Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten

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Transkript:

Reflexion Schwerpunkt Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Guido Becke Dr. Guido Becke wiss. Assistent an der Universität Bremen, Fachgebiet Arbeitswissenschaft, wiss. Mitarbeiter am artec-forschungszentrum Nachhaltigkeit. Forschungsgebiete: Wandel der Erwerbsarbeit und Nachhaltigkeit, Organisationswandel, Arbeit und soziale Beziehungen Kontakt: Universität Bremen, artec-forschungszentrum Nachhaltigkeit, Fon +49-(0)421-2187808 E-Mail: becke@artec.uni-bremen.de Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Reproduktive Stabilität in Change Management-Prozessen Organisatorische Veränderungskonzepte beruhen auf den Leitvorstellungen der Beständigkeit und der Fundamentalität des Organisationswandels. Was die forcierte Umsetzung solcher Veränderungskonzepte betrifft, so nähren der empirisch belegte begrenzte ökonomische Erfolg und die erwartbaren unerwünschten Folgen für Engagement und Loyalität von Beschäftigten grundlegende Zweifel am Erhalten durch Verändern. Die Wirksamkeit von organisationalen Veränderungskonzepten lässt sich erhöhen, wenn sie um eine Perspektive des Veränderns durch Erhalten ergänzt werden. Dialogverfahren sind dabei von zentraler Bedeutung. Mythos Veränderung? Dass sich die Umwelten von Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten dynamisch und turbulent verändert haben, zeigt ein Blick auf die deutsche Versicherungsbranche. Noch in den 1990er-Jahren waren börsennotierte Großunternehmen mit ihrem weit verzweigten Netz regionaler Standorte und hoher Beschäftigungsstabilität auf einem weitgehend regulierten Versicherungsmarkt tätig. Die Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte, der rapide und verlustreiche Zusammenbruch des Aktienmarktes 2001 sowie der zunehmende Konkurrenzdruck durch Direktversicherer und spezialisierte regionale Anbieter mündete binnen weniger Jahre in eine unerwartete Umbruchsituation verschärften Wettbewerbs und ökonomischer Konzentration. Inzwischen schreiben Versicherungskonzerne wieder oftmals hohe Profite kennzeichnende schwarze Zahlen. Zugleich setzen sie auf Konsolidierungs- und Kostensenkungsprogramme, die mit einem Rückzug aus der Fläche, umfangreicher technischer Rationalisierung und erheblichem Personal- und Stellenabbau verbunden sind. Der massive Personalabbau zielt auf eine Kostensenkung im Verwaltungsbereich und eine Steigerung des Shareholder-Value für institutionelle Investoren. Schneller Wandel bzw. tief greifender Umbau von Unternehmen lautet in der Versicherungswirtschaft und anderen wettbewerbsintensiven Branchen derzeit die Devise. Der allgegenwärtige Mythos der Veränderung besagt, dass intendierter Unternehmenswandel immer ermöglicht, im ökonomischen Wettbewerb zu bestehen. Wandel enthält aber stets das Risiko des Scheiterns vor allem, wenn Probleme und nicht beabsichtigte Effekte intendierten Wandels übersehen oder gar geleugnet werden. Fortgesetzter Wandel entpuppt sich dann nicht als Lösung, sondern als Problem: Mit Blick auf die Versicherungskonzerne etwa bleibt abzuwarten, ob der Rückzug aus der Region nicht die bisherige Stammkundschaft vergrault und diese zu spezialisierten regionalen Anbietern abwandert. Fraglich ist auch, ob Versicherungsangestellte weiterhin bereit sind, den Wandel engagiert mit zu tragen, wenn bei hohen Unternehmensgewinnen drastisch Personal abgebaut wird. 1. Leitideen für organisatorische Veränderungskonzepte In der betriebswirtschaftlich orientierten Management- und Organisationsforschung sowie in der Organisationsberatung wird verstärkt für eine grundlegende Ausrichtung organisato- 18 OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007

Guido Becke Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Schwerpunkt Reflexion rischer Veränderungskonzepte im Sinne des Erhaltens durch Verändern plädiert. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei zentrale Leitideen intendierten Organisationswandels, welche die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in turbulenten Umwelten auf Dauer sichern sollen. Die Leitidee beständigen Wandels Die Idee des beständigen Organisationswandels geht davon aus, dass organisatorischer Wandel kein zeitlich befristetes Übergangsstadium mehr bildet, sondern in Anbetracht sich dynamisch verändernder Umwelten zu einer Daueranforderung und zu einer grundlegenden Operationsweise von Organisationen wird. Die Fähigkeit zum kontinuierlichen Wandel werde zu einem kritischen Erfolgsfaktor von Organisationen. Diese Leitidee bildet z.b. das konzeptionelle Rückgrat von Veränderungsansätzen der Lernenden Organisation. Die Leitidee fundamentalen Wandels Die zweite Leitidee beruht auf der Annahme, dass eine grundlegende Neuausrichtung von Unternehmen erforderlich sei, um ihre Antwort- und Passfähigkeit gegenüber dynamischen