Beitrag: Risiko Berufsunfähigkeit Versichert und trotzdem schutzlos

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1 Manuskript Beitrag: Risiko Berufsunfähigkeit Versichert und trotzdem schutzlos Sendung vom 17. Juli 2018 von Ingo Dell und Jörg Göbel Anmoderation: Es ist die größte Angst vieler Arbeitnehmer, die Angst, so krank zu werden, dass sie ihren Job verlieren und ihre Existenzgrundlage. Gegen diese Angst gibt es zwar eine Versicherung, doch die Berufsunfähigkeitsversicherung ist noch komplizierter als ihr Name. Und den Kranken verweigern die Konzerne oft die Zahlung mit dem Verweis aufs Kleingedruckte. Ingo Dell und Jörg Göbel über Versicherte, die trotzdem schutzlos sind. Text: Gleich wird es wieder wehtun. Alle zwei bis drei Tage muss Wilfried Schlätker seinen Verband wechseln. Er leidet an einer Autoimmunerkrankung. Systemische Sklerodermie ist der Fachbegriff. Eine Folge: Der Körper greift das eigene Bindegewebe an. Durch die Krankheit ist es halt so, dass offene Stellen an den Füßen entstehen. Und bei mir ist es so, dass ich eine an der Ferse habe. Und der kleine Zeh wurde zu zwei Dritteln bislang amputiert. Es ist jetzt so, dass da eine offene Stelle ist - die OP-Wunde letzten Endes, von der Amputation, die nicht heilt oder die sehr schwierig heilt. Mehr als 30 Jahre hat er Sanitär- und Heizungsanlagen gebaut. Doch nun sind Arbeiten auf dem Bau für ihn so gut wie unmöglich. Ob es jetzt ein Transport von einem Heizkörper ist, ob es Arbeiten auf dem Dach sind, ich kann mit meinen Füßen keine 100 Kilo oder 80 Kilo mehr tragen das geht nicht. Auch seine Hände sind von der Krankheit betroffen. Die

2 Durchblutung ist gestört, vor allem bei Kälte ganz blau. Mit den Händen Werkzeuge zu greifen, ich kriege den Faustschluss nicht mehr hin, ich kann kein Rohr mehr halten, die Werkzeuge rutschen mir aus der Hand. Keine Arbeit, kein Einkommen, die Familie in Sorge. Dabei hat Wilfried Schlätker vorgesorgt mit zwei Berufsunfähigkeitsversicherungen. Die eine hat schon gezahlt, innerhalb von drei Wochen. Die andere - die Nürnberger Versicherung - prüft zehn Monate nach Antrag immer noch. Letzten Endes, bei der Nürnberger sprechen wir über eine monatliche Rente von Euro - und ich dieses Geld einfach brauche, um meine Existenz zu bestreiten. Und jetzt einfach da einen hängen zu lassen und zu sagen, wir gucken mal, wo die Reise so hingeht, Herr Schlätker, ist für mich nicht mehr nachvollziehbar. Die Berufsunfähigkeitsversicherung: Sie soll Existenzen absichern. Experten halten sie für unverzichtbar. Trotzdem haben nur etwa 25 Prozent aller Arbeitnehmer eine abgeschlossen. Claus-Dieter Gorr ist Branchenanalyst und war früher selbst Makler. Nach seiner Einschätzung ist die private Vorsorge gegen Berufsunfähigkeit besorgniserregend schlecht. Wir haben im BU-Markt eine deutlich zu geringe Abdeckung in der Bevölkerung. Diejenigen, die eine Berufsunfähigkeitsversicherung haben, wissen gar nicht, was wirklich versichert ist und haben im Schadensfall oftmals Probleme. Wir haben im Endeffekt Marktversagen. Die Gründe für das Marktversagen laut Gorr vielfältig. Ein Beispiel: Viele vermeintlich einfache Begriffe seien in den Vertragsbedingungen nicht eindeutig definiert und sorgten daher im Leistungsfall für Ärger - zum Beispiel die Formulierung ärztlich nachzuweisen. Das Problem bei der Formulierung ärztlich nachzuweisen liegt darin, dass es nicht qualifiziert und quantifiziert ist. Sie wissen nicht, welcher Arzt, ob mehrere Ärzte, und man weiß nicht, wie tief die Befunde sein müssen. Es ist nicht so einfach, dass ich um Hausarzt gehe, bin berufsunfähig und bekomme mein Geld. Es liegt absolut in der Willkür des Versicherers, wie geht er damit um, was akzeptiert er nachher und was akzeptiert er nicht.

