PSYCHODYNAMISCHES VERSTÄNDNIS/SCHRITT 4: KOMPENSATION (KAPITEL 5.4) TRAININGS UND CHECK UP TABELLE: HÄUFIGE KOMPENSATIONSFORMEN Vertiefung für die Praxis im klinischen Kontext häufig anzutreffende Kompensationsformen und ihre möglichen psychodynamischen Wirkungen Zum erneuten Training Ihres psychodynamischen Blicks folgen unterschiedliche Kompensationsformen und beispiele: U. a. bei Dührssen (2011, S. 41) und Klußmann (2000) finden wir die Aufführung kompensatorischer Lebensmuster und Hilfsmittel zum Ausgleich der konfliktbedingten Einschränkungen: Die folgende, von mir ergänzte und modifizierte Liste möglicher Kompensationen hilft Ihnen, Ihre Sicht für unterschiedliche Möglichkeiten, wie Ihr Patient bislang vor der Therapie kompensiert hat, zu schulen. Dies muss besonders in der TP Indikation für den Gutachter klar ersichtlich sein. Die Liste hat Werkstattcharakter und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden nur mögliche, nicht zwingende Zusammenhänge als Sensibilisierungs Anregungen dargestellt. Häufige Kompensations Formen: Überkompensatorische Leistungen (der Klassiker, geht auf Adler zurück): Wir können übermäßig viel leisten und arbeiten, um ein (narzisstisches) Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren; oder ein (anales) strafendes Über Ich zu beschwichtigen; oder um den (ödipalen) Anspruch, dem Elternteil ein gutes Kind zu sein, zu erfüllen. 1
Neurotisches Vermeiderleben : (s. o.) Der Neurose angepasste Partnerbeziehung : Wir wählen einen Nähe vermeidenden Partner, damit wir nie unsere konflikthafte Angst vor Nähe spüren müssen und dadurch diese Nähe Angst kompensieren können. Oder klassisch : Zwanghafter Mann wählt histrionische Ehefrau, um seine aus konflikthafter Angst entstandene nicht gelebte Lust, Grenzen zu sprengen, weiter zu kompensieren. Oder: Wir gestalten eine Beziehung ständig gegenseitig gereizt aggressiv (häufig bei Borderline Patienten), um so nie das Gefühl zu haben, der Andere komme einem zu nah. Oder: Ein Mann wählt als Partnerin eine alleinerziehende Frau, die bereits ein Kind hat, um hierdurch unbewusst der eigenen Entwicklungsleistung reifer Generativität (sich fortzupflanzen) aus dem Weg zu gehen (möglicher ödipaler Identitätskonflikt). Oder: Eine Frau wählt einen Mann, der etwas gut kann, woran ihr Vater sich sein Leben lang vergeblich abmühte (ödipaler Reparationsversuch am Vater). Oder Dreiecks Beziehungen (mit oraler Ausrichtung): Eine alleinstehende Frau mit negativem Mutter Komplex z. B. kann innerlich als Kind über einen verheirateten Liebhaber als eine Art Verbindungsglied an der großen Mutter (Ehefrau) emotional indirekt teilhaben. Die Vermittlerposition des Mannes erlaubt es der Frau dann so, an den guten Anteilen der archaischen Mutter weiter zu partizipieren, während dieses Arrangement gleichzeitig die negativen Seiten der eigenen Mutter weiter abspalten kann. So kann ihre ungelöste Mutter Bindung/ihr Mutter Konflikt über diese Partnergestaltung weiter kompensiert werden (Schimmer 2003). Oder Dreiecks Beziehung (mit ödipaler Ausrichtung 1): Wir wählen uns einen Partner, der an das Ideal unseres frühen ödipalen Partners (Mutter/Vater) nie heranreicht. Denn echte Konkurrenz müsste ja die Loslösung von Vater oder Mutter zur Folge haben (z. B. 2
wenn brave Töchter aus hohem Elternhaus jahrelang verborgene Affären mit Losern haben). So kann Sexualität nur auf verbotenem Terrain genossen werden, weil sie sonst als Verrat" am idealisierten Liebespartner Vater oder Mutter empfunden wird (ebd.). Oder Dreiecks Beziehung (mit ödipaler Ausrichtung 2): Wir lassen uns auf eine Beziehung nur ein, wenn gleichzeitig immer ein Grund zur Eifersucht vorliegt (Frau lebt jahrzehntelang mit Playboy zusammen). Darin wiederholen wir die Erfahrung, als Kind Liebe zum Vater/zur Mutter nur in der Konkurrenz zum anderen Elternteil erlebt zu haben. So kann die eigene ödipale Fixierung gut kanalisiert/kompensiert werden (ebd.). Der Neurose angepasste Berufsumstände : Wir wählen einen Beruf mit zwanghaften Elementen (z. B. Bibliothekar), durch dessen rigides Korsett wir unsere verdrängte Aggression weiter abwehren können und so kompensiert sind. Wir wählen einen Beruf mit z. B. adoleszentem, jugendlichem Lebensstil (s. Künstler) oder leisten eine Berufsausbildung nach der anderen, um der (ödipalen) Angst vor einer erwachsenen Identität, die uns festlegt, unbewusst aus dem Weg zu gehen. Oder: Wir wählen einen psychotherapeutischen Beruf, um unser verdrängtes (orales) Abhängigkeitsbedürfnis durch Intellektualisierung an den Patienten zu delegieren, um das Abhängigkeitsbedürfnis so zu kompensieren (vgl. Schmidtbauer 2006). Kompensiert durch Lebensstile (vgl. Adler): Wir suchen uns ein lustbetontes, hedonistisches und adoleszentes Wohn und Lebensumfeld als Lebensstil, in dem wir nie erwachsen werden müssen (z. B. Leben in Berliner Szene Bezirken). 3
