund 380 Mio. erreichte das Defizit 2002 erstmals ein beträchtliches Niveau und hat sich 2003 nach vorläufigen Zahlen noch einmal fast verdoppelt (Tabelle 1, Seite 586). Diese Defizite haben mehrere Ursachen: Zum einen beruhen sie auf Fallzahlsteigerungen, die permanent oberhalb der demographisch bedingten Rate liegen. Im Wesentlichen dürfte es sich hierbei immer noch um Einführungseffekte eines vergleichsweise neuen Sicherungssystems handeln. Zum zweiten sind sozialrechtliche Veränderungen zu nennen. So wurden 2000 die Beitragszahlungen der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitslosenhilfebezieher nach unten angepasst. Seither fehlen der Pflegeversicherung jedes Jahr Einnahmen im geschätzten Umfang von rund 300 Mio.. Ebenso führen die im Zuge der Rentenreform 2000/2001 im Altersvermögensgesetz erweiterten 585

Heinz Rothgang Tabelle 1: Finanzergebnis der Sozialen Pflegeversicherung 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003* in Mrd. Euro Einnahmen 8,41 12,04 15,94 16,00 16,32 16,55 16,81 16,98 16,86 Ausgaben 4,97 10,86 15,14 15,88 16,35 16,67 16,87 17,36 17,56 Überschuss 3,44 1,18 0,80 0,13-0,03-0,13-0,06-0,38-0,69./. Investitionsdarlehen an den Bund 0,56-0,56 Mittelbestand 2,87 4,05 4,86 4,99 4,95 4,82 4,76 4,93 4,24 * vorläufige Werte. Quelle: BMGS; URL: www.bmgs.de/downloads/03 - Fin95-2002_in_EURO.pdf [Stand: 15. 3. 2004] 586

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung Möglichkeiten zur Gehaltsumwandlung (sogenannte Eichel-Rente ) zu einer Verringerung der beitragspflichtigen Einkommen, die bei der Pflegeversicherung ebenso wie bei anderen Sozialversicherungssystemen zu Beitragsrückgängen in unbekannter Höhe führen. Weiterhin bewirken auch die Reformmaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt (Ich-AGs, Mini- und Midi-Jobs) 1 Einnahmeverluste der Pflegeversicherung. Drittens haben die Kassen ausweislich eines Schreibens des Bundesversicherungsamtes vom 5. 4. 2002 in nicht unerheblichem Maße über die GKV zu finanzierende Hilfsmittel wie Spezialbetten, Rollstühle oder Badewannen-Lifter unrechtmäßig über die Pflegeversicherung abgerechnet und damit deren Ausgaben künstlich in die Höhe getrieben ( Verschiebebahnhof ). Viertens ist darauf zu verweisen, dass mit dem Pflegeleistungsergänzungsgesetz zusätzliche Leistungen für Demente in einem Umfang von bis zu 250 Mio. bereitgestellt wurden und dass weitere kleinere Veränderungen im Leistungsrecht, wie die Übernahme der Kosten für den Kontrollbesuch durch einen zugelassenen Pflegedienst nach 37 Abs. 3 SGB XI, zu Mehrausgaben geführt haben. Schließlich ist auf die konjunkturell bedingte Einnahmeschwäche der beiden letzten Jahre hinzuweisen, die ihren Beitrag dazu geleistet hat, dass die Einnahmen von 2001 auf 2002 nominal lediglich um 1 % gestiegen und damit inflationsbereinigt gesunken sind, während sie sich 2003 sogar nominal um 0,7 % verringert haben. Diese ähnlich auch in der gesetzlichen Krankenversicherung vorliegende Einnahmeschwäche ist der Hauptgrund für die negative Finanzentwicklung der Pflegeversicherung. Was heißt dies aber für die langfristige Finanzentwicklung? Ist davon auszugehen, dass das Defizit bei unveränderter Rechtslage in den nächsten Jahren monoton ansteigen würde? Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Determinanten der Finanzentwicklung näher zu betrachten. Durch den demographischen Wandel, der zu einer relativen, aber auch absoluten Zunahme der Altenbevölkerung führt, wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Zukunft steigen. Wird eine konstante altersspezifische Pflegebedürftigkeit unterstellt, ist für den Zeitraum von 2000 bis 2040 je nach den Annahmen, die den Berechnungen zugrunde liegen, mit einem Anstieg der 1 Bei Mini-Jobs bis zu 400 werden zwar Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung, nicht aber zur Pflegeversicherung abgeführt. Insoweit Mini-Jobs reguläre Arbeitsverhältnisse ersetzen, verringern sie daher die Beitragseinnahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung. 587

Heinz Rothgang Fallzahlen um 1,2 bis 1,5 Millionen zu rechnen. Dies entspricht einem Anstieg der Fallzahlen auf 160-180 % des Ausgangswertes. 2 Bereits derzeit erkennbar sind zudem langsame und durch die Leistungen der Pflegeversicherung sicherlich verlangsamte, aber dennoch kontinuierliche Verschiebungen in den Pflegearrangements von der familialen zur professionellen Pflege, bedingt durch ein in Bezug auf die Pflegebedürftigen abnehmendes Töchterpotenzial, steigende Frauenerwerbstätigkeit und damit steigende Opportunitätskosten der Pflege, den (auch zukünftigen) Anstieg des Anteils der Ein- Personen-Haushalte, die ein geringeres Pflegepotenzial beinhalten und die Auflösung der kulturellen Norm der familialen Pflicht zu pflegen. Auch diese sozialstrukturellen Wandlungen führen zu steigenden Ausgaben der Pflegeversicherung für die teureren professionellen Pflegeleistungen. Während die demographischen Veränderungen nach Auslaufen aller Einführungseffekte zu einer jährlichen Fallzahlsteigerung von 1-1,5 % und damit entsprechenden Ausgabensteigerungen führen, dürften die fiskalischen Effekte der sozialstrukturellen Verschiebungen zu einem Ausgabenwachstum von weniger als 0,5 % führen (vgl. Rothgang 2002 für detaillierte Berechnungen). Bereits eine nominale jährliche Steigerung der Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einnahmen ( Grundlohnsumme ) von 2 % ist damit mittel- und langfristig ausreichend, um die Pflegeversicherung bei einem konstanten Beitragssatz von 1,7 Beitragssatzpunkten zu finanzieren. Alle derzeitigen Prognosen weisen für die Lohnentwicklung als Hauptdeterminante der Gesamtsumme der beitragspflichtigen Einnahmen aber deutlich höhere Steigerungen aus, der Bericht der Rürup-Kommission beispielsweise einen Wert von 3 %. Während sich kurzfristig insbesondere wegen der konjunkturellen Lage und der Auswirkungen der beschriebenen gesetzlichen Eingriffe auf die Einnahmeseite durchaus Finanzierungsprobleme ergeben können, ist die Finanzierung der Pflegeversicherung daher mittel- und langfristig bei einem gegebenem Beitragssatz von 1,7 % sichergestellt allerdings nur, wenn von sozialrechtlichen Veränderungen zu Lasten der Pflegeversicherung abgesehen 2 Der erste Wert entstammt einem Gutachten des Verfassers für die Enquete-Kommission Demographischer Wandel (Rothgang 2002), der zweite dem 2003 vorgelegten Abschlussbericht der so genannten Rürup-Kommission (Nachhaltigkeitskommission 2003). Die Unterschiede resultieren aus unterschiedlichen Annahmen zur Entwicklung der Mortalität der Altenbevölkerung. 588

