Funktionelle Entleerungsstörungen als Ursache einer Obstipation (obstruktive Entleerungsstörungen) Heiko Frühauf Einleitung und Epidemiologie Obstipation ist eins der häufigsten Gesundheitsprobleme unserer Zeit. Ca. 15% der Bevölkerung sind in Europa davon betroffen, bei Frauen und älteren Menschen liegt die Prävalenz deutlich höher. Die Symptomatik beeinträchtigt die Lebensqualität und verursacht hohe sozioökonomische Kosten. Funktionelle und strukturelle Stuhlentleerungsstörungen müssen von anderen Ursachen einer Obstipation abgegrenzt werden, da ihnen eine anderer Mechanismus zugrundeliegt. In der Praxis sind jedoch häufig Überschneidungen zu beobachten. Während die sogenannte banale Obstipation typischerweise mit einer normalen Kolontransitzeit einhergeht und auf vermehrte körperliche Bewegung (bei Bewegungsmangel), ballaststoffreiche Kost oder eine medikamentöse Therapie mit Quellmitteln (z.b. Flohsamenschalen, Sterculiagummi) oder Laxantien vom Laktulosetyp gut anspricht, gibt es die Obstipation mit verzögertem Kolontransit ( slow transit constipation ) bei der Allgemeinmassnahmen meist nicht wirksam sind, sodass osmotische Laxantien und stimulierende Laxantien kombiniert werden oder moderne Laxantien wie Prucaloprid oder Lubiproston eingesetzt werden müssen. Eine Sonderform der Obstipation stellt zudem das obstipationsprädominante Reizdarmsyndrom dar, bei dem typischerweise häufig Abdominalschmerzen im Vordergrund stehen. Es spricht auf sportliche Betätigung, osmotische Laxantien oder Linaclotid gut an. Unter Ballaststoffen oder der Einnahme von Laktulose kommt es hingegen häufig zu einer Verschlimmerung der Symptome. Davon abzugrenzen sind sekundäre Formen einer Obstipation, bei denen im Rahmen internistischer oder neurologischer Grunderkrankungen (Hypothyreose, Neuropathie, kolorektales Karzinom, psychiatrischer Erkrankungen oder aufgrund einer medikamentösen Therapie mit z.b. Opiaten, trizyklischen Antidepressiva oder Kalzium-Kanalblockern eine Obstipation auftritt. Definition Zur Diagnose funktioneller Defäkationsstörungen müssen gemäss der aktuellen Rom- IV-Klassifikation die Kriterien für eine funktionelle Obstipation oder die eines obstipationsprädominanten Reizdarmsyndrom (vergl. Reizdarmsyndrom http://www.swissibsnet.ch/wp-content/uploads/2015/01/ibsnet_ibs_pohl.pdf) erfüllt sein. Diese umfassen beispielsweise die Notwendigkeit von starkem Pressen, ggf. in Verbindung mit digitalen Manipulationen im Dammbereich um eine Defäkation zu ermöglichen, eine harte Stuhlkonsistenz, das Gefühl der anorektalen Obstruktion oder der unvollständigen Entleerung sowie eine Stuhlfrequenz von unter 3/Woche sowie die Tatsache, dass ohne Laxantieneinnahme nur selten weiche Stühle auftreten. Zusätzlich muss für die Diagnose einer funktionellen Entleerungsstörung während wiederholten Defäkationsversuchen eine gestörte Entleerung in der Bildgebung oder im Ballonexpulsionstest (s.u.) vorliegen bzw. das Fehlen adäquater Propulsionskräfte mittels Analmanometrie, Oberflächen-EMG oder in der Bildgebung dokumentiert sein. Für die Diagnose einer Beckenboden-Dyssynergie ( functional dyssynergic defecation ) ist (bei vorhandenen Propulsionskräften) der Nachweis einer inadäquaten
