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Transkript:

Numerische Mathematik 5 1 Einführung und Begriffe 1.1 Mathematische Modellbildung und numerische Simulation am Beispiel eines Wasserkreislaufs Simulation ist die Nachbildung eines dynamischen Prozesses in einem Modell, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind (VDI-Richtlinie 3633). Zum einen ist die rechnerische Simulation dann unumgänglich, wenn reale Experimente mit den Untersuchungsobjekten undurchführbar sind: Denken Sie etwa an die Entstehung von Galaxien oder an Untersuchungsobjekte, die erst geplant sind, also noch gar nicht existieren. Aber auch wenn reale Experimente möglich sind, ist es oft kostengünstiger und ressourcenschonender, stattdessen numerische Simulationen einzusetzen. 1 Einführung und Begriffe Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 6 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 7 A. Physikalische Grundlagen. Evangelista Torricelli (1608 1647): Abflussgeschwindigkeit v = 2gh, g = 9.81 (Gravitationsbeschleunigung), h = Höhe des Wasserspiegels. Abflussrate als Funktion des im Behälter befindlichen Wasservolumens V (falls es sich um einen Zylinder mit Grundfläche A handelt) f = a 2gV/A = c V mit c := a 2g/A. Der Parameter c kann über a (= Fläche der Austrittsöffnung) variiert werden, wenn der Abfluss einen Hahn besitzt. Wir sprechen von einem Steuerungsparameter. 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 8 B. Mathematisches Modell. U(t), V (t), W (t), R(t) f 1,..., f 5 p = p(t) : Wassermengen zur Zeit t in den Behältern. : Abflussfunktionen mit den Steuerungsparametern c 1,..., c 5. : Pumpenfunktion Änderungsraten der Wasservolumina: Zuflüsse weniger Abflüsse, d.h. U (t) = p(t) f 1 (U(t)) f 2 (U(t)) V (t) = f 1 (U(t)) f 3 (V (t)) f 4 (V (t)) W (t) = f 2 (U(t)) + f 4 (V (t)) f 5 (W (t)) R (t) = f 3 (V (t)) + f 5 (W (t)) p(t). (1.1) Diese Gleichungen, sog. (gewöhnliche) Differentialgleichungen, heißen die Kontinuitätsgleichungen unseres Systems. 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 9 Anfangszustand: Wassermengen in Behältern zu einem festen Zeitpunkt, etwa für t = 0. Das Verhalten unseres Systems ist für alle Zeiten t > 0 durch die obigen Differentialgleichungen eindeutig bestimmt. Die Aufgabe, eine Lösung des Systems (1.1) zu bestimmen, welche gegebene Anfangsbedingungen erfüllt, nennt man ein Anfangswertproblem. Addiert man alle Gleichungen, so ergibt sich U (t) + V (t) + W (t) + R (t) = 0, ein globales Erhaltungsprinzip, welches besagt, dass sich die Gesamtwassermenge in unserer Apperatur nicht verändert. (Es handelt sich hier um ein geschlossenes System.) 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 10 C. Algorithmus. Anfangswertprobleme lassen sich nur in Ausnahmefällen geschlossen lösen (reine Mathematik: in unserem Fall gibt es genau eine Lösung). Aufgabe der Numerik: Bereitstellung von Näherungslösungen. Idee: Wir betrachten die Gleichungen nicht mehr für jeden beliebigen Zeitpunkt, sondern nur noch zu bestimmten diskreten Zeitpunkten, etwa für t 0 = 0, t 1 = 1,... (Diskretisierung). U n := U(t n ),..., R n := R(t n ) (Volumina, die sich zum Zeitpunkt t n in den Behältern U,..., R befinden). Änderungsrate U (t n ) wird durch U(t n+1 ) U(t n ) = U n+1 U n approximiert (wir nähern hier eine Tangentensteigung durch eine Sekantensteigung an). 