MINT-Education auf der Sekundarstufe 1 Markus Wilhelm Im Verlaufe der Vorträge und Diskussionen der MINT-Tagung konnten sieben Problembereiche herausgearbeitet werden, die auf der Sekundarstufe 1 besonders drängend sind. Das Flow-Team Sek 1 hat diese Problembereiche im Gespräch weiter akzentuiert und erste Lösungsansätze erarbeitet. Die Lösungsansätze wurden anschliessen in der Diskussion kritisch hinterfragt. Während der Rückmeldephase haben Mitglieder anderer Flow-Teams ergänzende konstruktive Kritik angebracht. Schliesslich erfuhren die Lösungsansätze im Nachgang durch den Moderator des Flow-Teams mit Reflexionen erweitert. Die nun vorliegende Zusammenstellung gibt deshalb ein subjektives und unvollständiges Stimmungsbild der Diskussion zur MINT-Bildung auf der Sekundarstufe 1 ab. Lehrpersonenbildung Die Lehrpersonenbildung in Mathematik ist gut (Biedermann et al., 2012: 72). Hingegen ist jene in Informatik nur bedingt vorhanden, da Informatik weder in aktuellen Lehrplänen noch im Lehrplan 21 ein obligatorisches Schulfach ist. Auch in den Naturwissenschaften ist die Ausbildung der Lehrpersonen oft inadäquat, weil die meisten Pädagogischen Hochschulen noch immer Studienprogramme anbieten, die nicht den Bedürfnissen der Zielstufe entsprechen: z. B. Einzeldisziplinen statt Integrationsfach. Aktuelle Schweizer Studien lassen den Schluss zu, dass dadurch sowohl die Unterrichtsqualität (Bölsterli et al., 2011: 286) als auch die Lernwirksamkeit bei den Schülerinnen und Schüler stark leidet (Lagler, 2010: 75). Lösungsansatz 1: Erarbeiten eines Positionspapiers hinsichtlich der Mindestansprüche an die naturwissenschaftliche Ausbildung von Lehrpersonen der obligatorischen Schulzeit. Reflexion: Der Verband Fachdidaktik Naturwissenschaften Schweiz (2012) hat ein solches Positionspapier erarbeitet. Es wurde von Exponenten der Wirtschaft positiv aufgenommen und als bedeutend taxiert (Gewerbe Luzern 2012: 12). 130 Markus Wilhelm
Lösungsansatz 2: Kontakte zwischen PH-Studierenden aller MINT-Disziplinen mit der Wirtschaft ermöglichen. Reflexion: Solche Angebote bestehen bereits (z. B. NaTech Education, IngCH), doch werden sie nur bedingt genutzt, weil die Zeitgefässe für die Lehrpersonenausbildungen in Naturwissenschaften oft enger sind als in vergleichbaren Fächern. Lehrpersonenweiterbildung Die Weiterbildung der Sek-1-Lehrpersonen in MINT ist teilweise gescheitert. Es bilden sich wenn überhaupt nur jene weiter, die schon viel wissen. Brovelli et al. (2011: 77) konnten aufzeigen, dass nur jene angehenden Lehrpersonen der weiteren Entwicklung ihrer Fachlichkeit in Naturwissenschaften hohe Bedeutung beimessen, die bereits über eine hohe Berufsidentität hinsichtlich Naturwissenschaften verfügen. Seit Landert (2000: 372) ist zudem bekannt, dass rund die Hälfte aller Lehrpersonen die formellen Weiterbildungsangebote grundsätzlich nicht nutzen. Lösungsansatz: Ein Naturwissenschaftsportfolio analog des Europäischen Sprachenportfolios als Minimalstandard setzen, das in der Lehrpersonenausbildung bzw. Weiterbildung erreicht werden muss. Die Nationalen Bildungsstandards und der Lehrplan 21 könnten dazu erste Ansätze bieten. Reflexion: Um eine ähnliche Akzeptanz zu erreichen, müsste das Naturwissenschaftsportfolio mindestens europäisch, besser international verankert sein. Grundlagen dazu liefert die American Association for the Advancement of Science (2001, 2007) z. B. mit dem Atlas of Science Literacy. MINT-Education auf der Sekundarstufe 1 131
