Prof. Dr. iur. Knut Hinrichs HAW Hamburg STÄRKUNG DES ELTERNRECHTS ZU LASTEN VERNACHLÄSSIGTER KINDER? ASD-Fachtag HAW Hamburg 23.04.2015
Das Bundesverfassungsgericht 2014 zur Kindeswohlgefährdung 1 Sieben Entscheidungen, in denen wesentliche Teile der fachgerichtlichen Beschlüsse aufgehoben wurden (Zum Vergleich: von 2005-2010 gab es insgesamt 12 Entscheidungen) Kursorischer Überblick Anmerkung: was hat das Bundesverfassungsgericht hier eigentlich überprüft? Werden Kinder zu früh aus der Familie genommen, weil die Familiengerichte und Jugendämter eine falsche Vorstellung vom Elternrecht haben? 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 2
Das Bundesverfassungsgericht 2014 zur Kindeswohlgefährdung 2 Formelle Anforderungen Auch in Eilverfahren muss der Sachverhalt ggf. durch Gutachten genau ermittelt werden Die Familiengerichte sind an Feststellungen und Empfehlungen der Gutachter und Jugendämter nicht gebunden Veränderte Lebensumstände während des Verfahrens sind zu berücksichtigen Materielle Anforderungen: Die BGH-Definition der Kindeswohlgefährdung wird aufgegriffen und gestärkt ( nachhaltig ) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist streng anzuwenden Geeignetheit: Abwägung der negativen Folgen bei Verbleib bzw. bei Trennung Erforderlichkeit: Unterstreichung des Vorrangs öffentlicher Hilfen bzw. Verwandtenunterbringung 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 3
Das Bundesverfassungsgericht 2014 zur Kindeswohlgefährdung 3 Auch in Eilverfahren muss der Sachverhalt durch Anhörung und ggf. durch Gutachten genau ermittelt werden Es darf ein Sorgerechtsentzug im Eilverfahren ausgesprochen werden auch ohne mündliche Verhandlung ( 51 Abs. 2 S. 2 FamFG); sie muss dann aber nachgeholt werden ( 159 Abs. 3 S. 2, 160 Abs. 4, 162 Abs. 1 FamFG) Je schwerer der Eingriff und je schwerer er wieder rückgängig zu machen ist, desto gesicherter muss die Tatsachengrundlage sein Je geringer der prognostizierte Schaden des Kindes ist und je ferner er in der Zukunft liegt, desto höhere Anforderungen an die Schadensermittlung bestehen. Gutachten also nicht immer nötig, insbesondere dann nicht, wenn andere Erkenntnisse vorliegen und besondere Eile geboten ist Auch die Folgen der Trennung müssen ermittelt werden, um sie würdigen zu können 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 4
Das Bundesverfassungsgericht 2014 zur Kindeswohlgefährdung 4 Die Familiengericht ist an Feststellungen und Empfehlungen von Gutachtern und Jugendämtern nicht gebunden und darf sie nicht einfach übernehmen (Ermessen, freie Beweiswürdigung, vgl. 37 Abs..1 FamFG) Abweichung nur dann, wenn diese substantiiert begründet wird Keine Anordnungskompetenz gegenüber den Jugendämtern Jugendamt muss diese Hilfen nur dann bewilligen, wenn es sie selbst für geeignet und notwendig hält, 36a Abs. 1 SGB VIII Eltern müssen ggf. Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten suchen, wenn Jugendamt die Hilfe verwehrt Jugendamt kann dann nicht (Amts-)Pfleger sein, weil es dann gegen sich selbst prozessieren müsste 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 5
Das Bundesverfassungsgericht 2014 zur Kindeswohlgefährdung 5 Veränderte Lebensumstände während des Verfahrens sind zu berücksichtigen Sach- und Rechtslage ist also zum Zeitpunkt der jeweiligen Beschlussfassung zu beurteilen Problem der langen Verfahrensdauer und der aufwendigen Erstellung von Sachverständigengutachten Bei Ermittlung des Sachverhalts ist also darauf zu achten, dass keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 6
Kindeswohlgefährdung, 1666, 1666a BGB (BGH-Rechtspr.) Unbestimmter Rechtsbegriff Tatbestand Ständige Rechtsprechung zur KWG Eine gegenwärtige, oder zumindest unmittelbar bevorstehende nachhaltige Gefahr für die Kindesentwicklung muss abzusehen sein, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. (Ständige Rspr. Seit BGH seit 1956) Eltern sind nicht bereit oder in der Lage, Gefahr abzuwenden (Nachranggrundsatz) Rechtsfolge Alle erforderlichen Maßnahmen (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz) 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 7
1666, 1666a BGB Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Folgt aus der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz, Art. 20 Abs. 3 GG Jeder staatliche Eingriff in Grundrechte muss geeignet sein, den gesetzlichen Zweck einer Ermächtigungsgrundlage zu erreichen; erforderlich sein, darf also nicht durch weniger einschneidende Mittel erreichbar sein; zumutbar sein, darf also nur erfolgen, wenn die für den Einzelnen zu erwartenden Nachteile nicht außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen. Vorrang öffentlicher Hilfen nach 1666a BGB ist eine logische Folge Verletzung führt zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 8
Das Bundesverfassungsgericht 2014 zur Kindeswohlgefährdung 6 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Geeignetheit: Die am wenigsten schädliche Lösung finden (Goldstein/Freud) Abwägung der negativen und positiven Folgen bei Verbleib oder Trennung Durch den Vollzug der familiengerichtlichen Entscheidung muss sich die Situation des Kindes in der Gesamtbetrachtung verbessen Erforderlichkeit: Vorrang öffentlicher Hilfen und der freiwilligen Inanspruchnahme nicht nur gem. 1666a BGB Durch die Hilfen sollen die Eltern in die Pflicht genommen werden Verwandtenpflege geht vor Fremdunterbringung 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 9
Fazit BVerfG ändert seine Rechtsprechung nicht grundsätzlich BVerfG betont den strengen Prüfungsmaßstab, den es bei Eingriffen in das Eltern-Kind-Verhältnis anwendet. Er folgt aus: dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG dem Kindergrundrecht auf Gewährleistung elterlicher Pflege und Erziehung der Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG BVerfG relativiert das Grundrecht auf Schutz und Förderung des Kindes im Hinblick auf sein Person-Werden aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 10
Konsequenzen für die ASDs Es müssen ausreichende zeitliche und personelle Ressourcen für die Berichterstattung der ASDs in Verfahren nach 1666 BGB bereitgestellt werden Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sollte mit seinen hohen Anforderungen an Entscheidungen nach 1666 BGB für die Sozialarbeiter/innen besonders präsent sein 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 11
Danke für Ihre Aufmerksamkeit 23.04.2015 PROF. DR. KNUT HINRICHS 12