3 Nicht nachvollziehbare Entscheidungen, das kennt Heike Maurath. Sie hat bis vor einigen Jahren noch selbst in einer großen deutschen Versicherung gearbeitet, dort Anträge auf Berufsunfähigkeit geprüft. Sie weiß, wie Sachbearbeiter ticken. O-Ton Heike Maurath, ehemalige Leistungsprüferin: Ich habe ja keinen Bezug zu dem Kunden. Das ist ja ganz anders. Ich habe da einen Fall, ja. Ich kriege die Akten, ich sehe eventuell mal ein Foto, aber ansonsten sind das Unterlagen. Das ist ja was ganz anderes. Ich habe ja nicht die Empathie, wie jetzt von meiner Seite, lerne ich die Kunden kennen. Heute berät sie Versicherte wie Wilfried Schlätker. O-Ton Heike Maurath, Beraterin bei Berufsunfähigkeit: Irgendwann wurde mir klar, dass die Versicherungen eigentlich alle viel mehr Erfahrungen haben durch die Rechtsanwälte, mit denen die zusammenarbeiten, die ganzen Ärzte. Die Leistungsprüfer sind sehr gut ausgebildet und der Versicherungsnehmer hat keine Ahnung davon, was eigentlich Versicherungsbedingungen sind. Heike Maurath kämpft für Wilfried Schlätker. Für sie ist klar: Der Handwerksmeister ist berufsunfähig. Trotzdem fordert die Nürnberger Versicherung immer neue Unterlagen und das braucht Zeit. Dass Menschen wie Wilfried Schlätker wegen einer Berufsunfähigkeit gegen private Versicherungskonzerne kämpfen müssen, hat die Politik zu verantworten. Vor knapp 20 Jahren setzten Bundeskanzler Schröder und sein Arbeitsminister neben Hartz IV große Rentenreformen durch. Seitdem können sich Arbeitskräfte nur noch privat gegen Berufsunfähigkeit absichern. Walter Riester damals optimistisch: O-Ton Walter Riester, SPD, Bundesarbeitsminister am : Deswegen ist diese Reform viel mehr als eine überfällige und notwendige Reparatur. Diese Reform ist eine zukunftsweisende Reform über mehrere Jahrzehnte. O-Ton Prof. Stefan Sell, Sozialwissenschaftler Hochschule Koblenz: Der Staat hat damals eine funktionierende Absicherung der Berufsunfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung gekillt, um Geld zu sparen, schlichtweg. Und hat die Menschen verwiesen an die private Versicherungswelt, ohne aber der privaten Versicherungswelt klare Vorschriften zu machen, um die Betroffenen vor dem Missbrauch zu schützen, dem sie ganz offensichtlich dort jetzt ausgeliefert sind.

4 Ausgeliefert fühlt sich auch Klaus Lange. Er lässt sich von einem Anwalt beraten hat er einen Antrag auf Berufsunfähigkeit bei seiner Versicherung gestellt. Seit einem Schlaganfall vor fünf Jahren geht es dem Selbständigen Inhaber einer Kfz-Werkstatt immer schlechter. Weitere Leiden sind dazu gekommen: O-Ton Klaus Lange, Selbstständiger: Festgestellt Burnout beziehungsweise Überlastung, ausgebrannt, und eine Depression im mittleren Stadium - und ansonsten Folgen des Schlaganfalls sind eben Gleichgewichtsstörung, extreme, eine Blickfeldeinschränkung. Ärztliche Gutachten bestätigen die gesundheitlichen Probleme von Klaus Lange. Doch seine Versicherung - die Alte Leipziger - zahlt bis heute nicht. Wir fragen nach. Die Antwort, Zitat: Eine abschließende Entscheidung über den Leistungsantrag ist bisher nicht möglich, da uns benötigte Informationen nicht zur Verfügung gestellt wurden. Eine reine Hinhaltetaktik meint der Berliner Fachanwalt Joachim Laux. O-Ton Joachim Laux, Fachanwalt für Versicherungsrecht: Das Hauptproblem ist die verzögerte Leistungsbearbeitung, die vielfach mehrfach gestellten Fragen mit gleichem Hintergrund und die insgesamt unangemessene und vor allen Dingen viel zu lange dauernde Leistungsprüfung. Klaus Lange wartet schon anderthalb Jahre auf eine Entscheidung. Dabei brüstet sich die Versicherungsbranche mit einer Bearbeitungszeit von etwas mehr als dreieinhalb Monaten. Das aber ist nur ein Durchschnittswert. Es kann doch nicht sein, dass wir in der privaten Versicherungswirtschaft, wo wirklich Existenzen von der Berufsunfähigkeitsversicherung abhängen, Entscheidungsdauern haben, die weit über drei Monate hinausgehen, die teilweise ein Jahr oder auch zwei Jahre dauern. Das ist schlichtweg ein Witz. Hier muss die Politik handeln, ganz klar. Das ist inzwischen auch bei der SPD angekommen - und ihrer verbraucherpolitischen Sprecherin. Die Regierung Schröder sei mit einigen Reformen der Rentenversicherung gescheitert. O-Ton Sarah Ryglewski, SPD, MdB, Verbraucherpolitische Sprecherin SPD-Fraktion:

5 Man hatte tatsächlich damals zu große Hoffnungen, auch an die Privatwirtschaft. Das war ja damals auch ein Stück weit der Zeitgeist, dass man gesagt hat, ja, das kann der Markt vielleicht auch besser und gängiger lösen. Und deswegen, glaube ich, muss man jetzt auch noch mal nachsteuern. Versicherte sollen nicht zu lange auf Leistungen warten müssen. Mehr Menschen sollen sich absichern. Dafür will die SPD im Zweifel Gesetze verschärfen: für mehr Klarheit und Verbindlichkeit bei der Berufsunfähigkeitsversicherung. O-Ton Sarah Ryglewski, SPD, MdB, Verbraucherpolitische Sprecherin SPD-Fraktion: Ich sehe vor allem die Hauptaufgabe darin, dass man am Anfang die Gesundheitsfragen stärker standardisiert, das wäre ein Schritt. Das Zweite wäre, dass man eine Obergrenze oder Richtwert angibt für die Bearbeitungsdauer und dass jeder auch das Recht hat, eine Versicherung zu bezahlbaren Konditionen abzuschließen. Von den politischen Forderungen hat Handwerker Schlätker und seine Familie noch nichts. Wir fragen seine Versicherung: Warum prüft sie seit zehn Monaten immer noch den Antrag? Die überraschende Antwort der Nürnberger, Zitat: Wir konnten den Leistungsantrag von Herrn Schlätker positiv entscheiden. Einen Tag später bekommt Wilfried Schlätker Post von seiner Versicherung. Die Nürnberger erkennt rückwirkend die Berufsunfähigkeit an und zahlt monatlich Euro. So ist die Zukunft seiner Familie erst mal gesichert. Die Probleme für viele andere Versicherte bleiben. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.