Berufswahl der Jugendlichen Viele Jugendliche in der Schweiz können kein Interesse an physikalischen, technischen und chemischen Themen entwickeln, weil ihre Lehrpersonen selber nur dürftige Kenntnisse davon haben und sie diese Themen nicht oder falsch unterrichten (Lagler, 2010: 80). Lösungsansatz 1: Berufliche Schnupperwochen für Lehrpersonen in Technik-Firmen und Forschungsanstalten ermöglichen. Reflexion: Solche Ansätze gibt es bzw. gab es bereits in vielen Kantonen. Das Problem ist die Bezahlung der Lehrpersonen. Sie läuft während den beruflichen Schnupperwochen über den entsprechenden Kanton. Viele Kantone wurden jedoch durch die Politik verpflichtet in der Bildung Kosten zu sparen, so dass z. B. im Kanton Luzern u.a. diese beruflichen Schnupperwochen für Lehrpersonen teilweise gestrichen wurden. Die Wirtschaft müsste folglich neu für diese Kosten aufkommen. Lösungsansatz 2: MINT-Animatorinnen und -Animatoren einführen, analog bestehender Musik- oder Theateranimationen, die Schulhäuser besuchen und mit Klassen Projekte durchführen. Reflexion: In zahlreichen Kantonen gibt es bereits ähnliche öffentliche Angebote aber auch solche privater Gruppierungen bzw. Firmen. Der Knackpunkt ist hier hauptsächlich die Qualitätssicherung. Lehrplansituation in MINT In den aktuellen Lehrplänen dominieren Themen der Biologie über jene der Chemie und Physik. Dahinter stecken vermutlich eine gewisse Technikfeindlichkeit und eine falsch verstandene Förderung der Mädchen, denn gerade integrierte Themen zu Gesundheit und Technik werden sowohl von Jungs und wie auch von Mädchen in der Schweiz als höchst interessant beurteilt (Baumgartner, 2011: 58). 132 Markus Wilhelm
Lösungsansatz 1: Im Lehrplan 21 sollten Biologie, Chemie, Physik und Technik ähnlich gewichtet und besser mit Mathematik koordiniert werden. Reflexion: Dieser Prozess läuft bereits und wird voraussichtlich im 2014 abgeschlossen sein. Lösungsansatz 2: Ein Wahlfach MINT einrichten, wie dies in der neuen Stundentafel von Baselstadt und Basellandschaft vorgesehen ist. Reflexion: Dazu ist Lobby-Arbeit in allen Kantonen nötig, die von entsprechenden Interessengruppen geleistet und finanziert werden muss. Unterrichtsqualität in den Naturwissenschaften Gemäss der Pilotstudie von Schaub (2012: 55) übersteigen Sek-1-Prüfungsaufgaben zu biologischen Themen kaum je die Kategorien 1 und 2 der Bloom sche-taxonomie. Biologie wird also als reines Auswendiglernfach unterrichtet: Da werden wenn überhaupt die Falschen gefördert und es wird nicht Naturwissenschaft betrieben. Lösungsansatz: In der Lehrpersonenbildung das einfache Experiment und die Beobachtung stärken. Reflexion: Sowohl bei den nationalen Grundkompetenzen für die Naturwissenschaften als auch voraussichtlich im Lehrplan 21 erhalten das naturwissenschaftliche Experimentieren und Beobachten verstärkte Bedeutung. MINT-Education auf der Sekundarstufe 1 133
Lehrmittelsituation in MINT Die Lehrmittelsituation für Mathematik ist befriedigend, nicht so aber für Informatik bzw. für die Naturwissenschaften. Es gibt kein lehrplankompatibles und kompetenzorientiertes Naturwissenschaftslehrmittel für die Schweiz. Aus Finanzgründen wird auch in Zukunft kaum eines erstellt und wenn doch, dann wird es von vielen Gemeinden vermutlich nur zögerlich angeschafft. Lösungsansatz: Ein obligatorisches Standardlehrmittel nicht nur in der Mathematik einführen Reflexion: Die kantonalen Politikerinnen und Politiker müssten bereit sein, die nötigen finanziellen Mittel zu sprechen. Wirtschaft und Politik Viele Wirtschaftvertreter und Politikerinnen schwächen die naturwissenschaftliche Bildung der Sekundarschülerinnen und -schüler, weil für sie kurzfristige Sparerfolge wichtiger sind. So hat beispielsweise der Kanton Luzern (2009: 1775) entschieden, dass das Naturlehre im Gegensatz zu Französisch, Englisch, Deutsch und Mathematik kein Niveaufach wird, da zusätzliche Naturlehrräume und -materialien zu kostspielig seien. Lösungsansatz 1: Kontakte zwischen Bildungsinstitutionen und Wirtschaft bzw. zwischen Bildungsinstitutionen und MINT-Fachforschung stärken. Reflexion: Diese Kontakte erfolgen idealerweise über ehemalige Schülerinnen und Schüler dieser Bildungsinstitutionen, die zwischenzeitlich in der MINT-Wirtschaft oder MINT-Forschung tätig sind. 134 Markus Wilhelm
