Den Gürtel lockerer schnallen

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Transkript:

VERZICHT ALS SACHZWANG? Den Gürtel lockerer schnallen Die Behauptung, künftig immer mehr Alte könnten von künftig immer weniger Jungen nicht mehr ernährt werden, die Rente, wie wir sie kennen, sei also nicht mehr finanzierbar, ist sofort stammtischfähig. Aber sie ist nachweislich falsch. Von Norbert Reuter Nicht erst in der Eurokrise macht sich in der Bevölkerung die Stimmung breit, dass wir die besten Zeiten bereits hinter uns haben und wir uns künftig auf Verzicht einstellen müssen. Schließlich wurden und werden Politikerinnen und Politiker nicht müde zu betonen, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen. Bereits Mitte 2003 hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder auf einem SPD-Parteitag betont: Was wir heute beweisen müssen, ist der Mut, Neues zu wagen. Dabei werden wir uns von manchem, was uns lieb und leider auch: teuer geworden ist, verabschieden müssen. Angela Merkel knüpft an diese Sichtweise nahtlos an, wenn sie immer wieder betont, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben. Wer mit dem umfassenden wir gemeint ist, bleibt wohl bewusst offen. Angesprochen fühlen sich aber sicher nicht die Reichen und Vermögenden, sondern in erster Linie die arbeitenden, unfreiwillig erwerbslosen oder auf soziale Unterstützung angewiesenen Menschen. Verständlich und nachvollziehbar wäre diese Verzichtsbotschaft, würde sie mit ökologischen Problemen oder der massiven Übernutzung der Natur begründet. Aber um ökologische Fragen geht es den VerzichtspredigerInnen nicht. In der Regel berufen sie sich auf die Verschuldung des Staates und vor allem auf die demografisch bedingte Alterung unserer Gesellschaft. Diese Entwicklungen erscheinen als unabweisliche Belege, dass Norbert Reuter lehrt an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen und ist im ver.di-bundesvorstand. staatliche, vor allem soziale Leistungen in Zukunft zurückgefahren werden müssen. Wenn die Verschuldung des Staates kontinuierlich ansteigt und es immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt, dafür im - mer mehr zu versorgende Rentnerinnen und Rentner, dann scheint am Ende gar nichts anderes übrig zu bleiben, als überall zu kürzen und zu streichen. Die Botschaft lautet: There is no alternative. Über die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) wird diese Botschaft beharrlich und mit großem finanziellen Aufwand verbreitet: Konkrete soziale Verschlechterungen werden als alternativlos hingestellt vom Personalabbau im öffentlichen Dienst, von massiven öffentlichen Einsparungen etwa bei Arbeitslosen und sozial Bedürftigen bis hin zur Rente mit 67 (oder zukünftig sogar erst mit 70). Und die Botschaft fällt auf fruchtbaren Boden. Wer will sich schon dem Vorwurf aussetzen, Fakten nicht zur Kenntnis zu nehmen und die Grenzen der Finanzierbarkeit unseres Sozialstaats nicht zu erkennen? Ob etwas bezahlbar ist und bleibt, hängt jedoch keineswegs von der Größe und der Altersverteilung der Bevölkerung ab, sondern ganz wesentlich von der Wertschöpfung der Beschäftigten. Diese steigert sich jedoch aufgrund der technologischen und organisatorischen Entwicklungen und des daraus resultierenden Produktivitätsfortschritts kon - tinuierlich. 1991 betrug das erwirtschaftete 28

Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Erwerbstätigenstunde noch knapp 30 Euro, 2012 waren es trotz Krise bereits rund 40 Euro (jeweils in Preisen von 2000 gerechnet). Von wachsender Knappheit oder einem Zwang, den Gürtel enger zu schnallen, ist auch dann nichts zu spüren, wenn man auf die Entwicklung des privaten Geldvermögens schaut. Dieses hat sich kontinuierlich erhöht und ist heute mit knapp über 5000 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch wie noch zu Anfang der 1990er Jahre und damit auch mehr als doppelt so hoch wie die gesamten Schulden des Staates. Schaut man also auf die wirtschaftlichen Fakten, so kommt man zu ganz anderen Ergebnissen, als die VerzichtsbotschafterInnen verkünden. Die fi nan - ziellen Spielräume sind