Soziale Sicherung I Sommersemester 2007 1. Vorlesung Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Strengmann@wiwi.uni-frankfurt.de www.wiwi.uni-frankfurt.de/~strengma 1
Gliederung für Soziale Sicherung I und II 1. Einführung 2. Grundlagen 3. Gerechtigkeitstheorien 4. Begründung von staatlichen Eingriffen 5. Versicherung 6. Alterssicherung 7. Krankenversicherung 8. Arbeitslosenversicherung 9. Armut, Sozialhilfe, Grundsicherung 10. Soziale Sicherung von Familien 11. Europäische Sozialpolitik 12.... 2
Institutionelle Regelungen Ökonomische Analyse Empirie 3
Grundlegende Literatur 1. Breyer, F./ Buchholz, W. (2006): Ökonomie des Sozialstaats. Berlin/ Heidelberg: Springer Verlag. 2. Barr, N. (2004): The Economics of the Welfare State, 4th ed., Oxford: Oxford University Press 3. Bäcker, G.; Bispinck, R.; Hofemann, K. und Naegele, G. (2000): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Bd. I und Bd.II, Westdeutscher Verlag Ergänzendes Angebot zum Buch von Bäcker et al. mit aktualisierten Tabellen, aktuellen Regelungen, Stellungnahmen, Berichten und vieles mehr: http://www.sozialpolitik-aktuell.de 4
Ergänzende Literatur im Semesterapparat gibt es eine Reihe weiterer Bücher Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) Übersicht über das Sozialrecht (28, ca. 1000 Seiten) kostenlos zum download auf www.bmas.bund.de: Statistisches Taschenbuch (erscheint jährlich) Sozialbericht 2005 Sozialbudget 2005 5
sonstige Informationen im Internet http://www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik Allgemeines, aktuelle Debatten http://www.bmas.bund.de Allgemeines http://www.deutsche-rentenversicherung.de Rente http://www.deutscher-verein.de Sozialhilfe vor allem: www.sozialpolitik-aktuell.de Informationen zur Vorlesung: www.wiwi.uni-frankfurt.de/~strengma 6
Zeitschriften Sozialpolitik allgemein Sozialer Fortschritt http://www.sozialerfortschritt.de/ Zeitschrift für Sozialreform http://www.z-sozialreform.de/ Journal of European Social Policy http://www.sagepub.co.uk/journal.aspx?pid=105641 Sozialhilfe Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV) http://www.deutscher-verein.de/portal/publikationen/03-nachrichtendienst Rente Deutsche Rentenversicherung (DRV) http://www.deutsche-rentenversicherung.de/ Publikationen DRV-Hefte 7
Zeitschriften Einkommens- und Vermögensverteilung, Armut Review of Income and Wealth Interational Association for Research on Income and Wealth (IARIW) http://www.iariw.org/ Soziologie Zeitschrift für Soziologie (ZfS) http://www.uni-bielefeld.de/soz/zfs/index.html Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) http://www.uni-koeln.de/kzfss/ Wirtschaftstheorie, Empirie, Methoden Journal of Human Ressources http://www.ssc.wisc.edu/jhr/ 8
Zeitschriften Wirtschaftspolitik Wirtschaftsdienst www.hwwa.de/publikationen/wirtschaftsdienst/c_publikationen_wirtschaftsdienst_01.html Perspektiven der Wirtschaftspolitik Verein für Socialpolitik www.socialpolitik.org Zeitschriften Schmollers Jahrbuch http://www.diw.de/deutsch/dasinstitut/abteilungen/ldm/publikation/schmoller/index.html WSI-Mitteilungen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung www.wsi-mitteilungen.de/ 9
Überblick über die soziale Sicherung Sozialbudget Sozialleistungsquoten Finanzierung Die folgenden Tabellen und Abbildungen stammen von www.sozialpolitik-aktuell.de 10
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2. Grundlagen 2.1 Ziele 2.2 Grundprinzipien der Sozialpolitik in Deutschland 2.3 historische Entwicklung in Deutschland 2.4 Kompetenzen und Träger der Sozialpolitik in Deutschland Literatur: zu 2.1.: Barr, S. 3-4, 10-13 zu 2.2: Lampert/Althammer (2001): S.227ff., S. 422ff. zu 2.3: Bäcker et al., Kap. I. 3., Lampert/Althammer: Kap. III zu 2.4.: Bäcker et al., Kap. I. 4. 19