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung wird, wenn eine weitere Beitragserosion verhindert werden kann und wenn zugleich an den nominal fixierten Leistungssätzen festgehalten wird. Bleiben die Leistungen der Pflegeversicherung aber nominal konstant wie sie es bereits seit 10 Jahre sind sinkt ihr realer Wert kontinuierlich. Selbst bei einer inflationsindexierten Leistungsdynamisierung sinkt die Kaufkraft der Pflegeversicherungsleistungen bis 2040 auf rund die Hälfte des derzeitigen Niveaus (Rothgang 2002). Soll die Kaufkraft der Leistungen langfristig erhalten werden, ist dagegen eine regelgebundene Leistungsdynamisierung in Anlehnung an die Durchschnittslohnentwicklung erforderlich. Bei einer derartigen lohnindexierten Dynamisierung würde der Beitragssatz bis 2040 eigenen Berechnungen zufolge auf 3,5 bis 4 Beitragssatzpunkte steigen (Rothgang 2002). Bei einer Leistungsdynamisierung, die nur die Hälfte des Reallohnanstiegs berücksichtigt, ergibt sich für 2040 gemäß den Berechnungen der Rürup-Kommission immer noch ein Beitragssatz von 3,0 %. Das Problem der Pflegeversicherung liegt somit weniger in der Finanzierung der derzeitigen nominal fixierten Leistungen, die mittel- und langfristig beim bestehenden Beitragssatz ohne weiteres möglich ist. Problematisch wird die Finanzierung der Pflegeversicherung dagegen, wenn die Leistungssätze regelmäßig angepasst (dynamisiert) werden was aber zwingend erforderlich ist, soll das System nicht durch eine schleichende Entwertung seiner Leistungen diskreditiert werden. Auch ohne den Grundcharakter der Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung in Frage zu stellen, sind zur Leistungsdynamisierung daher zusätzliche Mittel notwendig, deren Umfang noch steigt, wenn zur Korrektur von Geburtsfehlern etwa weitere zusätzliche Leistungen für Demente bereitgestellt werden sollen. So würde bereits eine Berücksichtigung demenzbedingter Fähigkeitsstörungen durch einen Zeitzuschlag von 30 Minuten bei der Begutachtung 3 nach Berechnungen des zuständigen Bundesgesundheitsministeriums zu Mehrausgaben in Höhe von jährlich 750 Mio. führen. 3 Pflegebedürftig sind gemäß 14 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer [...] der Hilfe bedürfen. Ausschlaggebend für die Einstufung in eine Pflegestufe ist dabei der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt ( 15 Abs. 3 SGB XI). Bei der Be- 589

Heinz Rothgang Damit ist aber klar, dass eine Finanzierungsreform notwendig ist. Es stellt sich daher die Frage, welche der Alternativen zur Weiterentwicklung der Pflegesicherung verfolgt werden soll. Um dies bewerten zu können, gilt es zunächst, entsprechende Bewertungskriterien zu erarbeiten. 3. Kriterien für eine Bewertung von Finanzierungsalternativen Eine Bewertung der Handlungsoptionen kann immanent erfolgen, indem diskutiert wird, inwieweit die Ziele des entsprechenden Vorschlags erreicht werden können. Daneben können aber auch weitere Bewertungskriterien herangezogen werden. Vor dem Hintergrund der Problemanalyse scheinen dabei folgende im Weiteren berücksichtigte Kriterien von besonderer Bedeutung (vgl. hierzu auch den Zielkatalog der Nachhaltigkeitskommission 2003: 190-91): 1. Sicherstellung eines auch in Zukunft regelmäßigen Mittelzuflusses Jede Regelung muss institutionell sicherstellen, dass die Finanzmittel zur Pflegesicherung regelmäßig und verlässlich fließen und Pflegeleistungen nicht etwa mit den Staats- oder Versicherungseinnahmen schwanken. 2. Dynamisierung der Pflegeleistungen/Fiskalische Ergiebigkeit der Alternative Wie die vorstehende Problemanalyse gezeigt hat, liegt die Finanzierungsproblematik der Pflegeversicherung nicht darin, die derzeitigen nominalen Leistungsniveaus zu finanzieren. Dies ist auch im bestehenden System langfristig möglich, allerdings werden die Pflegeversicherungsleistungen durch den Realwertverlust dann zunehmend ausgehöhlt. Zur Sicherung der Akzeptanz der Pflegeversicherung ist eine Leistungsdynamisierung daher unabdingbar. Um eine Leistungsdynamisierung finanzieren zu können, müssen Reformen über eine hinreichende fiskalische Ergiebigkeit verfügen. stimmung dieses Zeitaufwandes bleiben die besonderen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarfe unberücksichtigt, obwohl sie zweifellos Bestandteil der Langzeitpflege für Demente sind. Eine Möglichkeit zur Berücksichtigung dieser besonderen Betreuungsleistungen besteht darin, diese durch pauschale Zeitzuschläge bei der Begutachtung zu berücksichtigen. 590