Umwelten zu verbessern. Ein solcher intendierter radikaler Wandel kann demnach auch wiederholt erfolgen, um die Überlebens- und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in turbulenten Umwelten zu gewährleisten. Diese Leitidee liegt beispielsweise Veränderungskonzepten des Change Managements oder auch dem Ansatz der Organisationstransformation (OT) zugrunde. So erscheinen aus der OT-Perspektive gewachsene, kulturelle Tiefenstrukturen als zentrale Barriere einer grundlegenden und umfassenden Veränderung von Unternehmen. Es wird ein geplanter Kultur-, Struktur- und Strategiebruch empfohlen, um eine neue Organisationskultur sowie darauf bezogene Organisations- und Verhaltensstrukturen, Normen und Werte sowie neue Geschäftsstrategien zu entwickeln und zu verankern. Mit Hilfe dieses Wandels zweiter Ordnung sollen dynamische Umweltanforderungen besser und schneller bewältigt werden. Der Unternehmensleitung wird eine dominante Akteursrolle, oftmals im Sinne charismatischer Führung, zugewiesen. Sie soll neue Visionen für Unternehmen entwickeln und gegenüber Führungskräften und Beschäftigten kommunizieren, damit sich diese darauf einstimmen und die ambitionierten Unternehmensziele engagiert verfolgen. 2. Grenzen des Erhaltens durch Verändern Die Praxiserfolge der Change-Strategie des Erhaltens durch Verändern bleiben oft hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. So kommen eine Reihe von organisationspsychologischen Studien zu Prozessen intendierten radikalen Organisationswandels in britischen und US-amerikanischen Unternehmen (siehe als Überblick Burke/Cooper 2000) zu dem Ergebnis, dass sich durch den realisierten Personal- und Stellenabbau zwar kurzfristig deutliche Kosteneinsparungen und auch eine Steigerung des Shareholder-Value realisieren ließen. In mittel- bis längerfristiger Perspektive wurden diese Kostenvorteile dann aber nicht selten durch ungeplante Folgekosten aufgezehrt, z.b. durch die Abwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte. Die erwarteten Produktivitätssteigerungen blieben aus, da die verbleibenden Beschäftigten auf den radikalen Organisationswandel oft mit verringertem Arbeitsengagement, abnehmender Loyalitätsbindung und Vertrauensverlusten in das Management reagierten. Innovationen und langfristige Leistungs- und Überlebenspotenziale wurden häufig zugunsten kurzfristig ausgerichteter Effizienzvorteile vernachlässigt. Die Veränderungsperspektive eines forcierten Erhaltens durch Verändern ist daher mit erhöhten Risiken für die Wettbewerbschancen und die Überlebensfähigkeit von Unternehmen verbunden. «Change Management kann durch die Ausbalancierung der Flexibilität von Unternehmen mit der Reproduktion von unverzichtbaren Stabilitätsankern besser gelingen.» Unternehmen können in turbulenten Umwelten nicht auf intendierten Wandel verzichten, und so stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Prozesse des Change Managements besser gelingen können. Eine Antwort besteht darin, die Flexibilität von Unternehmen als Spiegel der Beständigkeit und Fundamentalität intendierten Organisationswandels mit der Reproduktion von Stabilitätsankern auszubalancieren, die für ihre Überlebensfähigkeit unverzichtbar sind. Im Folgenden wird zunächst erläutert, um welche Stabilitätsvoraussetzungen es sich dabei handelt. Danach wird die Change-Strategie des Veränderns durch Erhalten skizziert. Die zentrale These dieses Beitrags lautet: Die Effektivität der Veränderungsstrategie des Erhaltens durch Verändern kann erhöht werden, wenn sie durch die Change-Strategie des Veränderns durch Erhalten ergänzt wird. Ihren Kern bildet die Leitidee der reproduktiven Stabilität. Abschließend werden die Reichweite und die Grenzen der Wandelstrategie des Veränderns durch Erhalten sondiert. Kernkomponenten organisatorischer Veränderungskonzepte «Erhalten durch Verändern» Leitidee des beständigen Wandels Leitidee des radikalen Wandels: Strategie-, Strukturund Kulturbruch Fokus: Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen «Verändern durch Erhalten» Leitidee der «reproduktiven Stabilität» zentraler Stabilitätsanker von Unternehmen Organisatorische Achtsamkeit durch Dialogverfahren Fokus: Überlebensfähigkeit von Unternehmen OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007 19