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 11 U n+1 = U n + p n f 1 (U n ) f 2 (U n ) V n+1 = V n + f 1 (U n ) f 3 (V n ) f 4 (V n ) W n+1 = W n + f 2 (U n ) + f 4 (V n ) f 5 (W n ) R n+1 = R n + f 3 (V n ) + f 5 (W n ) p n. Diese vier Gleichungen heißen die diskreten Kontinuitätsgleichungen unserer Kreislaufs (System von vier Differenzengleichungen). Addition liefert globales Erhaltungsprinzip U n+1 + V n+1 + W n+1 + R n+1 = U n + V n + W n + R n. (1.2) Legt man noch einen Anfangszustand fest (etwa U 0 = V 0 = W 0 = 0 sowie R 0 = Gesamtwassermenge = 100) und wählt geeignete Werte für die Parameter, etwa c 1 = 12, c 2 = c 4 = 2, c 3 = 1, c 5 = 2 sowie p = 17, so können wir unser Modell laufen lassen. 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 12 100 90 U n V n W n R n 80 70 Wassermenge 60 50 40 30 20 10 0 0 5 10 15 20 25 30 Zeit 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 13 D. Gleichgewichtswerte. Simulation: Jede der Größen U n, V n, W n und R n nähert sich mit zunehmendem n einem Gleichgewichtswert U, V, W, R, wenn wir die Steuerungsparameter nicht ändern. Bestimme Gleichgewichtswerte ohne (zeitaufwendige) Simulation: p = f 1 (U ) + f 2 (U ) f 1 (U ) = f 3 (V ) + f 4 (V ) f 5 (W ) = f 2 (U ) + f 4 (V ). Die vierte Gleichung (p = f 3 (V ) + f 5 (W )) ist redundant. Hier im Gegensatz zur Praxis Gleichungen einfach (Dreiecksform). Vorsicht: Die theoretisch ermittelten Gleichgewichtswerte können, aber müssen nicht im Fassungsbereich der Behälter liegen (Nebenbedingungen). 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 14 E. Steuerung. Wesentliches Ziel von Simulationen: Optimierung des Systemverhaltens bzw. Entscheidungshilfen für die Steuerung des Systems. In unserem Beispiel etwa: Wie muss man die Steuerungsparameter wählen, damit sich ein erwünschter (vorgegebener) Gleichgewichtszustand einstellt (auch hier: Nebenbedingungen, man kann z.b. die Hähne nicht beliebig weit öffnen). Fixiert man p, so führt dies in unserem Fall zu drei Bedingungen für die fünf Parameter c 1,..., c 5 : c 1 = c 2 + p/ U c 4 = c 3 + c 1 U / V c 5 = c 2 U / W + c 4 V / W. In realen Systemen ist ein solches Steuerungsproblem nicht explizit lösbar, man wird es nur näherungsweise und iterativ lösen können. 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 15 F. Kritik. Realität mathematisches Modell Algorithmus numerische Simulation der Realität. Bei jedem dieser drei Übergänge haben wir Fehler begangen, Modellierungsfehler. Unser Modell setzt wirbelfreien Wasserfluss voraus; in der Realität werden sich aber Wirbel bilden. Die Torricellische Ausflussformel ist nur gültig, wenn sich die Spiegelhöhe langsam ändert und keine Druckdifferenz zwischen Spiegel und Austrittsöffnung besteht, Voraussetzungen, die in der Realität nicht immer erfüllt sind. Diskretisierungsfehler. Wir haben den stetigen Strom des Wassers durch Durchschnittswerte (bez. Zeit und Raum) ersetzt. Rundungsfehler. Computer rechnen falsch. 1.1 Modellbildung und numerische Simulation Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 16 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren am Beispiel des Newton-Verfahrens Problem. Bestimme die Nullstelle(n) einer Funktion f : R D R, x f(x), bzw. die Lösung(en) der Gleichung f(x) = 0, x D. Konkreter: Bestimme a, a > 0, d.h. die positive Nullstelle der Funktion f : R R, x x 2 a, mit Hilfe der Grundrechenarten. 