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung 3. Entlastung der Familien (Verfassungsgerichtsurteil) Aus dem Urteil des Verfassungsgerichts ergibt sich die Notwendigkeit, Familien in der Pflegeversicherung besser zu stellen. Diesem Urteil ist bei einer Reform der Finanzierung von Pflegeleistungen Rechnung zu tragen. 4. Nachhaltigkeit im Sinne einer dauerhaften Lösung Eine Finanzierungsreform sollte auch unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung und deren Folgen für die Pflegesicherung auf eine dauerhafte Lösung abzielen und nicht bereits in sich wieder die Notwendigkeit für weitere Reformen enthalten. Insofern sind alle Vorschläge, die nur zu einer temporären Lösung führen, kritisch zu betrachten. 5. Stabilisierung der Lohnnebenkosten Die gesamte Diskussion um die Reform der sozialen Sicherungssysteme wird derzeit von der Forderung nach einer Stabilisierung oder besser noch Reduzierung der Lohnnebenkosten beherrscht, die als erforderlich angesehen wird, um weiteres Wirtschaftswachstum zu induzieren. Vorschläge, die mit einer Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge zur Pflegeversicherung einhergehen, scheiden daher aus politischen Gründen aus. Auch eine Erhöhung der Arbeitnehmerbeiträge wird kritisch gesehen, nicht nur weil damit disincentives to work einhergehen, sondern weil zudem mittel- und langfristig die Gefahr besteht, dass höhere Arbeitnehmerbeiträge Eingang in die Lohnfindung finden. 6. Sozial verträgliche Beitragsbelastungen Selbst wenn die Beiträge zur Pflegesicherung lohnunabhängig etwa in Form von Kopfprämien erhoben werden, müssen sie doch von den Versicherten aufgebracht werden. Eine drastische Erhöhung der Beitragsbelastung für einzelne Versichertengruppen oder die ganze Versichertengemeinschaft ist angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Situation daher ebenfalls als ein K.O.-Kriterium für jeden Reformvorschlag anzusehen. 7. Generationengerechtigkeit Bereits seit einiger Zeit wird der Gerechtigkeitsbegriff auch auf das Verhältnis der Generationen zueinander bezogen. Allerdings ist der Begriff der Generationengerechtigkeit mehrdeutig. Mindestens drei Bedeutungen können unterschieden werden (vgl. Leisering 2000: 614-15): Erstens kann gefordert werden, dass alle Generationen in gleichem Maße herangezogen werden 591

Heinz Rothgang sollen, wenn externe ökonomische Schocks zu tragen sind, um so eine Abkopplung der Rentnergeneration von der Einkommensentwicklung der Beschäftigten zu verhindern (Gleichbehandlung im Querschnitt). Hieraus ergibt sich, dass Beschäftigte ebenso wie Rentner für weitere Finanzierungsbeiträge zur Pflegesicherung heranzuziehen sind. Zweitens kann gefordert werden, dass der Saldo aus empfangenen öffentlichen Leistungen und Finanzierungsbeiträgen (im gesamten Lebensverlauf) bzw. dass die Rendite der eigenen Einzahlungen in öffentliche Systeme für alle Geburtskohorten in etwa gleich sein soll. Diese Vorstellung kann dann z.b. mittels Generationenbilanzen (vgl. Auerbach et al. 1994) überprüft werden. Für die Pflegesicherung impliziert dies, dass die derzeitige Altengeneration in besonderem Maße finanziell belastet werden soll, da sie ansonsten von Leistungen profitiert, für die sie in der erst 1995 eingeführten umlagefinanzierten Pflegeversicherung nur in geringem Maße vorgesorgt hat. 4 Drittens könnte gemäß dem Verursacherprinzip auch gefordert werden, dass die Geburtskohorten verstärkt zur Finanzierung von Pflegeleistungen herangezogen werden, die wegen ihres Fertilitätsverhaltens überdurchschnittlich zum demographischen Wandel beitragen. Demnach wären insbesondere die Geburtskohorten etwa ab Ende des zweiten Weltkriegs verstärkt zur Finanzierung heranzuziehen. Die letztgenannte Auffassung wird in der politischen und der wissenschaftlichen Diskussion nicht für intergenerative, sondern allenfalls für intragenerative (Kindererziehende vs. Kinderlose) Verteilungsfragen vertreten. Vorherrschend ist in der Diskussion derzeit hingegen die zweite Interpretation (vgl. z.b. Nachhaltigkeitskommission 2003). Allerdings wird dabei die gleichfalls sinnvolle Interpretation der Generationengerechtigkeit im Querschnitt vernachlässigt, so dass vor einer Verabsolutierung von Generationenbilanzen gewarnt werden muss. Im Folgenden wird deshalb immer dann von einer Steigerung der Generationengerechtigkeit gesprochen, wenn die intergenerative Umverteilung 4 Grundsätzlich profitieren alle Geburtskohorten, die bei Einführung des Systems bereits im arbeitsfähigen Alter sind, von der Einführung einer umlagefinanzierten Sozialversicherung, da sie nicht die volle Lebensarbeitszeit über Beiträge zahlen. Dieser Effekt ist um so stärker, je älter die Versicherten sind. Da die Last des demographischen Wandels im Umlageverfahren in die Zukunft verschoben wird, profitieren nach Modellrechnungen von Raffelhüschen/Häcker (2004) sogar alle derzeit lebenden Generationen von der Einführung der umlagefinanzierten Pflegeversicherung. 592

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung im Pflegesicherungssystem zwar verringert wird, ohne aber einseitig nur die Altenbevölkerung zu belasten. 8. Ordnungstheoretische Kompatibilität Die Pflegesicherung ist Teil des deutschen Sozialstaates. Jede Reform muss daher Inkohärenzen mit anderen Bereiche der sozialen Sicherung vermeiden. Verstöße gegen die etablierten Prinzipien der Sozialstaatlichkeit deutscher Provenienz bedürfen daher einer Rechtfertigung, in der eine wünschenswerte Neuorientierung der Sozialstaatlichkeit deutlich wird. 9. Effizienz im Sinne der Vermeidung überflüssiger Verwaltungsaufgaben Wie für jede Reform gilt auch für eine Reform der Pflegesicherung die Forderung, die eigenen Ziele mit möglichst geringem Verwaltungsaufwand zu erreichen. 4. Finanzierungsalternativen der Pflegesicherung In der Diskussion um die zukünftige Finanzierung von Pflegeleistungen können grundsätzlich drei alternative Weiterentwicklungsoptionen unterschieden werden, die jeweils noch einmal verschiedene Unterformen aufweisen: der Ersatz der Pflegeversicherung durch ein steuerfinanziertes Bundesleistungsgesetz für finanziell Bedürftige, der Umstieg auf eine kapitalfundierte (private) Pflegepflichtversicherung und die Fortentwicklung der bestehenden umlagefinanzierten Pflegeversicherung durch Einführung regelgebundener Leistungsdynamisierung und die Sicherstellung zugehöriger zusätzlicher Einnahmen. Hierbei können dann auch ergänzende steuerfinanzierte und/oder kapitalfundierte Elemente berücksichtigt werden. Jede dieser Optionen soll im Folgenden vorgestellt und bewertet werden. 4.1 Pflege-Leistungsgesetz für finanziell Bedürftige Bereits vor Einführung der Pflegeversicherung wurde ein Bundesleistungsgesetz als Möglichkeit zur Absicherung des Pflegerisikos diskutiert, damals aber verworfen. Erneut in die Diskussion gekommen ist diese Option insbesondere durch einen Vorschlag der Vorsitzenden des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Barbara Stolterfoth, in der Rürup-Kommission. Der Vor- 593