Grundsätzliche Fragestellungen: 1. Was sind die Ziele? 2. Mit welchen Mitteln können diese Ziele am Besten erreicht werden? 3. Was sind die (Neben-)Wirkungen der Mittel? grundlegende Ziele (aims) von Sozialpolitik: 1. Effizienz 2. soziale Gerechtigkeit 3. Freiheit 20
Ziele im Einzelnen (objectives) 1. Effizienz Makroeffizienz Sozialpolitik zielt unter anderem darauf, allokatives Marktversagen zu reduzieren, und damit die Effizienz der Marktwirtschaft zu erhöhen. Mikroeffizienz Effiziente Verteilung der einzelnen sozialen Leistungen auf die Individuen und effiziente Verteilung der Mittel auf die einzelnen Leistungen. Anreizwirkungen Zu berücksichtigen sind dabei Anreizwirkungen insbesondere auf Arbeitsangebot und Beschäftigung sowie auf die individuelle und volkswirtschaftliche Ersparnis 21
Ziele im Einzelnen: 2. Unterstützung des Lebensstandards Vermeidung oder Reduktion von Armut Niemand sollte mit seinem Lebensstandard unter ein bestimmtes Niveau absinken. Versicherung Niemand soll eine überraschende und nicht akzeptable Reduktion seines Lebensstandards erleiden. Einkommensglättung/ Konsumglättung Individuen sollen in die Lage versetzt werden, Ressourcen über ihren Lebenszeitraum zu verteilen, um sich gegen vorhersehbare Risiken wie Alterung, Familiengründung, Kindererziehung, absichern zu können. 22
Ziele im Einzelnen: 3. Verringerung von Ungleichheit Vertikale Gerechtigkeit Verringerung von Ungleichheit zwischen reich und arm Horizontale Gerechtigkeit Gleichheit für jeweils vergleichbare Gruppen 23
Würde des Menschen Ziele im Einzelnen: 4. Soziale Integration Die sozialpolitischen Maßnahmen sollen so gestaltet sein, dass sie die Würde der Empfänger wahren und sie nicht sozial stigmatisieren. Solidarität Soziale Sicherungssysteme sollten so ausgestaltet sein, dass sie die soziale Solidarität fördern und stärken. 24
Ziele im Einzelnen: 5. Optimale institutionelle Ausgestaltung Verständlichkeit/ Einfachheit Minimierung von Missbrauchsmöglichkeiten 6. Freiheit Förderung von Unabhängigkeit von staatlicher oder privater Unterstützung Zur Verfügung Stellung von Mitteln/ Ressourcen zur Ermöglichung von freien Entscheidungen 25
Grundprinzipien 1. Solidarprinzip Solidariät ist zu verstehen als wechselseitige Verbundenheit zwischen einzelnen und bestimmten sozialen Gruppen oder zwischen sozialen Gruppen im Sinne ethisch begründeter gegenseitiger Verantwortlichkeit, im Sinne eines unauflösbaren Aufeinander-Angewiesen-Seins. (Nell-Breuning 1968, zitiert nach Lampert 2001: 422) 2. Subsidiaritätsprinzip Selbsthilfe hat Vorrang vor Fremdhilfe Nach diesem Prinzip soll kein übergeordnetes oder größeres Sozialgebilde Aufgaben an sich ziehen, die von kleineren Sozialgebilden aus eigener Kraft und Verantwortung mindestens genauso gut gelöst werden können. Andererseits verlangt es, dass die größeren Sozialgebilde den kleineren die notwendigen Mittel zur Verfügung stellt, damit diese ihre Aufgaben erfüllen können. 26
Grundprinzipien 3. Prinzip der Selbstverantwortung Sozialpolitik soll die Freiheit und Selbstbestimmung der Einzelnen nicht beschränken. Werden die Eingriffe zu stark, entsteht eine Gefährdung individueller Freiheiten. Andererseits sorgt Sozialpolitik teilweise erst für die Mittel, die selbstverantwortliches Handeln ermöglichen. 4. Prinzip sozialer Selbstverwaltung Selbstverwaltung bedeutet letztlich die selbstverantwortliche, dezentrale Erfüllung von Aufgaben entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip. 5. Prinzip der Ordnungskonformität Die Mittel der Sozialpolitik sollen an die herrschende Wirtschaftsordnung angepasst werden. 27