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 17 Mathematischer Hintergrund. Niels Henrik Abel (1802 1829), Evariste Galois (1811 1832): Es ist unmöglich, die Nullstellen allgemeiner nichtlinearer Funktionen elementar zu berechnen. Präziser: Die n Lösungen einer Gleichung der Form x n + a n 1 x n 1 + + a 1 x + a 0 = 0 können für n > 4 i. Allg. nicht mit Hilfe der Grundrechenarten und der Wurzelfunktionen durch die Koeffizienten dargestellt werden. Für n = 2: x 1,2 = a 1 ± a 2 1 4a 0 2 Für n = 3 und n = 4 gibt es ähnliche (kompliziertere) Formeln. D.h.: Bei der Nullstellenbestimmung nichtlinearer Funktionen (oder, was dasselbe ist, bei der Lösung nichtlinearer Gleichungen) ist man so gut wie immer auf numerische Verfahren angewiesen!. 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 18 Angenommen, x 0 ist Näherung für a mit dem Fehler e: a = x0 + e (z.b. x 0 = a). Gesucht ist eine bessere Näherung x 1. Taylor-Entwicklung (Brook Taylor, 1685 1731): 0 = f( a) = f(x 0 + e) = f(x 0 ) + f (x 0 ) e }{{} Taylor-Polynom + 1 2 f (ξ) e 2 mit ξ (x 0, a), falls x 0 < a, bzw. ξ ( a, x 0 ), falls x 0 > a. Man kann die Gleichung 0 = f(x 0 ) + f (x 0 ) e + 1 2 f (ξ) e 2 nicht nach e auflösen (ξ ist unbekannt!). Ist e aber klein, so ist e 2 noch viel kleiner und wir vernachlässigen den Term mit dem Faktor e 2, d.h. wir betrachten die lineare Gleichung 0 = f(x 0 ) + f (x 0 ) e mit der Lösung e = f(x 0) f (x 0 ) (falls f (x 0 ) 0). 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 19 Dann ist x 1 := x 0 + e = x 0 f(x 0 )/f (x 0 ) zwar keine Nullstelle von f, aber (hoffentlich) eine bessere Näherung für eine Nullstelle von f als x 0. Auf die gleiche Weise gewinnt man aus x 1 eine neue Näherung x 2 usw. Man setzt ein Iterationsverfahren ein: Wähle eine Ausgangsnäherung x 0. Für m = 1, 2,... iteriere gemäß x m := x m 1 f(x m 1) f (x m 1 ). (1.3) Dies ist das Newton-Verfahren (Sir Isaac Newton, 1642 1727). Für f(x) = x 2 a ergibt sich als Iterationsvorschrift x m := 1 ( x m 1 + a ) (m = 1, 2,...). (1.4) 2 x m 1 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 20 3 2.5 2 1.5 1 0.5 0 x 2 x 1 x 0 0.5 1 1 1.2 1.4 1.6 1.8 2 2.2 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 21 Man ersetzt das komplizierte Problem f(x) = 0 durch das lineare Problem f(x m 1 ) + f (x m 1 )e = 0 und korrigiert x m = x m 1 + e. Äquivalent: Wir betrachten die Tangente an den Graphen von f im Punkt (x m 1, f(x m 1 )), y = f(x m 1 ) + f (x m 1 ) (x x m 1 ), und berechnen die Nullstelle x m dieser linearen Funktion. Die Idee der Linearisierung lässt sich also wie folgt beschreiben: Ersetze ein kompliziertes Problem durch ein benachbartes lineares Problem (bzw. durch eine Folge solcher Probleme). In unserem Beispiel wurde die komplizierte Gleichung f(x) = 0 durch eine Folge linearer Gleichungen, nämlich der Tangentengleichungen, ersetzt. Eine Linearisierung führt fast immer auf ein Iterationsverfahren, weil ein Korrekturschritt i. Allg. nicht ausreicht, um eine brauchbare Näherung für die Lösung des komplizierten Ausgangsproblems zu bestimmen. 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 22 Für f(x) = x 2 a mit a = 2: x 0 x 1 x 2 x 3 x 4 2 1.5 1.41... 1.41421... 1.41421356237... (Nur die korrekten Ziffern von x 2, x 3 und x 4 sind angeben.) Es stellen sich folgende Fragen: 1. Konvergiert das Verfahren, d.h. gilt lim m x m = a, für jede Wahl des Startwerts x 0? Offenbar nicht, z.b. für x 0 = 0 ist x 1 noch nicht einmal definiert. 2. Also, für welche x 0 konvergiert die Folge {x m } m 0 gegen a? 3. Wann bricht man das Verfahren ab? Schranken für den Abbruchfehler x m a sind erforderlich. 1.2 Linearisierung und Iterationsverfahren Technische Universität Bergakademie Freiberg