594 Heinz Rothgang schlag ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet (vgl. Nachhaltigkeitskommission 2003: 210-212): Abschaffung der Pflegeversicherung und der Pflegekassen, Administrierung aller Pflegeleistungen durch die Kommunen, Einführung steuerfinanzierter Bundeszuschüsse an die Kommunen zur Finanzierung dieser Leistungen: bei Einfrieren eines kommunalen Eigenanteils in Höhe der derzeitigen Ausgaben für Hilfe zur Pflege, Erweiterung des Pflegebegriffs und Einführung bedarfsdeckender Leistungen aber nur für finanziell Bedürftige. Von der Umstellung auf ein Leistungsgesetz erhoffen sich die Anhänger dieses Vorschlags eine Reihe von Vorteilen. Zu nennen sind die Etablierung eines umfassenden Pflegebegriffs, die Ablösung des Teilkaskoprinzips und stattdessen die Gewährung bedarfsdeckender Leistungen für die Anspruchsberechtigten, Einsparungen von Verwaltungskosten durch Abschaffung von Pflegekassen und Medizinischem Dienst der Krankenversicherung (MDK), den zugehörigen Verbandsabteilungen und den Verhandlungsgremien, die Überwindung von Schnittstellenproblemen mit der kommunalen Altenhilfe, Sicherstellung des Interesses der Kommunen an einer effektiven und effizienten Pflegelandschaft wegen des Eigenfinanzierungsanteils und schließlich als Hauptargument die Entlastung der Lohnnebenkosten durch die Steuerfinanzierung. Allerdings zeigt eine immanente Prüfung der Ziele des Vorschlags, dass keines dieser Argumente einer näheren Überprüfung standhält: Die Einführung eines Pflegeleistungsgesetzes impliziert nicht notwendigerweise eine Erweiterung des Pflegebegriffs und die Gewährung eines umfassenderen Leistungspaketes. Zwar sind diese Forderungen Teil des Stolterfoth- Vorschlags, allerdings ist gut vorstellbar, dass diese Leistungsausweitungen nicht implementiert werden, wenn die zuständigen politischen Gremien die Einführung eines Leistungsgesetzes beschließen sollten. Insofern ist dies nur eine mögliche Variante der Ausgestaltung eines Leistungsgesetzes, nicht aber Bestandteil des Kerns dieses Konzeptes. Zwar sind die Verwaltungsaufwendungen seit und durch die Einführung der Pflegeversicherung im Vergleich zum Status quo ante gestiegen. Allerdings waren die vor Einführung der Pflegeversicherung allein zuständigen Kommu-

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung nen damals kein gleichwertiger Verhandlungspartner für die Pflegeeinrichtungen und mit der Sicherstellung der zu diesem Zeitpunkt unzureichenden (vgl. Alber/Schölkopf 1999; Schölkopf 2001) pflegerischen Infrastruktur sichtlich überfordert. Der Aufbau einer Pflegekassenverwaltung war daher in diesem Sinne funktional. Sollen die Kommunen allein unter Abschaffung der Pflegekassen in Zukunft den Sicherstellungsauftrag übernehmen, wäre der Auf- und Ausbau einer entsprechenden Kommunalverwaltung notwendig. Einsparungen ergeben sich dadurch nicht unbedingt. Die Schnittstellenprobleme zwischen Altenhilfe und Pflege könnten durch Übertragung der Zuständigkeit auf die Kommunen grundsätzlich verringert werden. Allerdings wird die Altenhilfe derzeit weniger durch Schnittstellenprobleme mit der Pflege behindert, als dadurch, dass sich die Kommunen nach Einführung der Pflegeversicherung auch aus der Förderung der komplementären Dienste zurückgezogen haben, die unzweifelhaft nicht im Leistungspaket der Pflegeversicherung enthalten sind. Insofern geht die Chance zur Aufhebung der Schnittstellenproblematik hier am Kern des Problems, nämlich der Finanznot der Kommunen, vorbei. Zudem wird die bereits derzeit vorhandene Schnittstellenproblematik zwischen Kranken- und Pflegeversicherung durch den Umstieg auf ein Bundesleistungsgesetz sogar noch verschärft. Kritisch zu sehen ist auch das Argument, dass die Kommunen wegen ihres Eigenfinanzierungsanteils ein gesteigertes Interesse an einer effektiven und effizienten Pflege haben. Die Wirkung eines solchen Eigenfinanzierungsanteils hängt natürlich von dessen Ausgestaltung ab. Ist dieser Anteil unabhängig von den tatsächlich anfallenden Kosten als fester Betrag fixiert, sind die Kommunen von der tatsächlichen Kostenentwicklung nicht betroffen. Sie haben also keinen Anreiz, sich für eine kosteneffektive Versorgung einzusetzen. Angesichts des immer noch bedeutenden Anteils kommunaler Pflegeeinrichtungen ist im Gegenteil eher davon auszugehen, dass hier Anreize zur Selbstbedienung entstehen, zu Lasten des Bundes oder der einzelnen Pflegebedürftigen. Das politisch bedeutsamste Argument ist aber die versprochene Entlastung der Lohnnebenkosten, die durch Abschaffung der Pflegeversicherung mit einem Schlag um 1,7 Beitragssatzpunkte reduziert werden. Allerdings müssen auch die Leistungen des Leistungsgesetzes finanziert werden. Geschieht dies auf dem Weg über direkte Steuern vom Einkommen, verringert 595

Heinz Rothgang sich der Entlastungseffekt für den Faktor Arbeit entsprechend. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine Berücksichtigung anderer Einkommensarten, die den Druck vom Faktor Arbeit nähme, nicht nur bei der Steuer-, sondern grundsätzlich auch bei der Beitragsfinanzierung möglich ist, was unter dem Stichwort Bürgerversicherung derzeit gerade intensiv diskutiert wird (s.u.). Während damit einerseits davon auszugehen ist, dass die versprochenen Vorteile des Leistungsgesetzes nicht zum Tragen kommen, ist andererseits auf zwei ernst zu nehmende Nachteile und Risiken hinzuweisen, die damit verbunden sind. Aus ordnungstheoretischer Sicht ist darauf zu verweisen, dass Fürsorgesysteme grundsätzlich den Anreiz zur Eigenvorsorge schwächen. Sie sollten daher nur als letztes Netz fungieren nicht als Regelversorgungssystem. Liberale Advokaten von Fürsorgesystemen konzipieren diese daher regelmäßig nur auf sehr niedrigem Leistungsniveau. Mit einem Pflegeleistungsgesetz der hier dargestellten Art wird hingegen ein Zwei-Klassen-System geschaffen, das einen umfassenden und über das bisherige Maß hinausgehenden Leistungsanspruch für finanziell Bedürftige, gleichzeitig aber keinen Anspruch für Einkommensstärkere vorsieht. Eine derartige Konstruktion ist leistungsfeindlich, da Vorsorge bestraft wird. Als eine der Errungenschaften der zwanzigjährigen Debatte, die letztlich zur Einführung der Pflegeversicherung geführt hat, kann gelten, dass die Pflege als allgemeines Lebensrisiko anerkannt wurde. Solche Risiken bedürfen so das bisherige Sozialstaatsverständnis aber einer umfangreichen Absicherung. Das vorgeschlagene Leistungsgesetz begrenzt den Leistungsanspruch aber auf den bedürftigeren Teil der Bevölkerung. Damit wird das Pflegerisiko letztlich wieder zu einem Restrisiko degradiert, das nicht in gleichem Maße umfassend abgesichert werden muss wie etwa das Krankheitsrisiko. Im Hinblick auf die in Abschnitt 3 genannten Kriterien ergeben sich insbesondere Probleme mit Kriterium 1 und 2: Steuerfinanzierte Fürsorgesysteme stehen immer unter einem Finanzierungsvorbehalt. Der gleichmäßige (und dynamisierte) Mittelfluss an die Kommunen ist daher ebenso zweifelhaft wie die Unterstellung, dass diese die Mittel dann im vorgesehenen Ausmaß für Pflegeaufgaben verwenden. Angesichts leerer öffentlicher und gerade auch kommunaler Kassen ist eine Finanzierung von Pflegeleistungen im vorgesehenen Maße daher mehr als fraglich. Im Gegenteil hat sich die Kommunal- 596