Kontraktion oder unzureichenden Relaxation (<20%) des Analsphinkters oder des M. puborektalis in der Bildgebung, Analmanometrie oder im Oberflächen-EMG erforderlich. Diagnostik Zur Erkennung sekundärer Ursachen einer Obstipation (Tab. 12.1) wird neben einer ausführlichen Anamnese und körperlicher Untersuchung eine Bestimmung des Routinelabors (Blutbild, Serumchemie inklusive Kalzium und Blutzuckerspiegel) sowie des TSH zur Screening-Diagnostik durchgeführt. Sie ist aber meist unergiebig. Außerdem erfolgt zum Ausschluss von Tumoren oder zur Suche nach Strikturen eine Ileokoloskopie, insbesondere, wenn diese wegen Alarmsymptomen oder zur Krebsvorsorge indiziert ist. Bei Verdacht auf eine Pseudoobstruktion (Ogilvie- Syndrom) oder zur Suche von Strikturen, Tumoren oder Metastasen kann auch ein CT-Abdomen sinnvoll sein. Eine spezielle funktionsdiagnostische Abklärung kommt bei Obstipation mit V.a. eine obstruktive Entleerungsstörung insbesondere dann in Betracht, wenn allgemeine Therapiemassnahmen wie optimierte Flüssigkeitszufuhr bei dehydrierten Patienten, vermehrte körperliche Betätigung bei Bewegungsmangel, eine adäquate Zufuhr von Ballaststoffen mittels Ernährung oder Quellmitteln oder eine medikamentöse Therapie mit osmotischen Laxantien wie Laktulose oder Makrogol unzureichend wirksam war. Bildgebung Zum Ausschluss einer Obstipation vom verzögerten Transit kann eine Kolon- Transitzeitbestimmung erfolgen. Hierbei handelte es sich um eine Röntgen Abdomenübersichtsaufnahme am 7. Tag nach vorangegangener Einnahme von je 1 Tablette röntgendichter Marker am Tag 1-6. Anhand der Anzahl der im Kolonrahmen verbliebenen röntgendichten Marker kann auf die Kolontransitzeit zurück geschlossen werden. Diese beträgt normalerweise weniger als 72 h. Ist diese hingegen deutlich verzögert kommt therapeutisch eine Kombination aus osmotischen und stimulierenden Laxantien oder moderne Substanzen wie Prucaloprid oder Lubiproston zum Einsatz. Zur Diagnostik einer strukturellen Entleerungsstörung auf dem Boden einer Rektozele oder einer Intussuszeption ist eine Schnittbildgebung mittels CT- (cave Strahlenbelastung) oder MRI-Defäkographie anzustreben. Hiermit kann auch der durch Kontraktion und Relaxation der Puborektalisschlinge modifizierbare anorektale Winkel beim Klemmen und im Pressversuch bestimmt, der einen wesentlichen Kontinenzmechanismus darstellt und sich bei dyssynerger Defäkationsstörungen unzureichend öffnet. Anorektale Funktionsdiagnostik - digitale Rektalpalpation Die digitale Rektalpalpation beim Klemmen und im Pressversuch kann dem erfahrenen Untersucher beim nichtsedierten und kooperativen Patienten eine erste grobe Einschätzung der Sphinkterfunktion und relaxation beim Pressversuch ermöglichen und zusammen mit der Inspektion bei der Diagnostik eines Anal- oder Rektumprolaps hilfreich sein. Sie kann die differenzierte Sphinkterbeurteilung mittels Analmanometrie aber nicht ersetzen. - (Hochauflösende) Analmanometrie Die Sphinkterfunktion kann mittels (hochauflösender) Analmanometrie evaluiert werden. Hierzu wird ein Katheter mit 4-12 Drucksensoren in den Enddarm eingeführt
und die Druckverhältnisse im Rektum sowie im Analkanal in Ruhe und beim Klemmen (Kneifen) sowie bei simulierter Defäkation (Pressversuch) ermittelt und der Patient zu einer guten Mitarbeit motiviert. Bei funktionellen Defäkationsstörungen findet sich typischerweise ein regelrechter bis hoher Ruhe- und Kneifdruck im Sphinkterapparat. Bei wiederholten Defäkationsversuchen ist im Falle einer Beckenboden-Dyssynergie typischerweise (trotz adäquater Propulsionskräfte (Druckerhöhung im Rektum)) ein paradoxer Druckanstieg im Analkanal zu beobachten (Typ I), während es im Falle einer strukturellen outlet-obstruction im Sinne einer Rektozele oft nur in einem eng umschriebenen Bereich des Analkanals zu einer Druckerhöhung