Numerische Mathematik 23 1.3 Diskretisierung und Stabilität am Beispiel der Wärmeleitungsgleichung Problem. Die Temperatur u(x, t), 0 x π, in einem homogenen Stab mit konstantem Querschnitt habe zur Zeit t = 0 den Wert u(x, 0) = f(x). Der Stab sei wärmeisoliert außer an den Rändern x = 0 und x = π, wo die Temperatur konstant auf u(0, t) = u(π, t) = 0 gehalten wird (t > 0). Bestimme die Wärmeverteilung u(x, t ), 0 x π, im Stab zur Zeit t > 0.

Numerische Mathematik 24 Mathematisches Modell. Energieerhaltungssatz und Fouriersches Gesetz (Jean-Baptiste-Joseph Fourier, 1768-1830), Wärme fließt in Richtung abfallender Temperatur und zwar umso intensiver, je größer die Temperaturdifferenzen sind, führen auf das Problem: Gesucht ist eine Funktion u : [0, π] [0, ) R, (x, t) u(x, t), die die folgenden Eigenschaften besitzt: u t (x, t) = γ2 2 u (x, t), x2 0 < x < π, t > 0 (1.5a) mit einer Materialkonstanten γ( 1). Außerdem u(x, 0) = f(x), 0 x π, (Anfangsbedingung) (1.5b) z.b. f(x) = 3 sin(x) sin(2x) + sin(3x), u(0, t) = u(π, t) = 0, t 0, (Randbedingungen). (1.5c)

Numerische Mathematik 25 4 3.5 3 2.5 Waerme 2 1.5 1 0.5 0 1 0.8 0.6 Zeit 0.4 0.2 0 0 0.5 1 1.5 Ort 2 2.5 3 3.5

Numerische Mathematik 26 (1.5a) heißt Wärmeleitungsgleichung. Für komplizierte Anfangs- und Randbedingungen oder ortsabhängige Materialkonstanten kann man die Lösung solcher Probleme nicht explizit angeben. Es lässt sich jedoch beweisen, dass (1.5a), (1.5b), (1.5c) auch dann ein sachgemäß gestelltes Problem (im Sinne von Jacques Salomon Hadamard (1865 1963)) ist: 1. Es besitzt eine Lösung. 2. Diese Lösung ist eindeutig. 3. Sie hängt stetig von den Daten (den Anfangs- und Randbedingungen) ab!

Numerische Mathematik 27 Diskretisierung durch finite Differenzen: Bestimme u nur noch auf einem Gitter oder Netz Ω h,k = {(x i, t j ) : x i = ih für i = 0, 1,... n + 1, t j = jk für j = 0, 1,...}. Dabei sind h := π/(n + 1) bzw. k > 0 die Schrittweiten (Gitter- oder Netzweiten) in x- bzw. t-richtung. Unsere Näherung für u(x i, t j ) werden wir mit u i,j bezeichnen. In einem zweiten Schritt müssen wir die partiellen Ableitungen u/ t bzw. 2 u/ x 2 aus (1.5a) durch Ausdrücke annähern, die wir auf dem Gitter bestimmen können.

Numerische Mathematik 28 Dazu betrachten wir zuerst eine Funktion in einer Variablen, f : R I = [α, β] R, x f(x), und nehmen an, dass f in x 0 I differenzierbar ist. Weil f (x 0 ) = lim h 0 f(x 0 + h) f(x 0 ) h gilt, liegt es nahe, f (x 0 ) etwa durch eine der drei Formeln f(x 0 + h) f(x 0 ) h (Vorwärtsdifferenz) (1.6) f(x 0 ) f(x 0 h) h (Rückwärtsdifferenz) (1.7) f(x 0 + h) f(x 0 h) 2h (zentrale Differenz) (1.8) anzunähern. Dabei soll die Schrittweite h natürlich klein sein.