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung und Länderebene seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung aus der Finanzierung komplementärer Angebote weitgehend zurückgezogen, obwohl diese nicht von der Pflegeversicherung finanziert werden, und sich auch nicht im erhofften Ausmaß an der Investitionsförderung von Pflegeeinrichtungen beteiligt. Das macht wenig Hoffnung für eine kommunale Alleinzuständigkeit. Die vom Verfassungsgericht geforderte Entlastung der Familien (Kriterium 3) wäre insofern hinfällig, als die Pflegeversicherung als eigenständiges Sicherungssystem abgeschafft würde, während die Nachhaltigkeit (Kriterium 4) im Hinblick auf den genannten Finanzierungsvorbehalt gefährdet erscheint. Die Lohnnebenkosten (Kriterium 5), ordnungstheoretische Kompatibilität (Kriterium 8) und die Verwaltungskosten (Kriterium 9) wurden bereits behandelt, so dass nur noch auf die Generationengerechtigkeit (Kriterium 7) und die sozialverträgliche Finanzierung (Kriterium 6) einzugehen ist. Ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz ist ebenso wie die derzeitige Sozialversicherungslösung umlagefinanziert. Gegenüber dem Status quo ergibt sich daher hinsichtlich der Generationengerechtigkeit grundsätzlich keine Veränderung. 5 Ob die Beitragsbelastung durch einen solchen Systemwechsel insgesamt steigt oder fällt, hängt von der Ausgestaltung (insbesondere Leistungsumfang, Einkommens- und Vermögensgrenzen) ab. Eine Ausgestaltung im Rahmen sozialverträglicher Beiträge erscheint aber grundsätzlich möglich. Insgesamt erscheint diese Option aber als nicht empfehlenswert, da sie ihre selbstgesteckten Ziele kaum erreichen dürfte, gravierende Probleme aufwirft und einem Teil der Bewertungskriterien in erheblichem Ausmaß nicht gerecht wird. 4.2 Umstieg auf eine die ganze Bevölkerung umfassende kapitalfundierte private Pflegepflichtversicherung Über die potenziellen Vor- und Nachteile einer Kapitalfundierung in Sicherungssystemen, die ein altersabhängiges Risiko abdecken, gibt es eine umfangreiche Debatte. Diskutiert wird dabei u.a. ob durch Kapitalfundierung ein 5 Eine umfassende Verteilungsanalyse kann hier im Einzelnen natürlich zu abweichenden Ergebnissen kommen, etwa durch Berücksichtigung der indirekten Steuern oder dadurch, dass sich das Verhältnis von beitragspflichtigen Einkommen und anderem beitragsfreien, aber steuerpflichtigem Einkommen (etwas aus Vermögen und selbstständiger Tätigkeit) zwischen den Kohorten unterschiedlich darstellt. 597

Heinz Rothgang höheres Wirtschaftswachstum oder eine höhere individuelle Rendite erzielt werden kann, inwieweit kapitalfundierte Systeme weniger anfällig für den demographischen Wandel sind und inwiefern sie die intergenerative Gerechtigkeit erhöhen. 6 Auf diese umfassende Diskussion kann an dieser Stelle allerdings nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. hierfür z.b. Rothgang 2002: 153-164 und die dort angegebene Literatur). Im Folgenden werden Vorschläge zur Einführung einer kapitalfundierten Pflegeversicherung daher nur im Hinblick auf die ausgeführten Kriterien untersucht, wobei Fragen der Realisierbarkeit im Vordergrund stehen. Beim Vorschlag, die derzeitige umlagefinanzierte soziale Pflegeversicherung durch eine kapitalfundierte Versicherung zu ersetzen, sind mindestens drei Varianten zu unterscheiden: der sofortige Umstieg auf ein kapitalfundiertes System, ein Auslaufmodell und ein Einfriermodell. Die ersten beiden Varianten, die auch in der Nachhaltigkeitskommission diskutiert wurden, führen zu einem Ersatz der umlagefinanzierten Pflegeversicherung durch ein kapitalfundiertes System, die letzte zu einer Ergänzung der Umlagefinanzierung (vgl. hierzu auch Fetzer et al. 2003). Gemeinsam ist allen Umstiegsmodellen, dass der aktuellen Beitragszahlergeneration eine Doppelbelastung auferlegt wird, da sie sowohl die Leistungen für die aktuell Leistungsberechtigten finanzieren als auch für eigene Ansprüche einen Kapitalstock aufbauen müssen. Diese Doppelbelastung ist grundsätzlich unvermeidlich, kann aber je nach Ausgestaltung in unterschiedlicher Weise über die Zeit (und verschiedene Geburtskohorten) verteilt werden. Die Nachhaltigkeitskommission hat ein Szenario für den sofortigen Umstieg entworfen, das durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: Abschaffung der gesetzlichen Pflegeversicherung zum Jahr 2005 bei gleichzeitiger Einführung einer obligatorischen kapitalfundierten privaten Pflegeversicherung mit altersabgestuften Prämien. 6 Neuerdings wird auch darauf verwiesen, dass in kapitalfundierten Systemen Umverteilungs- und Versicherungsfunktion getrennt sind. Allerdings kann das wie die aktuelle Debatte über Kopfprämien in der GKV zeigt grundsätzlich auch in umlagefinanzierten Systemen realisiert werden. 598

