Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Stellungnahme der ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft zur geplanten Änderungen der Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung in der allgemeinen Krankenpflege durch die Europäische Kommission. Die Absicht der Europäischen Kommission, die Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung in den Pflegeberufen und für Hebammen von einer zehnjährigen auf eine zwölfjährige allgemeine Schulbildung anzuheben, ist in Deutschland auf ein überwiegend ablehnendes Echo gestoßen. Allein die Berufsverbände für Pflegeberufe und Hebammen befürworten diese Entwicklung. Als Gründe dafür werden genannt: eine Vereinheitlichung der Zugangsvoraussetzungen zwischen den Mitgliedstaaten, gestiegene Anforderungen an die Berufsausübung in der Pflegebranche und ein Anheben des Ansehens des Berufsstands. Vereinheitlichung der Ausbildung in Europa Die Richtlinie zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen regelt Mindestvoraussetzungen zum Zugang zu einer qualifizierten Fachausbildung in der Pflege. Vor dem Hintergrund der Unterschiedlichkeit der schulischen Ausbildungen und der Bildungssysteme in Europa ist nicht nachzuvollziehen, warum die Anzahl der schulischen Ausbildungsjahre sicherstellen soll, dass ein vergleichbares Qualifikationsniveau zur Berufsausbildung erreicht wird. Vielmehr kommt es auf die Befähigung zur Berufsausübung der zukünftigen Pflegekräfte, auf die Qualität und den Umfang der Ausbildung selbst an. Denn die Berufsausbildung wird durch Zugangsvoraussetzungen weder qualitativ aufoder abgewertet. Deutschland kann gerade mit den zehnjährigen mittleren Bildungsabschlüssen gute Erfahrungen hinsichtlich der Berufsfähigkeit der Jugendlichen vorweisen. Zum einen sprechen die Zahlen der Integration von Schulabgängern mit mittleren Bildungsabschlüssen in den Arbeitsmarkt für sich. Zum anderen wird durch diesen Bildungsabschluss erreicht, dass z.b. Schulabsolventinnen und -absolventen, die keine Hochschulausbildung anstreben oder solche mit Migrationshintergrund, denen oftmals aus sozialen Gründen der Zugang zu einer gymnasialen Ausbildung versperrt ist, die Chance zu einer qualifizierten Berufsausbildung erhalten. Vor dem Hintergrund unterschiedlich gegliederter Ausbildungsgänge in den Mitgliedsstaaten bewertet ver.di die Festlegung auf eine zehnjährige allgemeine Schulbildung als Mindestvoraussetzung für eine qualifizierte Pflegeausbildung als durchaus angemessen. Zudem sind in Europa ebenso große Unterschiede in der Berufsausübung und der Wahrnehmung von Aufgaben in der gesundheitlichen Versorgung nicht von der Hand zu weisen. Von einem einheitlichen Trend zu höheren Anforderungen in der pflegerischen Versorgung kann nicht die Rede sein. Vor dem Hintergrund von Kostendruck, Rationalisierungsgeschehen und neuen Behandlungsmethoden in den Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung, gibt es eine Entwicklung für den Einsatz von Beschäftigten, die mit höheren Anforderungen und Spezialisierungserfordernissen verbunden ist. Andererseits ist eine zunehmende Beschäftigung von Pflegepersonal mit einem niedrigeren Ausbildungsniveau zu verzeichnen, das verstärkt pflegefachliche Aufgaben übernimmt, die schon jetzt die Anforderungen der Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen an keiner Stelle erfüllen.