Reflexion Schwerpunkt Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Guido Becke 3. Stabilitätsanker der Überlebensfähigkeit von Unternehmen Stabilitätsanker ermöglichen Unternehmen in Veränderungsprozessen ein notwendiges Mindestmaß an Stabilität zu sichern. Sie richten sich auf unverzichtbare Stärken bzw. Kernkompetenzen und Entwicklungspotenziale von Unternehmen. Sie beziehen sich zum einen auf das Verhältnis von Unternehmen zu ihren relevanten Umwelten und zum anderen auf die von ihnen zu leistende Sozialintegration (vgl. als Überblick Becke 2005; Sorge/Witteloostuijn 2004). Stabilitätsanker intendierten Organisationswandels Verhältnis Unternehmen und Umwelt Zentrale Markt- und Wettbewerbsstrategien Verlässlichkeit Rechenschaftspflichtigkeit Betriebliche Sozialintegration Vertrauen Organisatorische Loyalität Kulturelle Identifikationskerne Stabilitätsanker im Verhältnis von Unternehmen und Umwelt Stabilitätsanker fördern die Herausbildung einer unverkennbaren Gestalt bzw. eines spezifischen Profils von Unternehmen in ihren relevanten Umwelten. Erkenntnisse der Organisationsforschung (vgl. ebd.; Preisendörfer 2004) legen Unternehmen die kontinuierliche Reproduktion von drei zentralen Stabilitätsankern nahe. Falls diese Anker im Rahmen intendierten Organisationswandels entwertet oder außer Kraft gesetzt werden, so gefährdet dies die Wettbewerbs- und die Überlebensfähigkeit von Unternehmen. Markt- und Wettbewerbsstrategien Profilierte und deutlich erkennbare Markt- und Wettbewerbsstrategien bilden einen für die Umweltbeziehungen von Unternehmen besonders relevanten Stabilitätsanker. Solche Strategien erfordern ein relativ hohes Maß an Stabilität und Konsistenz im Zeitverlauf, um die Glaubwürdigkeit und Reputation des Unternehmens bei diversen Anspruchsgruppen zu fördern. Häufigere Strategiewechsel im Rahmen des Unternehmenswandels beeinträchtigen tendenziell die Wettbewerbsund Überlebensfähigkeit von Unternehmen, da sie eine Glaubwürdigkeitslücke bei Konkurrenten, Kunden und anderen Anspruchsgruppen erzeugen. Sie signalisieren, dass die Unternehmensleitung nicht mit nachdrücklichem Engagement hinter ihren zentralen Geschäftsstrategien steht. Verlässlichkeit und Rechenschaftspflicht Ökonomischer Erfolg in dynamischen Umwelten basiert nicht zuletzt darauf, dass Unternehmen in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten für Kunden, Lieferanten und andere Anspruchsgruppen verlässlich und berechenbar bleiben (siehe Hannan/Freeman 1984). Der Stabilitätsanker der Verlässlichkeit bezieht sich auf die Fähigkeiten eines Unternehmens, Produkte oder Dienstleistungen in einer spezifischen Qualität wiederholt herzustellen oder zu erbringen. Unzureichende Verlässlichkeit gefährdet nicht nur eine längerfristige Kundenbindung, sie erschwert auch die Beschaffung weiterer (finanzieller) Ressourcen für wirtschaftliche Aktivitäten. Wenn Unternehmen gesellschaftlichen Erwartungen und rechtlichen Anforderungen an die Rechenschaftspflichtigkeit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht nachkommen bzw. gegen geltende Sozial- und Umweltstandards verstoßen, so kann dies oftmals längerfristig wirksame Reputationsverluste nach sich ziehen, die ihre Wettbewerbs- und Überlebensfähigkeit beeinträchtigen. Eine zentrale Voraussetzung für diese beiden Stabilitätsanker besteht darin, unternehmensintern darauf gerichtete Strukturen, Regeln sowie Handlungs- und Entscheidungsroutinen zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Werden solche Strukturen und Routinen in Prozessen organisatorischen Wandels außer Kraft gesetzt oder aufgelöst, so besteht die Gefahr, dass z.b. Strategien einer sozial verantwortlichen Unternehmensführung ihren personellen wie strukturellen Unterbau einbüßen und zu einer Marketinghülse werden. Damit erhöht sich die Verletzlichkeit von Unternehmen: Sie verlieren ihre Fähigkeit, sich abzeichnende umweltbezogene Risiken frühzeitig zu erkennen bzw. angemessen darauf zu reagieren sowie die gesellschaftlichen Wirkungen ihrer ökonomischen Aktivitäten abzuschätzen. Interne Stabilitätsanker des Veränderungsmanagements Vertrauen und Loyalität als besonders fragile Stabilitätsanker Die Wettbewerbs- und Überlebensfähigkeit von Unternehmen setzt einen gewissen Grad an Sozialintegration voraus, für die drei Stabilitätsanker besonders bedeutsam sind: Loyalität, Vertrauen und kulturelle Identifikationskerne. Für die Entwicklung und Aufrechterhaltung organisatorischer Loyalitätsbindungen und der Vertrauensbeziehungen zwischen Unternehmensvertretern und Beschäftigten ist der «implizite Arbeitsvertrag» von zentraler Bedeutung. Er umfasst die wechselseitigen impliziten und oft unausgesprochenen Erwartungen, die sich im Rahmen alltäglicher Arbeits- und Kooperationsprozesse zwischen beiden Seiten herausbilden und weiterentwickeln (siehe bereits Levinson et al. 1966). Diese implizite Übereinkunft zwischen beiden Seiten ergänzt den formalen Arbeitsvertrag. Beschäftigte erleben Prozesse der Unternehmenstransformationen in Verbindung mit Personalabbau oft als Erschütterung bzw. als einen Bruch dieses impliziten Erwartungsmusters wechselseitigen Gebens und Nehmens (Burke/Cooper 2000). Die (im Unternehmen verbleibenden) Drei Gestaltungskriterien des Organisationswandels für den Erhalt der Stabilitätsanker Vertrauen und Loyalität (Weiss/Udris 2001) 1. Transparente Kommunikationspolitik der Unternehmensleitung über Ziele, Verfahren, Maßnahmen und den Prozess der Reorganisation 2. Aktive Einbindung der verbleibenden Beschäftigten 3. Beachtung von Fairness- und Gerechtigkeitsaspekten bei Entlassungen und im Umgang mit den weiterbeschäftigten Mitarbeitern 20 OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007