Numerische Mathematik 29 Die zweite Ableitung f (x 0 ) approximieren wir durch eine zentrale Differenz zweiter Ordnung f (x 0 ) f (x 0 + h) f (x 0 ) h f(x 0 +h) f(x 0 ) h f(x 0) f(x 0 h) h h (1.9) = f(x 0 + h) 2f(x 0 ) + f(x 0 h) h 2.

Numerische Mathematik 30 Diskretisierungsfehler: a) Ist f in I zweimal stetig differenzierbar, so gilt f(x 0 + h) f(x 0 ) h = f (x 0 ) + C 1 h mit C 1 1 2 max x I f (x) (analog für Rückwärtsdifferenz). b) Ist f in I dreimal stetig differenzierbar, so gilt mit C 3 1 6 max x I f (x). f(x 0 + h) f(x 0 h) 2h c) Ist f in I viermal stetig differenzierbar, so gilt = f (x 0 ) + C 3 h 2 f(x 0 + h) 2f(x 0 ) + f(x 0 h) h 2 = f (x 0 ) + C 4 h 2 mit C 4 1 12 max x I f (4) (x).

Numerische Mathematik 31 Analog bei partiellen Ableitungen, z.b.: u u(x, t + k) u(x, t) (x, t) = t k + O(k) für k 0,, und u u(x + h, t) u(x, t) (x, t) = x h + O(h) für h 0 2 u u(x + h, t) 2u(x, t) + u(x h, t) (x, t) = x2 h 2 + O ( h 2) für h 0. O (h p ) für h 0 (sprich: Groß O von h p ) ist eines der Landau-Symbole (Edmund Georg Hermann Landau, 1877 1938) und wie folgt definiert: f(y) = g(y) für y a : f(y)/g(y) ist beschränkt für y a.

Numerische Mathematik 32 Approximiere u/ t(x, t 0 ) durch eine Vorwärtsdifferenz und u 2 / x 2 (x, t 0 ) durch eine zentrale Differenz zweiter Ordnung. Für n = 4 ergibt sich dann u 1,1 u 1,0 k u 2,1 u 2,0 k u 3,1 u 3,0 k u 4,1 u 4,0 k = u 0,0 2u 1,0 + u 2,0 h 2, = u 1,0 2u 2,0 + u 3,0 h 2, = u 2,0 2u 3,0 + u 4,0 h 2, = u 3,0 2u 4,0 + u 5,0 h 2.

Numerische Mathematik 33 Wir lösen diese Gleichungen nach u i,1 auf und setzen τ := k/h 2. (Beachte u 0,0 = u 5,0 = 0, Randbedingungen!) u 1,1 u 1,0 2 1 0 0 u 1,0 u 2,1 u 3,1 = u 2,0 u 3,0 + τ 1 2 1 0 u 2,0 0 1 2 1 u 3,0. u 4,1 u 4,0 0 0 1 2 Alle Einträge auf der rechten Seite dieser Gleichung sind bekannt (Anfangsbedingung!), wir können also die Näherungswerte u i,1 für die Zeitschiene t = k bestimmen. Analog kann man danach aus den Werten u i,1 die Werte u i,2 für die Zeitschiene t = 2k berechnen, usw. u 4,0

Numerische Mathematik 34 Explizites Euler-Verfahren (Leonhard Euler, 1707 1783): Ziel: Berechne Näherungen u i,j für die Lösung u(ih, jk) von (1.5a), (1.5b), (1.5c), wobei 1 i n, 1 j m. Bestimme u (0) := [u 1,0, u 2,0,..., u n,0 ] T = [f(x 1 ), f(x 2 ),..., f(x n )] T aus der gegebenen Anfangsbedingung. Für j = 1, 2,..., m berechne u (j) = [u 1,j, u 2,j,..., u n,j ] T durch u (j) = [I + τa h ] u (j 1). (1.10) Dabei bezeichnen I die (n n)-einheitsmatrix, τ = k/h 2, A h die Tridiagonalmatrix A h = tridiag(1, 2, 1) R n n (s.o.) und u (j) den Vektor, der die Näherungen für die Temperatur zur Zeit t = jk enthält.