2 Durch diese Ausdifferenzierung in unterschiedliche Qualifikationsniveaus sind eine qualitativ hochwertige Versorgung und die Sicherheit der Patienten durch nicht einheitlich qualifizierte Fachkräfte gefährdet. Die meisten europäischen Länder verfügen über mehrere Niveaus an Pflegeausbildungsgängen, das heißt, solchen mit und ohne zwölfjährigen Schulabschluss als Zugangsvoraussetzung. Deutschland setzt in der Beschäftigung auf das breite Qualifikationsprofil der Pflegefachkräfte (Gesundheits- und Krankenpfleger/-in). So liegt z.b. im Pflegedienst der Krankenhäuser der Anteil der Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen, die alle die Anforderungen der Richtlinie erfüllen und damit auch der automatischen Anerkennung unterliegen, bei 90 %. Dies würde sich durch die geplante Änderung der Richtlinie drastisch ändern. Angesichts des demographisch bedingten Rückgangs an Schulabsolventinnen und -absolventen, hätte eine weitere gesetzliche Begrenzung des Zugangs fatale Folgen auf den betrieblichen Arbeitsmarkt und die Beschäftigung von Fachkräften in den Pflegeberufen. Auswirkungen auf die Ausbildung in den Pflegeberufen in Deutschland Mit der Vorgabe von 12 Jahren Schulbildung würden etwa 45 % der heutigen Auszubildenden in der Gesundheits- und Krankenpflege von der Ausbildung ausgeschlossen werden. In der Altenpflegeausbildung wären es sogar 85 %. 1 Zu berücksichtigen sind zudem die Bestrebungen in Deutschland, die Ausbildungsgänge in den Pflegeberufen durch ein einheitliches Berufsgesetz zu regeln, das die Vorgaben der Richtlinie für die automatische Anerkennung erfüllt. In der Konsequenz würde sich dann der sich abzeichnende, regional und fachbezogen bereits bestehende Fachkräftemangel, nochmals dramatisch verschärfen. Deutschland wäre gezwungen, eine weitere Ausbildung in der allgemeinen Krankenpflege einzuführen, die niedrigere Zugangsvoraussetzungen hat, um den Bedarf an Pflegefachkräften zu decken. Damit würde der ohnehin bestehende Trend zu niedrig qualifizierter Arbeit verstärkt. Die Schaffung weiterer unterschiedlicher Qualifikationsniveaus von Pflegekräften würde nicht zu einer Aufwertung des Berufsfeldes insgesamt führen. Diese Ausbildungen würden zudem dann zwangsläufig nicht den Bedingungen des Anhangs der Richtlinie entsprechen. Tabelle 1: Entwicklung der Schulabgänger/ -innen 2005-2020 Schulabgänger/-innen in Tsd. 1.000 950 900 850 800 750 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Gesamt 963 967 965 921 888 866 889 881 917 853 846 838 814 794 782 763 Quelle: KMK 2011 1 Mangels bundesweiter statistischer Daten, beziehen sich die Daten zu den Schulabschlüssen auf Erhebungen des Landes Nordrhein-Westfalen, die aber als repräsentativ gelten können.
3 An dieser Tabelle werden der demographische Wandel und der dramatische Rückgang der Schulabgängerzahlen in Deutschland deutlich. Für das Jahr 2015 liegen die Schätzungen bei ca. 846.000 Absolventinnen und Absolventen von vormals über 960.000 in 2005. Es erscheint ausgeschlossen, dass von den erwarteten etwa 280.000 Schulabsolventinnen und -absolventen mit Fachhochschulreife (FHR) und allgemeiner Hochschulreife (AHR) des Jahres 2020 2 jährlich 35.000 bis 40.000 für eine Ausbildung in den Pflegeberufen gewonnen werden können, wenn gleichzeitig etwa 500.000 Ausbildungsplätze im dualen System der Berufsbildung und eine wachsende Zahl von berufsqualifizierenden Studienplätzen an Hochschulen zur Verfügung stehen. Tabelle 2: Differenzierung der Schulabgänger/-innen nach Schulabschlüssen HSA FOR AHR/FHR 450.000 400.000 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000 100.000 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Quelle: KMK 2011 Zur Erläuterung der Grafik: Die allgemeine Hochschulreife (AHR) steht für einen zwölf- oder dreizehnjährigen allgemeinbildenden Schulabschluss mit allgemeiner Hochschulzugangsberechtigung, die Fachhochschulreife (FHR) für einen zwölfjährigen und die Fachoberschulreife (FOR) für einen zehnjährigen Bildungsabschluss. Absolventen und Absolventen mit Hauptschulabschluss (HSA) sind derzeit vom Zugang zu den Pflegeberufen weitgehend ausgeschlossen. Ihr Anteil liegt unter 2%. Von den etwa 40.000 Auszubildenden, die zurzeit jährlich eine Ausbildung in den Pflegeberufen beginnen, verfügen lediglich ca. 15.000 über die höheren Zugangsvoraussetzungen einer 12-jährigen Schulbildung. Zugleich würde den etwa 350.000 Schulabsolventen und -absolventinnen mit zehnjährigem Bildungsabschluss der Zugang zur Ausbildung verwehrt. Da in einigen Bundesländern an Hauptschulen auch zehnjährige Bildungsabschlüsse erworben werden können, würde das Potential an Bewerbern und Bewerberinnen um weitere mehr als 100.000 junge Menschen verringert. 2 Statistische Veröffentlichungen der Kultusministerkonferenz Nr. 192, August 2011. Vorausberechnung der Schüler- und Absolventenzahlen 2010 bis 2025