Guido Becke Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Schwerpunkt Reflexion Beschäftigten nehmen einen solchen radikalen Organisationswandel nicht selten als Infragestellung ihrer Arbeitsplatz- bzw. Beschäftigungssicherheit und ihrer unternehmensinternen Karriere- und Entwicklungsmöglichkeiten wahr. Sie empfinden die Verletzung des impliziten Vertrags daher oft als Verrat an ihrem geleisteten Arbeitsengagement und ihrer Loyalität gegenüber dem Unternehmen. Die erlebte implizite Vertragsverletzung kann in einen Prozess der Vertrauenserosion zwischen Management und Belegschaften münden. Wenn Beschäftigte den Eindruck haben, dass ihre Gaben, wie z.b. freiwilliges Arbeitsengagement, nicht durch Gegengaben des Managements erwidert werden, verwandelt sich Vertrauen schnell in Misstrauen, das sich wenn den Erhalt und die Weiterentwicklung organisatorischer Kernkompetenzen unterstützen und damit die Lern- und Innovationsfähigkeit von Unternehmen fördern (Weick/Westley 1996). So empfiehlt es sich z.b., Berufsfachlichkeit und Qualitätsbewusstsein als Identifikationskerne der betrieblichen Subkultur von Instandhaltern in betrieblichen Veränderungsprozessen zu bestärken anstatt diese kulturellen Kerne zu Gunsten einer ausgeprägten Kostenorientierung zu entwerten. Eine solche Bestärkung ermöglicht etwa, dass die Instandhaltung weiterhin ihre zentrale Gewährleistungsfunktion für die Primäraufgabe eines Unternehmens sei es die Produktion von Automobilen oder aber die Bereitstellung öffentlicher Verkehrsdienstleistungen auf einem hohen Qualitätsniveau erfüllt. überhaupt nur allmählich und mühsam überwinden lässt (Beckert/Metzner/Roehl 1998). Unternehmen sind darauf angewiesen, zumindest hoch qualifizierte Beschäftigte und Führungskräfte als Wissensträger möglichst längerfristig an sich zu binden. Vertrauensbeziehungen zwischen Management und Beschäftigten sind von entscheidender Bedeutung dafür, dass Belegschaften Reorganisationsprozesse weitgehend mittragen. Kulturelle Muster als Stabilitätsanker des Wandels Ein Change Management, das auf einen radikalen Kulturbruch setzt, stößt oft auf massive Vorbehalte und Widerstände bei Beschäftigten und teilweise auch Führungskräften. Diese verteidigen die von ihnen wahrgenommen Erfolgsmuster und kulturellen Basisannahmen des Unternehmens. Die Entwertung des organisationskulturellen Bezugrahmens und ihrer Erfolge kann Organisationsmitglieder in ihrer Identität verunsichern vor allem, wenn sich über längere Zeiträume keine neuen stabilen kulturellen Muster herausbilden. Die Organisationsforschung verdeutlicht, dass die Bereitschaft von Organisationsmitgliedern zur Unterstützung intendierten Wandels gefördert wird, wenn einige zentrale kulturelle Verhaltens- und Orientierungsmuster und Praktiken beibehalten und die Erfolge der Vergangenheit nicht entwertet werden. Dies gilt vor allem für jene kulturellen Muster, die 4. Reproduktive Stabilität als Verändern durch Erhalten Ein veränderungsfähiges Unternehmen setzt die Reproduktion unverzichtbarer Stabilitätsanker voraus, die für ihre Überlebens- und teilweise auch Wettbewerbsfähigkeit bedeutsam sind. Reproduktion bedeutet hier nicht eine konservierende Bewahrung von Stabilitätsankern. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine «reproduktive Stabilität» (Becke 2005: 22 f.): Diese erfordert erstens, existente Stabilitätsanker unternehmensintern in Anbetracht erfolgter oder erwarteter interner wie externer Veränderungen auf ihre Angemessenheit und Effektivität zu untersuchen. Zweitens beinhaltet sie Prozesse, in denen Stabilitätsanker mit Blick auf wahrgenommene oder antizipierte Umweltveränderungen verändert werden. Schließlich umfasst reproduktive Stabilität Prozesse der internen Klärung, Selbstvergewisserung und Bestärkung jener Stabilitätsanker, die es aus Sicht der Unternehmensleitung bzw. der betrieblichen Interessenvertretung von Beschäftigten oder spezifischer Arbeitskulturen im Rahmen von tief greifenden Vorhaben des Change Managements zu erhalten gilt. Reproduktive Stabilität ist gebunden an Prozesse der Definition, Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung von Stabilitätsankern im Rahmen organisatorischer Veränderungsprozesse. Die Entscheidung darüber, welche Stabilitätsanker OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007 21