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung Sofortige Leistungsgewährung auch für die dann privat versicherten Pflegebedürftigen ungeachtet fehlender Vorversicherungszeiten. Zur Finanzierung dieser Leistungen, für die kein Kapital angespart wurde, wird ein Umlageverfahren im kapitalfundierten Verfahren eingeführt. Dadurch bedingt kann der Umstieg erst 2040 abgeschlossen werden. Im Ergebnis führt ein so konzipierter Umstieg zu einem sofortigen und dauerhaften Anstieg des allgemeinen wie bisher paritätisch finanzierten Beitragssatzes auf 3 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens. Weiterhin werden die Rentner mit einem zusätzlichen monatlichen Ausgleichsbeitrag von 20 belastet. Erst im Jahr 2040 kommt es dann zu einer spürbaren und nachhaltigen Entlastung der Folgekohorten, die bei Wegfall der beitragsfreien Familienversicherung eine altersunabhängige Prämie von 20-30 (in heutigen Preisen) für jeden Versicherten zahlen müssen. Wegen der als untragbar angesehenen Beitragsbelastung wird dieses Modell von der Nachhaltigkeitskommission verworfen. Im Hinblick auf die in Abschnitt 3 ausgeführten Bewertungskritierien liegt der Vorteil dieser Option vor allem in seiner Nachhaltigkeit (nach erfolgter Umstellung) und darin, dass die intergenerative Umverteilung verringert wird (Kriterien 4 und 7). Insbesondere die Postulate der Stabilisierung der Lohnnebenkosten (Kriterium 5) und der sozialverträglichen Finanzierung (Kriterium 6) werden in der 35-jährigen Übergangsphase aber in einem Maße verletzt, dass dieser Vorschlag nicht als ernst zu nehmende Alternative anzusehen ist. Ein abrupter Beitragsanstieg kann durch das Auslaufmodell vermieden werden. Hierbei scheiden die unter 60-jährigen ab 2005 aus der sozialen Pflegeversicherung aus und werden privat pflichtversichert. Die mindestens 60-jährigen verbleiben hingegen in der sozialen Pflegeversicherung und genießen dort Vertrauensschutz. Sie müssten hierfür eine nicht mehr paritätisch finanzierte einkommensunabhängige monatliche Ausgleichspauschale von 40 zahlen. Da dies aber nicht ausreicht, um die Ansprüche der dann alternden Rentnergeneration zu finanzieren, müssen die unter 60-jährigen zusätzlich einen einkommensabhängigen Solidarbeitrag entrichten, der von 1,1 % der beitragspflichtigen Einnahmen (2010) bis auf 1,8 % (im Jahr 2030) steigt, um dann bis 2045 auf Null zu sinken. Zugleich müssen die Jüngeren aber Prämien für ihre eigene private Pflegepflichtversicherung aufbringen, die wenn von einer starken Alterdifferenzierung zur Vermeidung von Belastungs- 599

Heinz Rothgang spitzen der rentennahen Jahrgänge abgesehen wird, bei rund 50 liegen dürften. Insgesamt kommt es bei Durchschnittsverdienern, die derzeit einen monatlichen Beitrag in Höhe von 21 abführen, dabei zu einer Verdreifachung der derzeitigen Belastung. Für die Rentner ergeben sich sogar noch höhere Belastungen durch die nicht mehr paritätisch finanzierte einkommensunabhängige monatliche Kopfprämie von 40. Für einen Eckrenter, der derzeit Beiträge von rund 10 aus eigenen Mitteln zahlt, führt die Kopfprämien von 40 somit zu einer Vervierfachung der Beitragslast. Bei Beziehern niedrigerer Renten ist der Wert noch deutlich höher. Auch diese sanftere Umstiegsvariante führt damit zu erheblichen Härten sowohl für Rentner als auch für die Jüngeren und ist daher im Hinblick auf das Kriterium 6 abzulehnen. Schließlich ist noch ein denkbares Einfriermodell zu nennen, das in der Nachhaltigkeitskommission allerdings nicht behandelt wurde. Hierbei bleiben zwar alle Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung, allerdings werden deren Leistungen nominal eingefroren. Eine solche Versicherung kann bei konstantem bzw. sogar sinkendem Beitragssatz finanziert werden (siehe Abschnitt 2). Jedoch kommt es dabei zu einem dramatischen Realwertverlust der Versicherungsleistungen, der dann durch eine private kapitalgedeckte (und ausschließlich vom Arbeitnehmer zu zahlende) Pflegepflichtzusatzversicherung aufgefangen wird. Da diese nur den Realwertverlust ausgleichen muss, der erst im Laufe der Zeit größer wird, sind die Zusatzbelastungen zunächst deutlich kleiner als in den beiden zunächst genannten Szenarien auch wenn an der Tatsache der Doppelbelastung grundsätzlich kein Weg vorbei führt. Im Zeitverlauf wird die Bedeutung der kapitalgedeckten Zusatzversicherung dann immer größer, während der Anteil der über die soziale Pflegeversicherung finanzierten Pflegeleistungen zurückgeht. Im Gegensatz zum sofortigen Umstieg und zum Auslaufmodell stehen die Auswirkungen dieser Option nicht im Gegensatz zum Postulat einer sozialverträglichen Beitragsbelastung (Kriterium 6). Die geforderte Dynamisierung der Leistungen (Kriterium 2) erfolgt dabei nicht innerhalb der sozialen Pflegeversicherung sondern durch die ergänzende Zusatzversicherung, ist damit grundsätzlich aber sichergestellt. Ein Nachteil liegt allerdings darin, dass für zunächst sehr geringe Versicherungsprämien und -leistungen eine eigene Versicherung abgeschlossen werden muss und die Verwaltungskosten daher relativ hoch sind (Kriterium 9). Zudem sind gleichfalls effizienzhemmende 600