4 Aufgabe der Europäischen Kommission ist es u.a., den Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung diskriminierungsfrei zu gestalten und die Freizügigkeit der Beschäftigten zu erleichtern. Mit der aus unserer Sicht nicht notwendigen Verschärfung der Zugangsvoraussetzungen wird das Gegenteil erreicht. Da wir davon ausgehen müssen, dass sich in den nächsten Jahren die schulischen Voraussetzungen nicht wesentlich verändern werden und die Mehrheit der Schulabgänger/-innen weiterhin über eine zehnjährige allgemeine Schulbildung verfügt, würden immer mehr deutsche Pflegekräfte von der automatischen Anerkennung ihres Berufsabschlusses ausgeschlossen. Betroffen sind derzeit jährlich 15.000 Altenpfleger/-innen und etwa 11.000 Gesundheits- und Krankenpflegerinnen. In nur vier Jahren wären über 100.000 qualifizierte Pflegekräfte hiervon betroffen. Steigende Anforderungen an die Pflegeberufe Es gibt keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Auszubildenden mit den derzeit geltenden Zugangsvoraussetzungen den Anforderungen der Ausbildung und darüber hinaus der beruflichen Praxis nicht gewachsen wären. Der erfolgreiche Ausbildungsabschluss ist nicht abhängig von den Zugangsvoraussetzungen sondern von Rahmenbedingungen, den Inhalten und der Organisation der Ausbildung. Derzeit verfügt etwa die Hälfte der Auszubildenden in der allgemeinen Krankenpflege über einen zwölf- bzw. dreizehnjährigen allgemeinbildenden Schulabschluss. Es ist aber kein signifikanter Unterschied dieser Auszubildenden mit denen einer 10-jährigen Schulbildung festzustellen. Dies gilt für den erfolgreichen Ausbildungsverlauf wie auch für die Berufsausübung. Es gibt daher keinerlei Beleg für die Behauptung, Gesundheits- und Krankenpfleger/-innen mit einer kürzeren als zwölfjährigen Allgemeinbildung seien den Anforderungen der Berufspraxis nicht gewachsen. Der Richtlinienentwurf fordert zu Recht eine Mindestausbildungszeit von drei Jahren und einen Ausbildungsumfang von 4.600 Stunden. Diesen Anforderungen entspricht das deutsche Ausbildungssystem schon lange. Der Richtlinienentwurf sieht dabei ca. 1.500 Stunden für den theoretischen Unterricht vor. Deutschland vermittelt in 2.100 Unterrichtsstunden die theoretischen Grundlagen für die Gesundheits- und Krankenpflege. Diese Schwerpunktsetzung ist gerade dazu gedacht, gewachsenen Anforderungen gerecht zu werden und die Qualifikation der Pflegefachkräfte zu verbessern. Die Zahlen der Absolventinnen und Absolventen in der Gesundheits- und Krankenpflege zeigen, dass dieser Weg erfolgreich ist. Zudem gibt es ein ausgeprägtes Fort- und Weiterbildungssystem mit dem auf wechselnde Anforderungen reagiert werden kann, ohne den Zugang zur Ausbildung stärker einzuschränken. Erhöhung des Ansehens der Pflegeberufe Auch die Argumentation, durch höhere Zugangsvoraussetzungen würde das Ansehen des Pflegeberufs steigen und die Ausbildung für junge Menschen attraktiver werden, kann nicht überzeugen. Das Ansehen eines Berufs wird von anderen Faktoren bestimmt. Dazu zählen u.a. die gesellschaftliche Bedeutung, die Bezahlung, dass Maß der Selbstbestimmung und die Arbeitsbedingungen. Das zeigen alle vorliegenden nationalen und international vergleichenden Studien in diesem Feld. Auch ist nicht zu erwarten, dass ausgebildete Pflegekräfte nach Abschluss der Ausbildung infolge der geänderten Zugangsvoraussetzungen höher vergütet werden. Für die Vergütung sind die ausgeübte Tätigkeit und der dafür erforderliche Berufsabschluss maßgebend, nicht aber die Voraussetzungen für den Zugang zur Ausbildung.
5 Auswirkungen auf die Ausbildung der Hebammen Bei den Hebammen gibt es für die knapp 1.900 Ausbildungsplätze in Deutschland ein Vielfaches an Bewerbungen, sodass derzeit bereits über 90% der Auszubildenden über die Fachhochschulreife oder die allgemeine Hochschulreife, also eine zwölf- oder dreizehnjährige schulische Allgemeinbildung verfügen. Hier besteht kein quantitatives Versorgungsproblem. Gleichwohl sehen wir auch bei den Hebammen keinen Anlass, die etwa 10 % Schulabsolventinnen ohne mindestens zwölfjährige Schulbildung, die offensichtlich für den Beruf geeignet sind, davon auszuschließen. Berlin, 29.02.2012