Reflexion Schwerpunkt Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Guido Becke aufrechterhalten, verändert oder aufgehoben werden, erfolgt in Aus- und Verhandlungsprozessen zwischen Entscheidungsträgern bzw. relevanten Akteuren eines Unternehmens. Organisatorische Achtsamkeit als Basis für das Verändern durch Erhalten Die Entwicklung und Kultivierung organisatorischer Achtsamkeit (Weick/Sutcliffe 2003) bildet eine zentrale Voraussetzung für die Change-Strategie des Veränderns durch Erhalten. Organisatorische Achtsamkeit ist darauf gerichtet, unbeabsichtigte Folgen von Veränderungsprozessen oder der nicht geplanten Verletzung von Stabilitätsankern organisationsintern zu untersuchen und möglichst zu antizipieren. Sie äußert sich erstens in einer achtsamen Haltung von Organisationsmitgliedern, die ungeplante Folgen von Veränderungsprozessen mit Blick auf organisatorische Stabilitätsanker reflektiert. Ihre Wirksamkeit erfordert zweitens, unternehmensintern Routinen zu etablieren, die eine organisatorische Selbstbeobachtung und Selbstreflexion ermöglichen. Solche Routinen organisatorischer Achtsamkeit bilden einerseits eine Form institutionalisierten Zweifels an der grundlegenden Infragestellung zentraler Stabilitätsanker in Prozessen intendierten Organisationswandels. Organisatorische Achtsamkeit beugt vor, dass Unternehmen im Zuge des Change Managements den für ihre Überlebensfähigkeit überaus riskanten Veränderungspfad wiederholten rapiden und kurzzyklischen radikalen Wandels einschlagen. Andererseits ermöglichen Achtsamkeitsroutinen, Stabilitätsanker auf den Prüfstand zu stellen. Sie können dadurch eine veränderungsresistente Aufrechterhaltung von nicht mehr passfähigen Stabilitätsbedingungen, d.h. eine «konservierende Stabilität», vermeiden. Organisatorische Achtsamkeit durch Dialoge Die besondere Stärke des Dialogs für organisatorische Achtsamkeit liegt darin, die Perspektiven verschiedener Akteursgruppen (z.b. Unternehmensleitung, Betriebsrat, mittlere Führungskräfte und Beschäftigte) systematisch aufeinander zu beziehen und wechselseitig zu überprüfen. Im Rahmen von Dialogverfahren erörtern verschiedene Akteursgruppen ihre Perspektiven, Erwartungen und Erfahrungen in Bezug auf den Organisationswandel. Dabei können nicht intendierte Effekte des geplanten Organisationswandels zur Sprache gebracht werden, deren Kenntnis sich der Unternehmensleitung bzw. Führungskräften oft entzieht, da diese unerwünschten Folgen häufig zuerst auf dezentralen Ebenen auftreten. Dialoge wirken daher als Frühwarnsystem im Umgang mit unbeabsichtigten Folgen oder Problemen des Organisationswandels, die von Promotoren des Wandels oft heruntergespielt oder geleugnet werden. Sie bieten einem kritischen Erfahrungspotenzial Raum, das einer «Integration des Unerwünschten», d.h. von bisher ungelösten Problemen, Widersprüchen oder Scheitererfahrungen intendierten Organisationswandels, den Boden bereitet. Sackgassen oder Problemen des Organisationswandels kann daher im Rahmen von Dialogverfahren auf den Grund gegangen werden, um weiterführende Lösungs- und Veränderungspotenziale auszuloten und zu entwickeln. Die Teilnahme an Akteursgruppen-übergreifenden Dialogen stärkt die Sensibilität von Führungskräften, vielfältige Realitätswahrnehmungen in Veränderungsprozessen zu beachten. Dialoge erhöhen die Achtsamkeit der Beteiligten für unerwartete und kritische Ereignisse in organisatorischen Veränderungsprozessen. Sie tragen insgesamt zu einer erhöhten organisatorischen Reflektion bei (Becke/Senghaas-Knobloch 2004). Solche Dialogverfahren können mit strategischen Dialogen in Führungskollegien verknüpft werden, indem ihre Ergebnisse dort als Gradmesser für den Erfolg des Change Managements berücksichtigt werden. Dialoge als Lernräume Dialoge ermöglichen kollektive bzw. organisatorische Lernräume, die Prozesse des Change Managements zeitweilig entschleunigen, indem sie diese der Reflektion aussetzen. Dialoge können als regelmäßig oder anlassbezogen durchgeführte Foren gegebenenfalls eine strategische Neuausrichtung oder Neujustierung intendierten Wandels fördern. Lernen in Dialogen stärkt die Fähigkeit von Promotoren des Organisationswandels zur reflektierten Gestaltung von Veränderungsprozessen. Indem sie auf der Basis neuer Einsichten und Beobachtungen Korrekturmaßnahmen mit Blick auf den bisherigen Veränderungsprozess vornehmen, erhalten sie das Veränderungsmanagement lernfähig (Wimmer 2004: 181). Wege zur Realisierung reproduktiver Stabilität Ansatzpunkte reproduktiver Stabilität im Rahmen von Change Management Dialogverfahren innerhalb und zwischen Akteursgruppen und Hierarchieebenen Projektförmige Experimente bzw. betriebliche Experimentierfelder Gütekriterien für die Prozessqualität des Change Managements 5. Ein Fallbeispiel aus der betrieblichen Praxisforschung Das betriebliche Fallbeispiel bezieht sich primär auf den internen Stabilitätsanker der Mitarbeiterloyalität. Restrukturierungsprozesse in Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) werden derzeit durch die europaweite Liberalisierung des Verkehrsmarktes und die Reduzierung kommunaler Verlustausgleiche forciert. In einem ÖPNV-Unternehmen, der Mobil AG, reagierten vor allem Instandhalter mit großer Unzufriedenheit auf den Veränderungsprozess. Führungskräfte unterschiedlicher Ebenen befürchteten, die Loyalität von Beschäftigten und ihr Arbeitsengagement einzubüßen, die ihnen für eine erfolgreiche Bewältigung des Veränderungsprozesses unverzichtbar erschienen. Dialogworkshops mit verschiedenen Handwerkergruppen In unserem Praxisforschungsvorhaben (ausführlich Becke/ Senghaas-Knobloch 2004) wurde in einer betrieblichen Projektbegleitgruppe ein zweistufiges Dialogverfahren entwickelt 22 OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007