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung Schnittstellenprobleme nicht auszuschließen, sollen Pflegeleistungen dann von zwei Versicherungsträgern finanziert werden. Wenn auch das Einfriermodell als einzige Variante einer Umstellung auf eine kapitalgedeckte Versicherung überhaupt realisierbar erscheint, sprechen diese Nachteile doch dafür, eine Leistungsdynamisierung im bestehenden System durchzuführen und diesem dazu entsprechende Finanzmittel zuzuführen. 4.3 Leistungsdynamisierung im System und zugehörige Finanzierungsoptionen Soll die soziale Pflegeversicherung ihre derzeitige Aufgabe bei der Absicherung des Pflegerisikos beibehalten oder sollen sogar erkannte Finanzierungslücken (etwa für Demente) geschlossen werden, ist es notwendig, dem System zusätzliche Finanzmittel zuzuführen. Hierzu bestehen grundsätzlich folgende Optionen: ein steuerfinanzierter Bundeszuschuss, ein Zusatzbeitrag für Kinderlose, ein Zusatzbeitrag für Rentner, evtl. gekoppelt mit obligatorischer Privatvorsorge für Jüngere, ein steigender Beitragssatz und die Einführung von Bürgerversicherungselementen. Eine Steuerfinanzierung passt aus ordnungstheoretischen Überlegungen (Kriterium 8) grundsätzlich in ein Fürsorgesystem, bei dem ausschließlich die finanziell Bedürftigen abgesichert werden. Einem Vorsorgesystem sind steuerfinanzierte Zuschüsse grundsätzlich fremd und bedürfen daher einer besonderen Begründung. Zwar existieren in der gesetzlichen Rentenversicherung, die ebenfalls als Vorsorgesystem konzipiert ist, sogar mehrere Bundeszuschüsse, die bis zu einem Viertel der Einnahmen der Rentenversicherung ausmachen (vgl. Schmähl 2001). Jedoch werden diese damit begründet und gerechtfertigt, dass die Rentenversicherung versicherungsfremde Leistungen in erheblichem Umfang für den Staat erbringe, die so ausgeglichen werden. Eine entsprechende Begründung lässt sich in der Pflegeversicherung kaum finden. Allenfalls ist hier an die von der Pflegeversicherung an die Rentenversicherung zu zahlenden Beitragszahlungen für Pflegepersonen zu denken. Allerdings kommen diese letztlich doch wieder den Pflegebedürftigen zugute und können daher kaum als versicherungsfremd bezeichnet 601

Heinz Rothgang werden (vgl. hierzu auch Nachhaltigkeitskommission 2003: 194, 221). Mangels einer geeigneten Legitimation können steuerfinanzierte Bundeszuschüsse im Vorsorgesystem soziale Pflegeversicherung daher wegen ordnungstheoretischer Bedenken nicht gefordert werden. Die gegenüber dem Leistungsgesetz vorgebrachten Bedenken in Bezug auf die Regelhaftigkeit und Nachhaltigkeit des Mittelflusses (Kriterium 1 und 4) sowie die Effekte in Bezug auf die Stabilisierung der Lohnnebenkosten (Kriterium 5) gelten für steuerfinanzierte Bundeszuschüsse ebenfalls. In seinem Beitragskinderurteil (Estelmann 2002) vom 3.4. 2001 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Familien in der Pflegeversicherung gegenüber Kinderlosen in verfassungswidriger Weise benachteiligt werden und die Umsetzung einer Besserstellung der Kindererziehenden innerhalb der sozialen Pflegeversicherung bis spätestens Ende 2004 gefordert (vgl. Rothgang 2001). Im zuständigen Bundesministerium wurden daraufhin Überlegungen angestellt, ob eine Beitragserhöhung für Kinderlose gedacht war an einen Betrag von 2,50 pro Beitragszahler nicht ebenfalls mit dem Verfassungsgerichtsurteil kompatibel sei, da damit die Kindererziehenden wenn schon nicht im Vergleich zum Status quo, so doch im Verhältnis zu den Kinderlosen bessergestellt würden. 7 Durch eine solche Beitragserhöhung würden der Pflegeversicherung zusätzlich Finanzmittel zugehen. Allerdings ist bei einer solchen Variante eine Differenzierung der Entlastung nach der Kinderzahl nicht möglich und nicht vorgesehen. Der argumentative Kern des Urteils hebt aber darauf ab, dass jedes Kind einen potenziellen zukünftigen Beitragszahler darstelle und die auf dieses Kind verwandten Erziehungsleistungen zu honorieren seien. Daraus folgt aber, dass die Entlastung in Abhängigkeit von der Kinderzahl erfolgen muss und der Vorschlag des BMGS am Kern des Urteils vorbeigeht, also gegen Kriterium 3 verstößt. Diesem Kriterium wird hingegen der Vorschlag der CSU vom März 2004 gerecht, nicht nur die Versicherten ohne Kinder im Alter von höchstens 12 Jahren monatlich um 4 zu belasten, sondern zugleich auch aus den dadurch 7 In jüngster Zeit wurde vom Ministerium vorgeschlagen, den Beitrag für Kinderlose nicht durch einen zusätzlichen Pauschalbetrag, sondern durch einen gesteigerten Beitragssatz zu erhöhen, was aus vielerlei Hinsicht die schlechtere Lösung wäre insbesondere, weil die Entlastung, die Familien dadurch erfahren, dass sie nicht zu diesem Zusatzbeitrag herangezogen werden, dann wieder einkommensabhängig ist (vgl. Schmähl/Rothgang 2004). 602

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung erzielten Mehreinnahmen die Versicherten mit Kindern im Haushalt um monatlich 10 pro Kind zu entlasten. Überschlägige Berechnungen ergeben, dass sich die resultierenden Mehrausgaben auf monatlich rund 80 Mio. belaufen, die Mehreinnahmen aber auf etwa 150 Mio. vorausgesetzt auch die Rentner werden mit 10 belastet. 8 Durch diese Lösung werden also Zusatzeinnahmen für die Pflegeversicherung generiert. Die fiskalische Ergiebigkeit (Kriterium 2) dieser Maßnahme ist aber sehr begrenzt. Zudem kann mit einer einmaligen Erhöhung des Beitrags für Kinderlose grundsätzlich keine kontinuierliche Leistungsdynamisierung finanziert werden. Auch der CSU- Vorschlag ist demnach mit Blick auf Kriterium 2 nicht ausreichend. 9 Die zusätzliche Belastung der Rentner steht im Mittelpunkt des intergenerativen Lastenausgleichs, den die Nachhaltigkeitskommission zur Finanzierung der Leistungsdynamisierung im System der sozialen Pflegeversicherung vorgeschlagen hat. 10 Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Forderung nach einer regelgebundenen Leistungsdynamisierung (Kriterium 2) mit dem Mittelwert aus Inflations- und Nominallohnsteigerung. Da die Kosten der Pflege überwiegend durch die Lohnkosten bestimmt werden, ist diese Dynamisierung allerdings nicht kaufkrafterhaltend, wenn unterstellt wird, dass die Preise entsprechend den Kosten steigen. 11 Dennoch erfordert bereits diese 8 Selbst wenn die Rentner nicht zur Finanzierung herangezogen werden, verbleibt der Pflegeversicherung aber ein kleines Plus. 9 Vgl. Schmähl/Rothgang 2004 für einen eigenen Vorschlag zur Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils, der auf einen steuerfinanzierten, zur Kinderzahl proportionalen, einheitlichen Pauschaltransfer an alle (also auch die privat versicherten) Eltern abstellt. 10 Die Reformvorschläge der Rürup-Kommission sehen zudem vor, die Versicherungsleistungen der stationären Pflege denen in der ambulanten anzugleichen und dabei die Ausgaben zu reduzieren, Leistungen für Demente zu erhöhen und dies durch eine Umfinanzierung bei der Behandlungspflege zu finanzieren sowie personenbezogene Budgets einzuführen (Nachhaltigkeitskommission 2003: Kapitel 5). 11 Zur Rechtfertigung wird von der Nachhaltigkeitskommission auf Effizienzreserven bei der professionellen Pflege verwiesen. Tatsächlich deuten empirische Untersuchungen (vgl. z.b. Gennrich/KDA 2002) darauf hin, dass Pflegeeinrichtungen derzeit sogar mit weniger Personal arbeiten, als dies für eine qualitativ befriedigende Pflege notwendig wäre. Doch selbst wenn Effizienzreserven unterstellt werden, können diese nur einmal mobilisiert werden und nicht jedes Jahr aufs neue, um eine regelmäßig unter der Lohnsteigerung liegende Dynamisierung auszugleichen. 603