bislang beständig größer geworden. positiv zu bewerten. Denn dann würde bei gleichzeitig steigender Ressourcenproduktivität und verbesserten Umwelttechniken auch die Um weltbelastung absolut zurückgehen. Gleichzeitig aber steigt aufgrund der schrumpfenden Bevölkerung das reale BIP pro Kopf kontinuierlich an: von heute knapp 31000 Euro auf fast 42000 Euro im Jahr 2060, was einen realen Anstieg um gut 35 Prozent bedeutet. Mit anderen Worten: Die abnehmende Zahl an Erwerbstätigen wird durch deren zunehmende Produktivität bei gleichzeitig sinkender Gesamtbevölkerung mehr als wettgemacht. Wird sich das nun in Zukunft wegen der demografischen Entwicklung ändern? Ist mit einer Verkleinerung der Verteilungsspielräume zu rechnen, so dass das Einschwören auf Verzicht eine kluge Zukunftsvorsorge darstellt? Auch für diese Perspektive gibt es keine plausiblen Hinweise. Legt man die mittlere Variante der aktuellen, bis zum Jahr 2060 reichenden Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zugrunde und unterstellt, dass bei konstanter Erwerbstätigenquote (auch in Zukunft sind wie heute nur rund 75 Prozent der 15- bis 65- Jährigen erwerbstätig) die Produktivität je Erwerbstätigem jedes Jahr wie im Durchschnitt der letzten 20 Jahre um ein Prozent zunimmt, so ist das Ergebnis eindeutig. Selbst unter diesen sehr restriktiven Annahmen ergibt sich keineswegs ein schrumpfendes Verteilungsvolumen. Im Gegenteil: Zwar ist ab 2020 mit einer annähernden Stagnation des BIP zu rechnen (das jährliche BIP-Wachstum liegt dann im Durchschnitt nur noch zwischen 0,1 und 0,2 Prozent pro Jahr). Dieser Effekt ist aus ökologischen Gründen sogar Die Annahme, dass die Erwerbsquote zukünftig mit lediglich 75 Prozent auf dem niedrigen Stand von 2010 verharrt, ist allerdings wenig plausibel. Wenn Arbeitskräfte aufgrund der demografischen Entwicklung knapp werden, wird aller Voraussicht nach auch die Erwerbsbeteiligung zunehmen. Das heißt: Das zuletzt nur zu rund 75 Prozent ausgeschöpfte Erwerbstätigenpotenzial der 15-bis 65-Jährigen wird aller Voraussicht nach steigen, eine Tendenz, die schon heute zu beobachten ist. Bereits bei einem Anstieg auf 80 Prozent würde sich das BIP pro Kopf bis 2060 sogar auf über 44000 29

Euro erhöhen, was einem realen Anstieg um knapp 45 Prozent gegenüber heute entsprechen würde. Auch wenn Aussagen über derart lange Zeiträume zweifellos mit großen Unsicherheiten behaftet sind, lässt sich festhalten: Die Behauptung, in Zukunft würden wegen der Alterung unserer Gesellschaft die Verteilungsspielräume enger und vieles sei nicht mehr bezahlbar, ist auf der Grundlage heutiger Bevölkerungsprognosen kaum begründbar. Dazu müsste man etwa unterstellen, dass es zukünftig keinen oder nur noch einen minimalen Produktivitätsfortschritt geben würde. Hierfür gibt es allerdings keine vernünftige Begründung. Während also nach unten hin keine sich verengenden Verteilungsspielräume ausgemacht werden können, eröffnen sich nach oben hin sogar gesamtgesellschaftliche Alternativen: Eine höhere Steigerung der Erwerbstätigenproduktivität als die unterstellten 1,0 Prozent pro Jahr und ein Anstieg der Erwerbstätigenquote würden zusätzliche Spielräume für Einkommenserhöhungen und damit für steigende Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen eröffnen. Alternativ ließe sich der Produktivitätsfortschritt aber auch in Arbeitszeitverkürzung umsetzen (Stichwort Kürzere Vollzeit für alle ). In dem Fall könnten Gewinne bei der Produktivität statt für eine weiter steigende Güterversorgung und damit für wirtschaftliches Wachstum verstärkt für Zeitwohlstand genutzt werden, ohne dass sich Verteilungsspielräume verengen und Einkommenskürzungen notwendig würden. Aus ökologischen Gründen wäre dies zweifellos eine besonders wünschenswerte Entwicklung. Der Nachweis wachsender Verteilungsspielräume trotz Alterung der Gesellschaft widerlegt zwar das Sachzwangargument der Alternativlosigkeit eines Gürtelenger-Schnallens. Gleichzeitig stellt sich jedoch verschärft das Verteilungsproblem. Es muss nämlich politisch dafür gesorgt werden, dass der steigende gesellschaftliche Reichtum