Guido Becke Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Schwerpunkt Reflexion und vereinbart, um diesem Unmut der Beschäftigten auf den Grund zu gehen. Die erste Dialogphase bestand aus jeweils eintägigen Workshops mit Beschäftigten verschiedener Tätigkeitsfelder. Die Teilnahme erfolgte auf freiwilliger Basis. Diverse Werkstattbesuche im Vorfeld, die persönliche Ansprache und Information über Ziele und Anlage der Dialogworkshops erwiesen sich als Garanten für eine sehr hohe Teilnahmebereitschaft der Handwerker. «Dialoge ermöglichen kollektive bzw. organisatorische Lernräume, die Change Management entschleunigen, indem sie es der Reflektion aussetzen.» Im Rahmen der Workshops erörterten die Handwerker mit Hilfe verschiedener Methoden (z.b. visualisierte Gruppenund Plenumsdiskussion, Gruppen-Lebensbaum, Körperbild) ihre Perspektiven auf den betrieblichen Veränderungsprozess. Vor dem Hintergrund neuer Arbeits- und Leistungsanforderungen erörterten sie, was eine gute Qualität ihrer Arbeit ausmacht und welche Anforderungen und Lösungsideen sich daraus mit Blick auf eine verbesserte Gestaltung ihrer Arbeit und des Veränderungsprozesses ergeben. Sie setzten sich dabei unter anderem mit zwei nicht beabsichtigten negativen Folgen der Restrukturierung auseinander, die sie in ihrer Arbeit als Zumutung oder Problem erlebten: Die Einführung der Cost- Center hatte eine Abschottung zwischen den Fachbereichen der Werkstatt begünstigt, welche die kollegiale Zusammenarbeit erschwerte und Misstrauen aufgrund informeller Kostenverlagerungen zwischen den Bereichen förderte. Die Handwerker erlebten zudem den Widerspruch zwischen ihrem Bestreben, Qualitätsarbeit zu leisten, und erhöhtem Zeit- und Kostendruck als Zumutung für ihr arbeitskulturelles Selbstverständnis. Die Dialogkonferenz mit Führungs- und Fachkräften, Beschäftigten und Betriebsrat An der Dialogkonferenz nahmen neben Delegierten der Handwerker der Betriebsrat, die Arbeitsdirektion, die Centerleitung, Führungskräfte der Werkstatt sowie die Projektbegleitgruppe teil. Hierbei ging es um die gemeinsame Klärung der Frage, wie im Licht der Restrukturierung eine gute Arbeitsqualität im Hinblick auf Arbeitsergebnisse und -bedingungen befördert werden kann. Ausgangspunkt der Erörterung bildeten die im Rahmen der Workshops entstandenen Bildprotokolle der Handwerker, mit deren Hilfe sie ihre Erlebens- und Problemperspektiven auf die Restrukturierung einbrachten. Auf der Dialogkonferenz wurden unter anderem die bis dato betriebsöffentlich ausgeblendeten Kooperationsblockaden zwischen den Fachbereichen des Centers Instandhaltung sowie das skizzierte, für die Fahrzeugsicherheit relevante Qualitätsdilemma erörtert. Gemeinsam wurden hierzu erste Lösungsansätze entwickelt, wie z.b. eine interne Verständigung über verbindliche Qualitätsstandards. Das Dialogverfahren verdeutlichte, dass durch den Austausch verschiedener Problemperspektiven ein quasi systemisches Problemverständnis ermöglicht wurde. Es illustriert zudem, dass durch den übergreifenden Austausch, bedeutsame nicht intendierte Folgen als neuralgische Problembereiche der Restrukturierung aufgedeckt und thematisiert wurden. Diese intern zur Sprache zu bringen, ermöglichte es, Lösungsansätze zu entwickeln. Die Spielregel der Vertraulichkeit macht Dialogräume zu geschützten Räumen, in denen auch Dilemmata, Scheiterrisiken und unerwünschte Folgen des Organisationswandels diskutierbar werden. Das Entgegenkommen der Führungskräfte bei der Lösung angesprochener Probleme erlebten die Handwerker als Ausdruck sozialer Anerkennung und Gegenleistung für die erhöhen Arbeits- und Leistungsanforderungen. Ihr aktives Engagement zur Unterstützung der Reorganisation der Instandhaltung wurde dadurch gefördert. Eckpunkte betrieblicher Dialogverfahren Bildung einer Dialogbegleitgruppe Klärung der Einbindung potenzieller Dialog-Teilnehmender Aktive Vorphase der Kommunikation über Ziele und Anlage des Dialogs vorsehen Für Freiwilligkeit der Teilnahme an Dialogverfahren werben: Freiwilligkeit als Basis für produktive und kreative Dialogworkshops Vertraulichkeit wahren als Voraussetzung für offene Problemartikulation. Die Teilnehmenden entscheiden darüber, welche Dialogergebnisse weitergegeben werden. Dialogworkshops: Einsatz aktivierender, erlebensorientierter Dialogmethoden (z.b. visualisierte Gruppen- und Plenumsdiskussionen, Körperbild, Rollenspiel