Lösungsansatz 2: Die Wirtschaft engagiert sich bereits stark; die vielen MINT-Angebote für Schulklassen und Lehrpersonen müssten aber noch besser koordiniert werden. Reflexion: Es gibt nicht nur viele Angebote sondern auch schon etliche Koordinationsplattformen (z. B. educamint) und Koordinationsstellen (z. B. NaTech-Education, IngCH). Diese können aber nicht wirklich eine Koordination bieten, sondern mehr eine Auslegeordnung. Mögliche Gründe dafür sind, dass die beteiligten Anbieter oft kommerzielle Eigeninteressen verfolgen. Entweder ist das Angebot ein Werbeträger für die Firma bzw. die Branche oder es ist integraler Teil eines gewinnorientierten Geschäftsmodells. Oft ist auch die Langfristigkeit der Projekte nicht gewährleistet, da beispielsweise Stiftungen meist nur Sachkosten oder Anschubfinanzierung übernehmen. Schlussfolgerung Die Politik und die Pädagogischen Hochschulen sind gefordert die Qualität des MINT-Unterrichts auf der Sekundarstufe 1 zu verbessern. Das ist nur mit zusätzlichen Finanzmitteln möglich. Deshalb muss auch die Wirtschaft bereit sein, für Lobby-Arbeit, für Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen, für Zielstufenprojekte finanzielle Mittel bereitzustellen, die ihnen keine direkten Werbeeffekte einbringen. MINT-Education auf der Sekundarstufe 1 135
Literatur American Association for the Advancement of Science (2001), Atlas of science literacy (Vol. 1), Washington, DC: AAAS Project 2061. American Association for the Advancement of Science (2007), Atlas of science literacy (Vol. 2), Washington, DC: AAAS Project 2061. Baumgartner, Nicole (2010), Naturwissenschaftliche Interessen von Jugendlichen Untersuchung zu den Interessen der Jungen und Mädchen an den Zentralschweizer Lehrplanthemen Naturlehre. Luzern: Masterarbeit PHZ. Biedermann, Horst, Oser, Fritz, Brühwiler, Christian, Kopp, Margit, Krattenmacher, Samuel & Steinmann, Sibylle (2011), «Wirksame Lehrerausbildung: Globale Ausbildungskultur und/oder regionale Routinenschulung? TEDS-M», in: Beiträge zur Lehrerbildung, 29/1, S. 66-81. Bölsterli, Katrin, Brovelli, Dorothee, Rehm, Markus & Wilhelm, Markus (2011). «Vignettentest zur Erhebung professioneller Kompetenz», in: Höttecke, D. (Hg.), Naturwissenschaftliche Bildung als Beitrag zur Gestaltung partizipativer Demokratie. Berlin: LIT Verlag, S. 285-287. Brovelli, Dorothee, Kauertz, Alexander, Rehm Markus, und Wilhelm, Markus (2011). «Professionelle Kompetenz und Berufsidentität in integrierten und disziplinären Lehramtsstudiengängen der Naturwissenschaften», in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 17, S. 57-87. Gewerbeverband Luzern (2012), «Positionspapier: Naturwissenschaftliche Bildung», in: Gewerbe Luzern 12/12, S. 12-13. Kanton Luzern (2011), Verhandlungen des Kantonsrates 3. November 2009, vormittags, Luzern: Kanton Luzern, S. 1637-1806. Lagler, Ernst (2010), Fachliche Lehrerausbildung und Schülerleistung in Science eine quantitative Untersuchung bezogen auf die Sekundarstufe I Zentralschweizer Schulen, Luzern: Masterarbeit PHZ. Landert, Charles (2000), «Lehrerweiterbildung vor einem Entwicklungsschub», in: Beiträge zur Lehrerbildung, 18/3, S. 372-378. 136 Markus Wilhelm
Schaub, Birgit (2012), Biologieprüfungen: Ansprüche der Fachdidaktik und der Lernenden im Vergleich zur realen Situation, Luzern: Masterarbeit PHZ. Verband Fachdidaktik Naturwissenschaften Schweiz (2012), Positionspapier zur naturwissenschaftlichen Bildung von Lehrpersonen der obligatorischen Schulzeit, genehmigt an der Generalversammlung der DiNat.ch vom 04. September 2012, http://www.dinat.ch/images/dinat-positionspapier_nawi-bildung_lehrpersonen.pdf. MINT-Education auf der Sekundarstufe 1 137