auch bei allen ankommt. Dass 2040 statistisch gesehen 35000 Euro oder gar 40000 Euro je nach Annahmen für jede und jeden zur Verfügung stehen, 2060 sogar 42000 Euro oder bei höherem Produktivitätsfortschritt über 60000 Euro, sagt natürlich nichts über die tatsächliche Verteilung aus. Wenn die heutige Tendenz zur Einkommens- und Vermögenskonzentration anhält (das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt inzwischen mehr als ein Drittel des gesamten Nettovermögens, während die unteren 20 Prozent nicht nur kein Vermögen besitzen, sondern sogar verschuldet sind), droht sogar die Gefahr, dass sich wenige auch weiterhin einen wachsenden Teil des wachsenden gesellschaftlichen Reichtums aneignen. Dann würden immer mehr Menschen weiter von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt, während eine kleine Elite einen immer größeren Teil des zu verteilenden Kuchens erhält. Um im Bild zu bleiben: Der große Teil der Bevölkerung müsste dann nur deswegen den Gürtel en - ger schnallen, weil der kleinere Teil der Bevölkerung gar nicht genug bekommt. Diese steigende Verteilungsproblematik verweist auf die wachsende Bedeutung von Politik, vor allem von Verteilungspolitik. Ihre vordringliche Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum alle partizipieren und nicht nur eine kleine Elite. Dies ist zweifellos eine in ihrer Dimension nicht zu unterschätzende politische Aufgabe. Dennoch ist es ein grundsätzlich anderes Problem, ob etwas nicht da ist (= Sachzwang), oder wir es mit einem wenn auch massiven Verteilungsproblem zu tun haben (= politische Aufgabe). Die Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Arbeitsbedingungen und die Qualität der 30

Arbeit in Deutschland massiv verschlechtert haben. Es entstand einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa, der einen Anstieg aller Arbeitseinkommen in Deutschland ge - radezu abgewürgt hat. Das reale Arbeitnehmerentgelt (Bruttolöhne und -gehälter plus Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber) ist zwischen 2000 und 2005 nicht nur nicht mehr gestiegen, sondern sogar um fünf Prozent gesunken. Erst 2011 erreichte es wieder den Stand des Jahres 2000. Bis 2014 wird bei optimistischer Einschätzung der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung ein Anstieg um 5,4 Prozent gegenüber 2000 prognostiziert. Aber selbst dann läge der durchschnittliche jährliche Anstieg der realen Arbeitnehmerentgelte seit dem Jahr 2000 bei lediglich 0,4 Prozent. Damit ist die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 13 Jahre an der Gesamtheit der Beschäftigten praktisch vorbeigegangen. Von der Zunahme der realen Wirtschaftsleistung in diesem Zeitraum um gut 14 Prozent (bzw. 1,1 Prozent pro Jahr) haben fast ausschließlich die Empfänger von Unternehmens- und Vermögenseinkommen profitiert. Ihre realen Einkommen sind zwischen 2000 und dem Beginn der Krise im Schnitt um über 40 Prozent gestiegen. Nach einem zeitweisen Rückgang in der Krise nähern sie sich inzwischen bereits wieder der 30-Prozent-Marke. Gleichzeitig haben die öffentlichen Sparmaßnahmen bei uns dazu geführt, dass Deutschland inzwischen einen extrem schlanken Staat hat. Leidtragende ist hierbei wiederum vor allem die breite Mehrheit der Bevölkerung. Denn Reiche und Vermögende sind am wenigsten auf staatliche Angebote und Unterstützung angewiesen. Ausweislich der Statistiken der Europäischen Kommission für 2011 haben die Euroländer im Durchschnitt eine Staatsquote (das ist der Anteil der öffentlichen Ausgaben an der Wirtschaftsleistung) in Höhe von 49,1 Prozent. Mit 46 Prozent liegt Deutschland deutlich unter dieser Marke. Bei diesem immer wieder als zu hoch kritisierten Wert nahe der magischen 50-Prozent-Marke sind allerdings die öffent - lichen Sozialversicherungssysteme einbezogen, die in andern Ländern vielfach privat organisiert sind und deshalb bei der Berechnung von deren Staatsquote nicht zu Buche schlagen. Ohne Berücksichtigung der Sozialversicherungen liegt die sogenannte engere Staatsquote in Deutschland bei lediglich knapp 26 Prozent, so dass man kaum von einem Moloch Staat sprechen kann. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass der Staat immer schlechter in der Lage ist, eine ausreichende Zukunftssicherung und -vorsorge zu treffen. Bereits Anfang 2008 hatte das deutsche Institut für Urbanistik (Difu) den notwendigen kommunalen Investitionsbedarf bis 2020 mit mehr als 704 Milliarden Euro beziffert und gleichzeitig beklagt, dass die kommunale Investitionstätigkeit hinter diesem Bedarf weit zurückbleibt und zudem kontinuierlich rückläufig sei. Allein im Bildungsbereich be - steht ein jährlicher Mehrinvestitionsbedarf von 45 Milliarden Euro (u.a. Ganztagsbetreuung, Schulinfrastruktur). Diese seit langem anhaltende Fehlentwicklung wird im aktuellen Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau vom April 2013 bestätigt: Nach Schätzungen der Kommunen beträgt der Investitionsrückstau inzwischen 128 Milliarden Euro. Das sind etwa 20 Milliarden mehr als im Vorjahr. Zurückliegende Steuerreformen, von de - nen vor allem Reiche und gutverdienende Unternehmen profitierten und profitieren, haben einen nicht unerheblichen Anteil an dieser Misere. Allein die Steuerreformen seit 1998 haben zwischen 2000 und 2013 zu hochgerechneten Steuerausfällen von insgesamt 470 Milliarden Euro geführt. Weder die Demografie noch die Staatsverschuldung können also als Beleg dafür angeführt werden, dass wir uns von manchem, was uns lieb geworden ist, verabschieden müssen, oder dass wir über unsere Verhält- 31

nisse gelebt hätten. Das zentrale Problem ist die Pflege des privaten Reichtums. Eine angemessene und sachgerechte Reaktion wäre es, den entstandenen Verteilungsund öffentlichen Finanzierungsproblemen mit einer Wende in der Arbeitsmarkt- wie in der Steuerpolitik zu begegnen. Während für die Beschäftigten deutliche (nachholende) Einkommenszuwächse das Ziel sein müssten, sind vor allem Reiche, Vermögende und gutverdienende Unternehmen stärker an der Finanzierung gesamtstaatlicher Ausgaben zu beteiligen. Höhere Einnahmen werden auch dringend gebraucht, um bessere Bildungschancen für alle und damit den gesellschaftlich wichtigen Produktivitätsfortschritt zu sichern. Zur Veränderung der zunehmend schiefer gewordenen Primärverteilung, also der Aufteilung des Volkseinkommens direkt bei der Entstehung, auf einerseits Arbeits- und andererseits Gewinn- und Vermögenseinkommen, erscheinen eine Re-Reform der Arbeitsmarktgesetze, eine universellen Durchsetzung von gleichem Lohn für gleiche Arbeit und die Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns vordringlich. Für die Verbesserung der öffentlichen Finanzen liegen die Vorschläge auf dem Tisch. Praktisch alle Oppositions par tei en haben in ihren Wahl programmen für die Bundestagswahl 2013 Steuerreformen vorgestellt, die über höhere Steuern für Reiche und Unterneh men die Einnahmen des Staates deutlich verbessern würden. Wesentliche In strumente sind ein höherer Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer, ei ne Anhebung des Körperschaftsteuersatzes für Un ter nehmen, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Erhebung einer zeitweisen Vermögensabga be als Lastenausgleich wegen der finanziellen Belastung der öffentlichen Haushalte durch die Eurokrise, eine höhere Erbschaftsteuer und nicht zuletzt die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Auf diese Weise könnten hohe Einkommen und das vorhandene große private Vermögen zur Finanzierung wichtiger gesamtgesellschaftlicher Aufgaben nicht zuletzt zur Stärkung des sozialen Sicherungssystems genutzt werden. Wegen der zunehmenden Un - gleichverteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland sind solche Reformen in der Steuer-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der Tat alternativlos. Hier scheint das Unwort des Jahres 2010 ausnahmsweise einmal seine Berechtigung zu haben. Eine solche Politik würde dazu beitragen, dass die breite Bevölkerung trotz Schrumpfung und Alterung an der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums teilhaben könnte statt weiter auf ein Gürtel-enger-Schnallen und damit eine weitere Umverteilung von unten nach oben eingeschworen zu werden. 32