oder Standbild) Transparente (und bildhafte) Ergebnisdokumentation Dialogkonferenz: Unterschiedliche Problemperspektiven miteinander in Austausch bringen. Entscheidungsträger einbeziehen Verbindliche Verabredung und Abstimmung weiterer Umsetzungsschritte und Vorhaben Klärung von Zuständigkeiten Umsetzung mit experimentellen Erprobungsphasen verbinden Umsetzungscontrolling durch Dialogbegleitgruppe vorsehen 6. Ausblick: Zur Reichweite des Veränderns durch Erhalten Die bisherigen Überlegungen verdeutlichen, dass in Prozessen des Veränderungsmanagements eine Kombination von reproduktiver Stabilität mit verändernden Aktivitäten und Maßnahmen die Überlebensfähigkeit von Unternehmen fördern kann. Unternehmen können allerdings bei ihrem Bestreben, die Reproduktion ihrer Stabilitätsanker mit der Veränderungsdynamik auszubalancieren, in ein grundlegendes Dilemma des Organisationswandels geraten: Werden stabilisierende Aktivitäten überbetont oder wird auf einen grundlegenden, aber gegebenenfalls erforderlichen Wandel spezifischer Stabilitätsbedingungen verzichtet, so verliert der eingeschlagene proklamierte Kurs des Change Managements möglicherweise an Dynamik und Glaubwürdigkeit. Wenn hingegen vorwiegend harte Einschnitte oder fundamentale Veränderungen zentraler Stabilitätsanker erfolgen, droht die Gefahr eines Scheiterns OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007 23

Reflexion Schwerpunkt Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Guido Becke «Zentral ist der Dreiklang von Fairness, transparenter Kommunikation und aktiver Beteiligung.» des Organisationswandels. Meines Erachtens bieten sich Unternehmen zumindest zwei Auswege aus diesem Veränderungsdilemma. Auswege aus dem Veränderungsdilemma Die erste Option besteht darin, die Prozessqualität tief greifender Veränderungen, vor allem mit Blick auf die Reproduktion von Stabilitätsankern, zu fördern. Der Dreiklang von Fairness bzw. Gerechtigkeit, einer transparenten Kommunikation des Organisationswandels durch die Unternehmensleitung und Führungskräfte sowie der aktiven Beteiligung von Beschäftigten an geplanten Veränderungsprozessen erweist sich hierfür als ein zentraler Ansatzpunkt. Die organisationspsychologische Forschung zu radikalem Organisationswandel zeigt, dass Führungskräfte bzw. Promotoren des Wandels drei Fairness- bzw. Gerechtigkeitskriterien im Umgang mit Beschäftigten beachten sollten, um deren Unterstützung für notwendigen Wandel zu erhalten: Verteilungsgerechtigkeit meint, dass Vorteile und Lasten der Restrukturierung ausgewogen sein sollten. So widerspricht z.b. eine deutliche Erhöhung von Gehältern der Unternehmensleitung in Restrukturierungsprozessen mit gravierendem Personalabbau diesem Kriterium, da es das Gerechtigkeitsempfinden von Beschäftigten verletzt. Verfahrensgerechtigkeit bezieht sich darauf, in Prozessen intendierten Organisationswandels Beschäftigte ohne Ansehen der Person gleich zu behandeln, z.b. bei Verfahren zur Besetzung von Aufstiegspositionen. Interaktionsgerechtigkeit richtet sich auf einen anerkennenden und respektvollen Umgang von Führungskräften gegenüber Beschäftigten. Im Fallbeispiel der Mobil AG erlebten Handwerker z.b. noch nach Jahren das Verhalten einer ehemaligen Führungskraft als sehr verletzende Kränkung. Dieser Werkstattleiter hatte zuerst ihre Ideen zum Umbau der Werkstatt eingeholt, dann aber den Umbau ausschließlich nach eigenen Ideen realisieren lassen. Bei einer transparenten Kommunikation des Organisationswandels ist z.b. bedeutsam, Organisationsmitglieder über den Kurs und das Ziel des eingeschlagenen Veränderungsprozesses nicht im Unklaren zu lassen. Die zweite Option besteht darin, Veränderungen zentraler Stabilitätsanker als «experimentellen Wandel» (Dolata 2005) zu gestalten. Dabei können in betrieblichen, projektförmig organisierten Experimentierfeldern Innovationen entwickelt und erprobt werden, ohne dass existente Routinen, Verfahren oder Strategien schon außer Kraft gesetzt werden. Letztere werden erst substituiert, wenn sich die Innovationen im Rah- Eckpunkte organisatorischer Experimentierfelder Bildung einer Koordinationsgruppe der Experimentierfelder Klärung der Teilnehmenden an Experimentierfeldern: möglichst relevante Entscheidungsträger und dezentrale Wissensträger, je nach Problemstellung Beteiligte aus vor- und nachgelagerten Bereichen oder Kunden/Anspruchsgruppen des Unternehmens Zunächst Beibehaltung des Status quo (z.b. bestimmter Arbeitsprozesse, Strategie) Parallel zum Normalbetrieb: Einführung von Experimentierfeldern Klare zeitliche Begrenzung für Experimentierfelder Inhaltlicher Fokus: Entwicklung und Erprobung neuer Problemlösungen bzw. Gestaltungsansätze Grundverständnis: Neuerungen werden durch die Beteiligten experimentell erprobt und bewertet Übernahme erfolgreicher Neuerungen/Problemlösungen anstelle des Status quo, möglichst auf Basis des Konsensprinzips Prinzip der Rückholbarkeit: Neuerungen, die sich in der Praxis nach der Experimentierfeldphase als problematisch herausstellen (unerwünschte Folgen), können nachträglich modifiziert, verbessert oder außer Kraft gesetzt werden. 24 OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007