Heinz Rothgang Dynamisierung steigende Einnahmen. Zur Finanzierung sieht der Vorschlag vor, dass die Rentner ab dem Jahr 2010 zusätzlich zum allgemeinen Beitrag einen generativen Ausgleichsbeitrag von zunächst 2 % ihres beitragspflichtigen Einkommens zahlen. Im Gegenzug kann der allgemeine GPV-Beitrag auf zunächst 1,2 % abgesenkt werden. Die Differenz zum derzeitigen Beitragssatz von 1,7 % wird den Erwerbstätigen aber nicht ausgezahlt, sondern als Vorsorgebeitrag auf individualisierten Pflegekonten etwa bei den Rentenversicherungsträgern gutgeschrieben, angespart und zum Zeitpunkt der Verrentung als Leibrente ausgezahlt. Im Zeitablauf steigt dann der allgemeine Beitragssatz an, bis er im Jahre 2030 wieder bei 1,7 % liegt und dort verharrt. Ab diesem Zeitpunkt werden keine Vorsorgebeiträge für die individuellen Pflegekonten mehr angespart. Der generative Ausgleichsbeitragssatz der Rentner wächst im gesamten Betrachtungszeitraum kontinuierlich an, von 2,0 % im Jahr 2010 bis auf 2,8 im Jahr 2040. Beschäftige führen somit immer 1,7 % der beitragspflichtigen Einkommen an die Pflegeversicherung ab, während der auf Renten abzuführende Beitragssatz von 3,2 % (= 1,2 % allgemeiner Beitrag + 2 % generativer Ausgleichsbeitragssatz) im Jahr 2010 auf 4,5 % (=1,7 % allgemeiner Beitrag + 2,8 % Ausgleichsbeitragssatz) ansteigt (vgl. Tabelle 2). 12 Die zusätzlichen Finanzierungslasten werden damit ausschließlich den Rentnern auferlegt, während die Beitragsbelastung der Beschäftigten und die Lohnnebenkosten unverändert bleiben (Kriterium 5). Damit kann die Doppelbelastung der derzeitigen Erwerbstätigengeneration vermieden werden, die kennzeichnend für alle Pläne einer Kapitalfundierung (und deren Konflikt mit Kriterium 6) war. Zudem besteht finanzieller Spielraum für eine wenn auch betraglich unzureichende regelgebundene Leistungsdynamisierung (Kriterium 2). Allerdings kommen auf die Rentner erhebliche Belastungen zu (Kriterium 6). Dies ist insbesondere deshalb problematisch, weil die Rentner bereits zugunsten der Rentenversicherungsträger und damit der Beschäftigten als Beitragszahler dadurch belastet wurden, dass sie den Pflegeversicherungs- 12 Zum Zeitpunkt der Berichtslegung hat der Rentenversicherungsträger noch die Hälfte des allgemeinen Beitrags finanziert. Die vom Rentner selbst zu zahlenden Anteile beliefen sich demnach auf die in der rechten Spalten angegebenen Werte von z.b. 2,6 % (im Jahr 2010) bzw. 3,65 % (im Jahr 2040). Inzwischen ist der Arbeitgeberanteil der Rentenversicherungsträger aber ersatzlos gestrichen worden und die Rentner müssen den gesamten Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen. 604

Reformoptionen zur Finanzierung der Pflegeversicherung beitrag seit 2003 allein zahlen müssen, ohne Beteiligung des Rentenversicherungsträgers (Kriterium 7). Tabelle 2: Beitragssatzentwicklung zur Pflegeversicherung gemäß dem Modell des intergenerativen Lastenausgleichs auf Arbeitsentgelt abzuführen Vorsorgebetrag für Pflegekonto (allgem.) GPV- Beitragssatz generativer Ausgleichsbeitragssatz auf Renten abzuführen nach ursprünglichem Plan davon zu tragen von RV-Trägern davon zu tragen von Rentern 2005 1,7 0,0 1,7 0,0 1,7 0,85 0,85 2010 1,7 0,5 1,2 2,0 3,2 0,60 2,60 2015 1,7 0,3 1,4 2,2 3,6 0,70 2,90 2020 1,7 0,2 1,5 2,4 3,9 0,75 3,15 2025 1,7 0,1 1,6 2,6 4,2 0,80 3,40 2030 1,7 0,0 1,7 2,6 4,3 0,85 3,45 2035 1,7 0,0 1,7 2,8 4,5 0,85 3,65 2040 1,7 0,0 1,7 2,8 4,5 0,85 3,65 Quelle: Nachhaltigkeitskommission 2003: 204, ergänzt um eigene Berechnungen. Der Charme des Vorschlags liegt nun darin, dass zumindest in der Modellrechnung und bezogen auf Eckrentner alle Rentnergenerationen bis 2040 gleichmäßig belastet werden. Spätere Generationen zahlen zwar einen höheren Gesamtbeitrag (allgemeiner Beitrag plus Ausgleichsbeitragssatz), jedoch können sie über einen längeren Zeitraum einen Vorsorgebeitrag einzahlen und erhalten folglich dann auch höhere Auszahlungen aus ihren individuellen Pflegekonten. Genau dies ist aber neben der einseitigen Belastung der Rentner ein wesentlicher Pferdefuß des intergenerativen Lastenausgleichs: er ist nicht nachhaltig. Ab etwa 2030 werden keine Ersparnisse mehr gebildet und spätestens ab 2040 sind die Auszahlungen aus den individuellen Pflegekonten dann gemäß den Modellrechnungen rückläufig bei einem hohen und steigenden Ausgleichsbeitrag. Die temporäre Kapitalbildung und anschließende Kapitalverzehrung kann also nur eine zeitlich begrenzte Lösung sein, die über einen zugegebenermaßen langen Zeitraum funktionieren kann, ab 2040 aber auf- 605