Kompensiert durch orale Inkorporationen: Wir essen etwas, um nicht erkennen zu müssen, dass hinter dem vermeintlichen Hunger eigentlich etwas ganz Anderes verborgen liegt (z. B. depressive Leere, Wut, Angst usw.). Kompensiert durch Sport: Wir treiben exzessiv Sport, um diffuse innere Spannungszustände (aus Angst oder Wut usw.) zu kanalisieren/kompensieren. Oder: Wir kompensieren unser Minderwertigkeitsgefühl durch den Aufbau eines perfekten äußeren Körpers im Fitness Klub (Selbstwert, Scham Konflikt oder hohes Ich Ideal). Wir stählen unseren Körper mit Muskeln, um ein inneres Bild von Schwäche zu kompensieren (vgl. Selbstwertkonflikt). Kompensiert durch pseudoharmonisches Familienleben: Wir sorgen in der Familie für alle, um uns unentbehrlich zu machen oder um gefürchtete Konflikte im Keim zu ersticken. Wenn dann Veränderung eintritt (Kinder aus dem Haus, Trennung, eigene Bedürftigkeit durch Krankheit), erlischt diese Kompensation (s. auch Auslöser Kapitel). Seltenere, aber nicht minder interessante Kompensationsformen: Neurotische Religiosität : Wir suchen uns ein ideologisches Wertesystem, dessen Rigorosität, Strenge und Schulddenken eine Antwort auf unsere innere konflikthafte frühe Not, anal aggressive oder sexuelle Impulse verdrängen zu müssen, bieten und vermeiden hierdurch zwanghaft böse Taten, verbunden mit dem innerlich antizipierten Belohnungsanspruch an Gott. Wir kompensieren die fehlende Integration von Gut/Böse 1, von Lust und Bedürfnislosigkeit, indem wir aus dem Verzicht, aus verdrängten Wünschen eine Tugend machen. 1 Auch für die Kompensation von strukturellen Defiziten geeignet, s. nachfolgendes Kapitel. 4
Wir verschieben eine Vater Idealisierung auf den Gottes Vater und wehren dadurch unbewusste negative Gefühle dem Vater gegenüber ab (aus möglichem Ödipus Komplex stammend: Neid, Todeswünsche, Hass). So kann ein unbewusster Ödipus Konflikt gut kompensiert/abgewehrt sein. Neurotische Ideologiebildung ( 68er ): Wir radikalisieren uns linksextrem und kämpfen gegen den bösen Vater Staat, um den eigenen ungelebten (ödipalen) Vater Konflikt stellvertretend zu leben. Oder: Wir bilden uns ein esoterisch magisches Weltbild heraus, in dem es keine rationalen begrenzenden Gewissheiten gibt, um in dem symbiotischen, verschmelzenden Gefühl leben zu können, alles sei mit allem verbunden und wir lebten in einer fließenden Ganzheit (z. B. bei schizoidem Grundkonflikt) 2. Neurotischer Ästhetizismus : Wir können nicht still genießen, sondern stilisieren alles in schöngeistiger Salonatmosphäre, um unser gestörtes Urvertrauen in die Welt zu kompensieren (bei schizoidem Nähe Konflikt). Neurotisches Philosophieren : Ungeachtet der Wirklichkeit verkünden wir alles subjektive Erleben als Wirklichkeit, weil wir (anale) Macht und Geltungswünsche früher als Kind nicht adäquat haben erleben dürfen. Nihilismus/Zynismus: Wir glauben an nichts mehr oder zeigen uns immer zynisch, weil wir durch fehlendes frühes Urvertrauen nicht auf das Gute der Welt vertrauen können. 2 Dies lässt sich auch auf struktureller Ebene betrachten. Dann hat Verschmelzung eine andere Bedeutung. 5
Moderne Kompensationsformen (vgl. auch KJP): Soziale Netzwerke: Wir sammeln bei Facebook Hunderte von Pseudo Freunden, um unsere Angst vor Nähe/Bindung oder um unsere Scham vor dem Sich real in einer Beziehung Zeigen oder unser Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Tätowierungen: Wir tätowieren uns und tragen dies lustvoll in phallischem Imponiergehabe zur Schau, um einen phallischen Selbstwertkonflikt ( Kastrationskomplex ) zu kompensieren. Handy/SMS: Wir sind immer erreichbar und wollen auch den Anderen immer erreichen, um hierdurch unsere innere Leere und Bindungsangst zu kompensieren, oder auch die Angst vor dem Alleinsein. 6