Guido Becke Vom Erhalten durch Verändern zum Verändern durch Erhalten Schwerpunkt Reflexion men der Experimentierfelder bewährt haben (Becke 2002). So können Unternehmen z.b. neue Geschäftsstrategien zunächst als quasi experimentelle Nischenstrategien (z.b. umweltverträgliche oder fair gehandelte Produkte herzustellen und anzubieten) entwickeln und erproben. Erweisen sich diese Strategien als erfolgreich, so werden sie in die zentralen Geschäftsstrategien integriert oder ersetzen diese. Fazit Für die Diskussion um neue organisatorische Veränderungskonzepte ergeben sich meines Erachtens drei Schlussfolgerungen: Erstens ist das Verhältnis von Veränderungsdynamik und Stabilität neu zu akzentuieren, da eine einseitige Ausrichtung organisatorischer Veränderungskonzepte an den Leitideen der Beständigkeit und der Radikalität des Wandels in sich die Gefahr birgt, dass Unternehmen die für ihre Überlebensfähigkeit zentralen Stabilitätsanker missachten und gravierend beschädigen. Zweitens stehen Unternehmen und ihre relevanten Entscheidungsträger vor der Aufgabe, für sich zu klären, welches ihre unverzichtbaren Stabilitätsanker sind, die es in intendierten Veränderungsprozessen zu reproduzieren gilt. Der Kreis der Entscheidungsträger schließt dabei auch die betriebliche Interessenvertretung der Beschäftigten als potenzieller Garant der betrieblichen Sozialintegration ein (Kotthoff 1995). Schließlich verdeutlichen die aufgezeigten ambivalenten Erfahrungen mit Prozessen intendierten Organisationswandels den Bedarf, sich in der anwendungsorientierten Organisationsforschung und -beratung intensiver über mögliche Gütekriterien einer guten Prozessqualität neuer organisatorischer Veränderungskonzepte zu verständigen bzw. diese weiter zu entwickeln. Literatur Becke, G. (2005). Überlebensfähigkeit durch radikalen Unternehmenswandel Balanceakt zwischen Veränderungsdynamik und reproduktiver Stabilität, artecpaper Nr. 125, artec-forschungszentrum Nachhaltigkeit, Universität Bremen, www.artec.uni-bremen.de, Bremen. Becke, G. (2002). Wandel betrieblicher Rationalisierungsmuster durch Mitarbeiterbeteiligung. Eine figurationssoziologische Fallstudie aus dem Dienstleistungsbereich, Frankfurt/M., New York. Becke, G., Senghaas-Knobloch, E. (2004). Forschung in Aktion Betriebliche Veränderung im Dialog, artec-paper No. 121, artec-forschungszentrum Nachhaltigkeit, Universität Bremen, www.artec.uni-bremen.de, Bremen. Beckert, J., Metzner, A., Roehl, H. (1998). Vertrauenserosion als organisatorische Gefahr und wie ihr zu begegnen ist; in: Organisationsentwicklung, H. 4, S. 56 66. Burke, Ronald J., Cooper, Cary L. (2000). The new organizational Reality: Transition and Renewal; in: Ronald J. Burke/Cary L. Cooper (Eds.): The Organization in Crisis. Downsizing, Restructuring and Privatization, Oxford, Malden, S. 3-19. Dolata, U. (2005). Soziotechnischer Wandel, Nachhaltigkeit und politische Gestaltungsfähigkeit, artecpaper No. 124, artec Forschungszentrum Nachhaltigkeit, www.artec.uni-bremen.de, Universität Bremen, Bremen. Hannan, Michael T., Freeman, J. (1984). Structural Inertia and Organizational Change; in: American Sociological Review, H. 2, S. 149 164. Kotthoff, H. (1995). Betriebsräte und betriebliche Reorganisation. Zur Modernisierung eines alten Hasen ; in: Arbeit, H. 4, S. 425-447. Levinson, H.; Price, Charlton R.; Munden, Kenneth J.; Mandl, Harold J.; Solley, Charles M. (1966). Men, Management and Mental Health. Cambridge, Massachusetts, 3rd Printing. Preisendörfer, P. (2005). Organisationssoziologie. Grundlagen, Theorien und Problemstellungen, Wiesbaden. Sorge, A.; van Witteloostuijn, A. (2004). The (Non) sense of Organizational Change: An Essai about universal Management Hypes, sick Consultancy Metaphors, and healthy Organisation Theories; in: Organization Studies, Nr. 7, S. 1205 1231. Weick, Karl E.; Sutcliffe, Kathleen M. (2003). Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, Stuttgart. Weick, Karl E., Westley, F. (1996). Organizational Learning. Affirming an Oxymoron; in: Stewart R. Clegg et al. (Ed.): Handbook of Organization Studies, London et al., S. 440-458. Weiss, V., Udris, I. (2001). Downsizing und Survivors. Stand der Forschung zum Leben und Überleben in schlanken und fusionierten Organisationen; in: Arbeit, H. 2, S. 103 121. Wimmer, R. (2004). Wider den Veränderungsoptimismus. Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer radikalen Transformation von Organisationen; in: Ders.: Organisation und Beratung. Systemtheoretische Perspektiven für die Praxis, Heidelberg, S. 155 189. OrganisationsEntwicklung Nr. 1 2007 25