kommt. Andere Formen der funktionellen Defäkationsstörungen sind durch den Nachweis fehlender Propulsionskräfte (Typ 2), erkennbar an einem fehlenden oder inadäquaten Druckanstieg im Rektum (Bauchpresse), oder eine inadäquate Relaxation des Musculus sphincter ani externus und internus (Typ 3) gekennzeichnet. Außerdem erfolgt zum Ausschluss eines M. Hirschsprung als sekundäre Ursache einer Obstipation auch Messung des anorektalen Inhibitionsreflex. Bei Insufflation eines Ballons im Rektum kommt es physiologischerweise zu einer temporären Relaxation des M. sphincter ani internus und einer analmanometrisch messbaren Erniedrigung des Ruhetonus im Analkanal. Bei Vorliegen eines M. Hirschsprung ist dieser Reflex hingegen mangels Ganglienzellen (Aganglionose) im Bereich des Plexus submucosus (Meißner-Plexus) bzw. myentericus (Auerbach-Plexus) typischerweise nicht auslösbar. - Ballonexpulsions-Test Im Anschluss an die Analmanometrie wird zudem überprüft, ob ein 4 cm langer und mit 50 ml warmem Wasser gefüllter Ballon innerhalb einer Minute aus dem Rektum ausgeschieden werden kann. Eine Beckenbodendyssynergie kann angenommen werden, wenn dies dem Patienten innerhalb von 3 Minuten nicht gelingt. - Anorektale Perzeptionsmessung In klinischen Studien konnte mithilfe von Retentionstests gezeigt werden, dass die Rektalkapazität gut mit dem maximal retinierten Stuhlvolumen korreliert. Diese Volumenbestimmung, aber auch die Füllungsvolumina, bei denen die erste Wahrnehmung der Rektumfüllung und später Stuhldrang angegeben werden sind intraindividuell jeweils gut reproduzierbar und normalisiert auf die Rektalkapazität auch zwischen verschiedenen Patienten (mit unterschiedlicher Rektalkapazität) vergleichbar. So haben konstitutionell unterschiedliche Probanden zwar individuell verschiedene Reservoirvolumen und nehmen in Retentionstests die Rektumfüllung in absoluten Zahlen gemessen bei unterschiedlichen Füllungsvolumina wahr. Normalisiert man die Füllungsvolumina, bei denen initiale Wahrnehmung, Stuhldrang oder maximal tolerierbares Volumen angegeben werden auf die Rektalkapazität, so sind die jeweiligen Wahrnehmungsschwellen auch zwischen verschiedenen Patienten gut vergleichbar. So erfolgt die initiale Wahrnehmung einer Rektumfüllung bei ca. 15% der Rektalkapazität, während Stuhldrang und maximal tolerierbares Volumen bei 75% bzw. 90% der Rektalkapazität angegeben werden. Da Retentionstest im klinischen Alltag nicht durchführbar sind und die in Retentionstests ermittelte Rektalkapazität gut mit dem Füllungsvolumen eines in das Rektum eingeführten und mit Luft gefüllten Ballons entspricht, wenn der Druck im Ballon 40 mm Hg beträgt, werden die Perzeptionsschwellen für initiale Perzeption, Stuhldrang und maximal tolerierbaren Volumen im Anschluss an die Analmanometrie mit dieser Methode ermittelt und in Bezug auf die Rektalkapazität angegeben. Führt bereits eine kleine Zunahme des Füllungsvolumens im Rektum zu einem großen Anstieg des intrarektalen Drucks, liegt