Grundprinzipien 6. Fürsorge-, Versorgungs- oder Versicherungsprinzip Fürsorgeprinzip Leistungen nur bei Bedürftigkeit, d.h. nach einer entsprechenden Bedürftigkeitsprüfung Ausrichtung der Leistungen soll sich am tatsächlichen, individuellen Bedarf orientieren. Finanzierung aus dem allgemeinen Steueraufkommen. 28
Grundprinzipien Versorgungsprinzip Angemessene Versorgung von Personen, die Leistungen oder ein Sonderopfer für den Staat erbringen oder erbracht haben (Beamte, Kriegsopfer). Daher werden sonstige Einkommen bei der Leistungsberechnung nicht berücksichtigt. Es besteht ein Rechtsanspruch auf die entsprechenden Transfers. Weitergehende Interpretation des Prinzips: Deckung des Grundbedarfs aller Gesellschaftsmitglieder. Finanzierung erfolgt aus öffentlichen Mitteln. 29
Versicherungsprinzip Grundprinzipien Die Leistungen beruhen auf vorher geleisteten Beiträgen Verhältnis von Beiträgen und Leistungen entsprechen dem versicherungsmathematischen Äquivalenzprinzip Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung 30
7. Organisationsprinzipien Grundprinzipien freiwillige Versicherung oder Pflichtversicherung mehrgliedrige oder Einheitsversicherung Wettbewerb der Versicherungen oder Versicherungsmonopole privatrechtliche, öffentlich-rechtliche oder staatliche Organisationen 31
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland Bis ins 19. Jahrhundert: Sozialpolitik im Wesentlichen privat organisiert durch: Familien kommunale Armenfürsorge Kirchen ständische Sicherungseinrichtungen der Zünfte 1883-1889: Sozialversicherungsgesetze von Bismarck Krankenversicherung der Arbeitnehmer (1883) Unfallversicherung (1884) Invaliditäts- und Alterssicherung (1889) 32
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland 1883-1889: Sozialversicherungsgesetze von Bismarck Krankenversicherung der Arbeitnehmer (1883) Einführung einer Versicherungspflicht für die Beschäftigten, deren Einkommen unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze liegen. Die Beiträge werden zu 2/3 von Arbeitern und 1/3 von Arbeitgebern bezahlt. Mindestleistungen sind freie ärztliche Behandlung, unentgeltliche Versorgung mit Arzneimitteln, Krankengeld ab dem dritten Tag der Erkrankung für längstens 13 Wochen, Mutterschaftsgeld. Ein Einbezug von Familienangehörigen lag im Ermessen der einzelnen Kassen. 33
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland 1883-1889: Sozialversicherungsgesetze von Bismarck Unfallversicherung (1884) Versicherungspflicht für die Arbeitgeber in der Industrie sowie Schutz für Angestellte mit einem Jahreseinkommen unterhalb von 2000 DM. Invaliditäts- und Alterssicherung (1889) Versicherungspflicht für alle Arbeiter ab dem 16. Lebensjahr. Finanziert durch einen Zuschuss des Reiches und gleich hohe Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Rente ab dem 70. Lebensjahr bei mindestens dreissig Beitragsjahren oder Invaliditätsrente nach fünf Beitragsjahren. 34
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland 1883-1889: Sozialversicherungsgesetze von Bismarck Charakteristika Quantitativ bescheiden (eng begrenzte Gruppe, geringe Leistungen) Erhalt der Arbeitskraft der Arbeiter Arbeiterpolitik Schutzpolitik (sozialer Schutz der Arbeiter und Schutz der Gesellschaft durch eine Politik der sozialen Befriedung) Repressiv-staatsautoritär ( Komplement zum Sozialistengesetz, verbunden mit polizeistaatlicher Unterdrückung der Arbeiterbewegung) 35