Numerische Mathematik 35 Für k = 1/11, h = π/30: 8 6 4 Waerme 2 0 2 4 6 1 0.8 0.6 Zeit 0.4 0.2 0 0 0.5 1 1.5 Ort 2 2.5 3 3.5

Numerische Mathematik 36 Die folgende Tabelle zeigt, dass man für kleinere Werte von k sogar noch unsinnigere Werte erhält. Erst wenn die Zeitschrittweite k winzig ist, ergeben sich brauchbare Näherungen. k u(7h, 1) u(14h, 1) u(21h, 1) u(28h, 1) 1/11 3.7 10 0 3.1 10 0-6.3 10 0-1.3 10 0 1/50-2.7 10 23-3.7 10 23 8.5 10 23-2.7 10 23 1/100 1.4 10 24-6.1 10 25 1.1 10 26-3.5 10 25 1/150 6.5 10 6-1.2 10 7 1.2 10 7-3.3 10 6 1/200 7.2 10 1 1.1 10 0 9.1 10 1 2.4 10 1 1/250 7.2 10 1 1.1 10 0 9.1 10 1 2.4 10 1 0 7.2 10 1 1.1 10 0 9.1 10 1 2.4 10 1 (h = π/30, k = 0 bedeutet hier, dass es sich bei den zugehörigigen u-werten um die Funktionswerte der exakten Lösung handelt.)

Numerische Mathematik 37 Implizites Euler-Verfahren: Einziger Unterschied zum expliziten Verfahren: u t u(x, t) u(x, t k) (x, t). k Nun ergibt sich für die Gitterpunkte auf der ersten Zeitschiene t = k (im Spezialfall n = 4) u 1,1 u 1,0 2 1 0 0 u 1,1 u 2,1 u 3,1 = u 2,0 u 3,0 + τ 1 2 1 0 u 2,1 0 1 2 1 u 3,1. u 4,1 u 4,0 0 0 1 2 u 4,1

Numerische Mathematik 38 Die Unbekannten auf der neuen Zeitschiene sind hier implizit durch die Werte auf der alten Zeitschiene gegeben, nämlich als Lösung eines linearen Gleichungssystems. D.h. in jedem Zeitschritt des impliziten Euler-Verfahrens muss ein lineares Gleichungssystem gelöst werden. Bestimme u (0) := [u 1,0, u 2,0,..., u n,0 ] T = [f(x 1 ), f(x 2 ),..., f(x n )] T aus der gegebenen Anfangsbedingung. Für j = 1, 2,..., m berechne u (j) = [u 1,j, u 2,j,..., u n,j ] T als Lösung von (I τa h )u (j) = u (j 1). (1.11) Für k = 1/11 und h = π/30 ergibt sich:

Numerische Mathematik 39 5 Anfangswert (t=0) 1.5 exakte Loesung (t=1) 4 3 1 2 0.5 1 0 0 1 2 3 0 0 1 2 3 1.5 numerische Loesung (t=1) 0.06 Fehler 1 0.04 0.5 0.02 0 0 1 2 3 0 0 1 2 3 4

Numerische Mathematik 40 Warum verhalten sich explizites und implizites Verfahren so unterschiedlich? Bezeichnungen: Exakte Lösung für t = jk u (j) (h, k) := [u(h, jk), u(2h, jk),..., u(nh, jk)] T R n. Näherungslösung für t = jk u (j) Verf (h, k) Rn mit Verf {ex, im}. Globaler Diskretisierungsfehler dieser Verfahren e (j) Verf (j) (h, k) := u (h, k) u (j) Verf (h, k). Von einem vernünftigen Verfahren wird man erwarten, dass der globale Diskretisierungsfehler gegen Null strebt, wenn die Schrittweiten klein werden, e (j) (h, k) 0 für jk fixiert und h, k 0.