eine verminderte rektale Compliance vor, die sich typischerweise mit einer Stuhldrangsymptomatik oder Dranginkontinenz klinisch bemerkbar macht. Umgekehrt weisen Patienten mit funktionellen Entleerungsstörungen oft eine erhöhte rektale Compliance auf (große Füllungsvolumina führen nur zu einem geringen Anstieg des intrarektalen Drucks), die ggf. in Kombination mit einer Sphinkterschwäche zur einer Stuhlinkontinenz führen kann. Konservative Therapie Die allgemeinen Therapieprinzipien bei Obstipation umfassen die Information des Patienten über die zugrunde liegenden Kontinenz- und Defäkationsmechanismen sowie die Einübung ritualisierter Stuhlgewohnheiten (z.b. immer morgens nach dem Frühstück ), die optimierte Flüssigkeitszufuhr bei dehydrierten Patienten, vermehrte körperliche Betätigung bei Bewegungsmangel, eine adäquate Zufuhr von Ballaststoffen mittels Ernährung oder Quellmitteln (z.b. Flohsamenschalen oder Sterculia gummi) oder eine medikamentöse Therapie mit osmotischen Laxantien wie Laktulose oder Makrogol, ggf. in Kombination mit stimulierenden Laxantien wie Bisacodyl. Bei funktionellen Stuhlentleerungsstörungen ist hingegen in erster Linie eine spezifische Beckenbodenphysiotherapie mittels Biofeedback indiziert. Bei diesem Beckenbodentraining soll durch Einüben von Entspannung und Pressen eine verbesserte Koordination des Sphinkterapparats erzielt werden. Hierbei kommen Trainingsmethoden aus dem Bereich der operanten Konditionierung zur bewussten Kontrolle sonst nicht oder nur unzureichend wahrgenommener Körperfunktionen zum Einsatz ( Biofeedback ). Die Erfolgsraten liegen bei ca. 40-85% und sind damit dem Ansprechen auf Laxantien vergleichbar. Die obstruktive Symptomatik geht zurück und die Stuhlfrequenz erhöht sich. Die Behandlung hat keinerlei Morbidität, führt zu einer hohen Patientenzufriedenheit und die Effekte halten 6-12 Monate an. Möglicherweise sind aber die Motivation des Patienten und der Enthusiasmus des Therapeuten wichtiger als konkrete technische Aspekte der Behandlung. Chirurgische Therapieverfahren Die operative Therapie struktureller Entleerungsstörungen z.b. die Resektion einer Rektozele (z.b. mittels stapled transanal rectal resection, STARR) - bei Beckenbodenprolaps ggf. in Kombination mit einer Beckenbodenplastik - bedürfen einer sorgfältigen Patientenselektion. Sie kommen in der Regel erst nach sorgfältiger anorektaler Funktionsdiagnostik in Betracht und wenn konservative Therapieverfahren (Laxantien, Biofeedbacktherapie) versagt haben. Zudem sollte idealerweise die individuelle Situation zuvor in einer interdisziplinären Besprechung zwischen Proktochirurgen, Gastroenterologen, Radiologen, Urologen, Gynäkologen und Beckenboden-physiotherapeuten erörtert werden. Durch die Rektozelenresektion kann es zu einer klinisch relevanten Verkleinerung der Rektalkapazität kommen, die postoperativ die Entwicklung einer (Überlauf-) Inkontinenz begünstigen kann. Ein sehr vielversprechendes, in der komplexen Wirkung aber noch nicht abschließend verstandenes Verfahren stellt die Implantation eines Neurostimulators zur sakralen Neuromodulation dar. Hier wird nach einer erfolgreichen 4-wöchigen Testphase ein Neurostimulator gluteal unter der Haut implantiert und über eine im Bereich der sakralen Nervenwurzeln des Rückenmarks positionierte Neurostimulationselektrode für den Patienten nicht wahrnehmbare Stromimpulse appliziert, die zu einer Verbesserung der Koordination des Sphinkterapparates und der anorektalen
Perzeption führen und bei fehlendem Ansprechen auf konservative Therapieverfahren eingesetzt werden kann. Mit dieser Methode lässt sich bei ca. 75% der Patienten eine Besserung der Symptomatik erzielen. Das Therapieverfahren kann auch bei Neuropathien wirksam sein. Eine gute Patientenselektion nach interdisziplinärer Diskussion zwischen Proktochirurgen, Gastroenterologen, Urologen, Gynäkologen, Radiologen und Beckenbodenphysiotherapeuten kann zu einer erheblichen Verbesserung der Versorgungsqualität dieser oft unzureichend erkannten Obstipationsursache beitragen.