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland In den folgenden Jahrzehnten: schrittweise Ausweitung und Ausbau der Sozialversicherungen (Arbeiterpolitik): u.a. Rentenversicherung auch für Angestellte und Hinterbliebenversicherung 1911, Einführung einer Arbeitslosenversicherung 1927 parallel dazu: Entwicklung der Armenfürsorge auf kommunaler Ebene, in der Weimarer Republik Einführung staatlicher Fürsorgegesetze (Erwerbslosenhilfe 1918, Reichsfürsorgeverordnung 1924 u.a) 36
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland Grundgesetz 1949 Sozialstaatsgebot: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Art. 20 Abs. 1: "Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat" Art. 28 Abs. 1 Satz 1: "(...) den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Daraus kann man folgende Ziele der staatlichen Sozialpolitik herleiten: Die Hauptaufgaben der Sozialordnung liegen also darin, den sozialen Frieden zu sichern, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit für alle zu verwirklichen und im Wirtschaftsleben die Einhaltung sozialer Mindestbedingungen im Sinne der Humanität des Wirtschafts- und Arbeitslebens zu gewährleisten bzw. diesen Grad an Humanität zu erhöhen. (Lampert und Althammer, 2001). 37
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland Grundgesetz 1949 außerdem: Sozialpolitik in der Bundesrepublik Art. 1: Würde des Menschen Art. 3: Gleichheit Abs.1: allgemeiner Gleichheitssatz Abs. 2: Gleichheit von Mann und Frau Abs. 3: Diskriminierungsverbot Art. 6: Schutz von Ehe und Familie, Gleichstellung von nichtehelichen Kindern 38
Historische Entwicklung der Sozialen Sicherung in Deutschland Sozialpolitik in der Bundesrepublik seitdem starker Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen, u.a. 1954 Kindergeldgesetz 1957 umfassende Reform der Rentenversicherung 1961 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1969 Arbeitsförderungsgesetz (AfG) 1971 Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) 1985 Erziehungsgeldgesetz 1995 Pflegeversicherung 39
Kompetenzen und Träger der Sozialpolitik in Deutschland kein aufeinander abgestimmtes System sozialpolitischer Institutionen, Maßnahmen und Leistungen, vielmehr handelt es sich um ein historisch gewachsenes Gebilde, in dem sich die einzelnen Elemente zum Teil unabhängig von einander historisch entwickelt haben. Gesetzgebungs- und Regelungskompetenzen - Bund - Länder - Gemeinden - EU - Selbstverwaltung der Sozialversicherungen - Tarifparteien - Rechtssprechung 40
Kompetenzen und Träger der Sozialpolitik in Deutschland Träger - Sozialversicherungsträger (Arbeitsamt, Rentenversicherung, Krankenkassen) - kommunale Einrichtungen (z.b. Sozialamt, Gesundheitsamt) - private und privatwirtschaftliche Anbieter Sachleistungen im Rahmen der Gesundheitsversorgung - frei-gemeinnützige Träger soziale Dienste - Selbsthilfegruppen und -projekte 41
Kompetenzen und Träger der Sozialpolitik in Deutschland Politikprozess und Akteure - Regierungen - Parlamente und Parlamentsausschüsse - Bundesrat und Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag - Parteien - Städte, Gemeinden und Kommunalverbände - Gerichtsbarkeit (Sozial- und Arbeitsgerichte, Bundesverfassungsgericht) - Sozialversicherungsträger und ihre Verbände - öffentlich-rechtliche Vereinigungen (kassenärztliche Vereinigung, IHK, Handwerkskammern u.a.) - Träger der freien Wohlfahrtspflege und ihre Verbände - Gewerkschaften - Arbeitgeberverbände - Interessensverbände einzelner Anbieter - Privatversicherungen - Interessenverbände einzelner Personengruppen (Familienverbände, Behindertenverbände, Seniorenverbände, Arbeitslosenverbände) 42