Numerische Mathematik 41 Der lokale Diskretisierungsfehler der beiden Verfahren ist durch ex (h, k) := u (j) (h, k) [I + τa h ]u (j 1) (h, k), d (j) im (h, k) := [I τa h]u (j) (h, k) u (j 1) (h, k) d (j) (τ = k/h 2 ) erklärt. Er gibt an, wie gut die exakte Lösung die jeweilige Differenzenapproximation erfüllt (vgl. (1.10) und (1.11)). Es gilt (C 1, C 2 unabhängig von h, k, j und l) [d (j) Verf (h, k)] l k(c 1 k + C 2 h 2 ) (l = 1, 2,..., n), Verf {ex, im}. Die lokalen Diskretisierungsfehler der beiden Verfahren sind qualitativ gleich. Insbesondere erfüllen sie d (j) (h, k) 0 für k, h 0 (solche Verfahren nennt man konsistent). Dass sich die globalen Diskretisierungsfehler trotzdem erheblich unterscheiden, liegt am unterschiedlichen Stabilitätsverhalten der beiden Algorithmen.

Numerische Mathematik 42 Entscheidend: Zusammenhang zwischen globalen und lokalen Diskretisierungsfehlern e (j) [I τa h ]e (j) im Einheitliche Schreibweise: ex (h, k) = [I + τa h ]e ex (j 1) (h, k) + d ex (j) (h, k), (h, k) = e(j 1) im mit der Fehlerfortpflanzungsmatrix (h, k) + d (j) im (h, k). e (j) (h, k) = B h,k e (j 1) (h, k) + g (j) h,k (1.12) B h,k := { I + τah für das explizite Euler-Verfahren, (I τa h ) 1 für das implizite Euler-Verfahren (1.13) und einem Vektor g (j) h,k := { (j) d ex (h, k) (explizit), (I τa h ) 1 d (j) im (h, k) (implizit). (1.14)

Numerische Mathematik 43 Betrachten wir nun ganz abstrakt das Wachstumsverhalten einer Vektorfolge {e (j) } j=0,1,..., die rekursiv durch gegeben ist. Es gilt e (j) := Be (j 1) + g (j) (j = 1, 2,...) mit e (0) = 0 e (1) = g (1), e (2) = Be (1) + g (2) = Bg (1) + g (2), e (3) = Be (2) + g (3) = B 2 g (1) + Bg (2) + g (3),. =. e (j) = Be (j 1) + g (j) = j m=1 B j m g (m).

Numerische Mathematik 44 Das bedeutet e (j) 2 = j m=1 B j m g (m) 2 [ ] j max g (m) 2 1 m j m=1 j m=1 B j m 2 g (m) 2 B j m 2. (1.15) Der erste Faktor max 1 m j g (m) 2 wird bei beiden Euler-Verfahren (wie bei allen konsistenten Differenzenschemata) beliebig klein, wenn h und k nur genügend klein gewählt sind. Der zweite Faktor, j m=1 B j m 2 = { j, falls B 2 = 1, ( B j 2 1)/( B 2 1), falls B 2 1, ist beschränkt falls B 2 < 1 (nämlich durch 1/(1 B 2 )). Ist aber B 2 1, so wächst er über alle Schranken.

Numerische Mathematik 45 Wir nennen nun ein Differenzenverfahren stabil, wenn die Norm der zugehörigen Fehlerfortpflanzungsmatrix kleiner als 1 ist (und andernfalls instabil). Mit (1.15) haben wir ein Metatheorem der numerischen Mathematik bewiesen: Stabilität (dh. der zweite Faktor auf der rechten Seite von (1.15) ist beschränkt) und Konsistenz (dh. der erste Faktor strebt mit h und k gegen 0) eines Differenzenschemas implizieren, dass der globale Diskretisierungsfehler ebenfalls gegen 0 geht (für h, k 0) man spricht dann von einem konvergenten Verfahren. Kürzer gefasst, Stabilität + Konsistenz Konvergenz.

Numerische Mathematik 46 Für das explizite Euler-Verfahren gilt B h,k 2 = I + τa h 2 < 1 genau dann, wenn τ = k h 2 1 2 (das explizite Euler-Verfahren ist nur bedingt stabil, d.h. unter der oben angegebenen Bedingung), während das implizite Euler-Verfahren unbedingt stabil ist (d.h. ohne Bedingungen an h und k), B h,k 2 = (I τa h ) 1 2 < 1 für alle h und k.